Kapitel 14

 

McGill hatte das Licht in dem Wohnzimmer ausgeschaltet und wollte eben zu Bett gehen, da klingelte plötzlich das Telefon. Als er die zitternde Stimme am Apparat hörte, fluchte er leise.

 

»Was ist denn nun schon wieder los?«

 

»… ich habe ihn gesehen, Mark … direkt vor der Herberge … Er hat mich angesehen … Ich hätte ihn mit der Hand anfassen können.«

 

»Von wem sprichst du denn?« fragte Mark barsch.

 

»Li – Li Yoseph! Nein, ich bin nicht betrunken! Einer von den Leuten hat ihn schon vorher gesehen! Und ein anderer, der nach mir kam, hat beobachtet, wie er um die Ecke ging und in einen Wagen stieg. Er hat zu sich selbst gesprochen, wie es der alte Li immer tat. Mark, es ist fürchterlich! Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll.«

 

»Wer hat ihn denn außer dir gesehen? Rufe den Mann einmal ans Telefon!« befahl McGill.

 

Es dauerte ziemlich lange, bis sich drüben eine rauhe Stimme meldete.

 

»Es ist richtig, McGill, ich habe den alten Kerl gesehen. Er hatte ein gelbes Gesicht und stand unter der Laterne, gerade bevor Mr. Tiser nach Hause kam.«

 

»Kennen Sie Li Yoseph überhaupt?«

 

»Nein, ich habe nur viel von ihm gehört. Aber danach muß er es gewesen sein.«

 

»Sagen Sie Mr. Tiser, daß er wieder an den Apparat kommen soll«, erwiderte Mark.

 

Aber Tiser sprach so zusammenhanglos, daß nichts mit ihm anzufangen war. Ärgerlich legte Mark den Hörer wieder auf.

 

Es mußte doch irgend etwas Wahres an dieser Geschichte sein. Tiser konnte sich doch nicht alles aus den Fingern gesogen haben. Dazu dieses Violinspiel … woher mochten die Töne nur gekommen sein? Aus der Wand? Aber es konnte ja oben im Haus jemand gespielt haben. Allerdings stand die Wohnung über ihm im Augenblick leer, da die Bewohner vor einigen Tagen eine Erholungsreise nach Schottland angetreten und ihre Dienstboten mitgenommen hatten. Der Portier hatte ihm das heute morgen erzählt.

 

Er dachte wieder über Li Yoseph nach. Warum hatte wohl die Polizei plötzlich die Nachforschungen eingestellt? Wußte man in Scotland Yard, daß Li Yoseph nach England zurückgekommen war? Bradley war ein so schlauer Fuchs; der würde diese Tatsache sofort gegen ihn ausgenutzt haben.

 

Aber dann schüttelte Mark energisch den Kopf. Es war unmöglich, daß der alte Mann mit dem Leben davongekommen war. Er hatte ihn doch aus ganz kurzer Entfernung niedergeschossen; die Kugeln mußten ihn getroffen haben.

 

Zusammengekauert saß er in seinem Stuhl am Feuer. Er hatte das Gesicht in die Hände vergraben und dachte über diese Sache nach. Aber plötzlich hörte er wieder ein Geräusch und fuhr auf. Es waren schlürfende Tritte – und sie kamen aus dem Zimmer über ihm.

 

Das Schlürfen hörte sich an, als ob jemand mit Pantoffeln über den Parkettboden ging. Merkwürdigerweise wurde Mark sofort an Li Yosephs Gang erinnert. Nun hörte er auch den Ton der Violine wieder, nur ein wenig leiser und zarter als vorher. Tostis »Chanson d’Adieu«!

 

Mark ging in sein Schlafzimmer, zog seinen Rock an, trat leise auf den Flur und öffnete die Tür. Langsam stieg er die Treppe hinauf, bückte sich vor der oberen Wohnung und legte sein Ohr an die Öffnung des Briefkastens. Aber er konnte nicht das geringste Geräusch hören.

 

Er richtete sich wieder auf und drückte auf die elektrische Klingel. Sie schlug schrill an; aber es ereignete sich weiter nichts. Er klingelte noch einmal, ohne mehr Erfolg zu haben.

 

An der Tür war eine Karte befestigt:

 

›Während der Abwesenheit Sir Arthur Findons sind alle Briefe und Pakete beim Portier abzugeben.‹

 

Mark war beunruhigt. Langsam ging er die Treppe wieder hinunter und trat in sein Wohnzimmer. Das Violinspiel war verstummt. Er setzte sich ans Feuer und wartete, ob er die schlürfenden Schritte noch einmal hören würde. Nach einer Stunde entschloß er sich, zu Bett zu gehen.

 

Er konnte sich nicht darauf besinnen, daß er die Verbindungstür zu seinem Schlafzimmer geschlossen hatte; er dachte auch gar nicht daran, bis er die Klinke niederdrückte und fand, daß die Tür geschlossen war. Schwer atmend trat er einen Schritt zurück. Im nächsten Augenblick hatte er die Pistole aus der Hüfttasche gezogen und das Licht ausgedreht. Vorsichtig zog er die Vorhänge beiseite, öffnete leise die Balkontür und trat hinaus. Die Tür, die von seinem Schlafzimmer auf die Veranda führte, stand offen. Aber er konnte niemanden sehen.

 

Schnell trat er mit erhobener Waffe in sein Schlafzimmer ein. Es mußte jemand hier gewesen sein, denn an dem Kissen war ein abgerissenes Stück Papier festgesteckt, das von unregelmäßigen Schriftzügen bedeckt war. Er las:

 

»Lieber Mark, bald werde ich kommen und dich besuchen. Li Yoseph.«

 

Mark wandte sich um und schloß die Tür nach draußen. Als er am Spiegel vorbeiging; konnte er erkennen, daß sein Gesicht bleich war.

 

Diese Nacht legte er sich nicht zu Bett, sondern setzte sich an das Kaminfeuer, das er neu entzündete. Bei Morgengrauen trat er auf den Balkon hinaus und sah, wie einfach es war, von dem kleinen oberen Balkon in seine Wohnung herunterzusteigen. Sicher war jemand in der oberen Wohnung gewesen; der Portier konnte das Rätsel vielleicht lösen. Als die Dienstboten kamen, ließ er den Mann zu sich holen.

 

»Nein, zur Zeit ist niemand oben«, erwiderte der Portier erstaunt. »Sir Arthur vermietet seine Wohnung niemals. Er ist sehr eigen in dieser Beziehung und wünscht nicht, daß Fremde seine Wohnung betreten.«

 

Mark zwang sich zu einem Lächeln.

 

»Aber vielleicht hat er nichts dagegen, wenn ich mir die Wohnung einmal ansehe. Wissen Sie, wer die Schlüssel hat?«.

 

Der Portier zögerte.

 

»Ich selbst habe den Schlüssel, aber ich würde wahrscheinlich meine Stellung verlieren, wenn Sir Arthur erfährt, daß ich Sie in die Wohnung gelassen habe.«

 

Als Mark ihm aber ein großes Trinkgeld gegeben hatte, entfernte er sich doch, um den Schlüssel zu holen. Mark stieg hinter ihm die Treppe hinauf, und sie traten beide oben ein. Es war eine Flucht luxuriöser Räume; die meisten Polstermöbel waren mit leinenen Schutzhüllen überzogen. Sowohl im Korridor wie in den Zimmern waren die Teppiche aufgerollt. Der Raum, der über seinem eigenen Wohnzimmer lag, interessierte Mark am meisten. Aber es waren keine Anzeichen dafür zu entdecken, daß jemand hier gewesen war. Die weißen Vorhänge an den Fenstern waren zugezogen; die Möbel mit den hellen Bezügen hoben sich gespenstisch von den dunklen Tapeten ab. Als Mark die Fenster untersuchte, fand er, daß sie alle von innen befestigt waren.

 

»Sie müssen sich getäuscht haben. Gestern abend ist niemand in dieser Wohnung gewesen. Außerdem gibt es nur zwei Schlüssel: Einen verwahre ich, und den anderen hat Sir Arthur mitgenommen. Wenn er seinen Schlüssel jemand gegeben hätte, würde ich es sicher wissen.«

 

Mark untersuchte den Raum eingehender. Er war größer als sein Wohnzimmer und reichte auch über das Schlafzimmer von Ann Perryman hinüber. Dann öffnete Mark die Tür und trat auf den kleinen Balkon hinaus. Einem geschickten, gewandten Mann mußte es nicht schwerfallen, von hier aus die untere Veranda zu erreichen. Aber Li Yoseph war nicht behende – wer mochte ihn begleitet haben? Er prüfte das Steingeländer, fand aber keine Spuren einer Leiter oder eines Hakens.

 

Schließlich trat er in das Zimmer zurück und folgte dem Portier wieder in den Gang. Plötzlich sah er etwas auf dem Boden liegen, bückte sich und hob den kleinen, würfelförmigen Gegenstand auf. Er kam ihm bekannt vor, aber er wußte im Augenblick nicht, was es war.

 

»Das ist Kolophonium. Es gehört vermutlich Miss Findon – sie spielt Violine.«

 

»Ist sie auch in Schottland?«

 

»Ja, heute morgen erst habe ich eine Postkarte von ihr bekommen. Sie schrieb mir, daß ich ihr das Paket nachschicken solle, das gestern von Devonshire kam.«

 

Als er in sein Wohnzimmer zurückkehrte, fand er Ann dort. Das war ungewöhnlich, denn er sah sie selten am Vormittag und an manchen Tagen überhaupt nicht.

 

»Ich wollte heute morgen einige Sachen einkaufen, und dazu brauche ich etwas Geld. Ich habe allerdings kaum ein Recht, etwas zu verlangen, solange mir mein Führerschein entzogen ist …«

 

»Reden Sie keinen Unsinn«, erwiderte er lächelnd. »Sie können soviel Geld haben, wie Sie wollen. Fünfzig Pfund – hundert Pfund

 

»Wieviel habe ich denn noch zu bekommen? Wenn ich dazu berechtigt bin …« Dann fragte sie plötzlich: »Sind Sie in der Nacht nicht gestört worden? Die Leute über uns machen doch eigentlich sehr viel Lärm.«

 

»Haben Sie es auch gehört?«

 

»Es ging jemand in der Wohnung herum.«

 

»Haben Sie das Violinspiel gehört?«

 

»Ja. Wer mag nur gespielt haben?«

 

Mark zuckte die Schultern.

 

»Ich kann es Ihnen nicht sagen, aber es scheint mir so, als ob sich jemand einen schlechten Scherz mit uns erlaubt.«

 

»Der alte Li Yoseph ist doch wirklich tot?« fragte sie eindringlich.

 

»Ich weiß nicht, wie es anders sein könnte. Es war Flut, und wenn er hinuntergefallen ist …« Er hielt plötzlich inne, als er den merkwürdigen Ausdruck in ihrem Gesicht sah.

 

»Aber das war doch die Ansicht der Polizei, daß er ins Wasser stürzte?«

 

Er erkannte, welche Dummheit er gemacht hatte, und lächelte.

 

»Ich habe die Sache nun schon so oft gehört, daß ich selbst schon beinahe an die Behauptung der Polizei glaube. Meine eigene Meinung ist nach wie vor, daß er irgendwie Nachricht von der kommenden Razzia erhielt, das Land verließ und sich versteckte. Ich bin ganz fest davon überzeugt, daß er starb.«

 

Er versuchte zuversichtlich zu erscheinen, aber er wußte, daß er damit keinen Erfolg bei ihr hatte.

 

»Sagen Sie, haben Sie mir nicht einmal erzählt, daß Sie Li Yoseph hier vor dem Haus gesehen hätten?«

 

Sie hatte dieses Erlebnis beinahe vergessen.

 

»Ja, aber ich war mir damals meiner Sache nicht ganz sicher – Sie sagten doch, daß ein russischer Fürst in der Nähe wohne und daß es einer seiner Besucher gewesen sein könnte. Wenn es wirklich Mr. Yoseph war, hätte er Sie doch sicher besucht!«

 

Mark antwortete nicht darauf. Sie sah nur, daß er die Stirn runzelte und dann seine Rundgänge im Zimmer wieder aufnahm.

 

»Tiser behauptet auch, daß er ihn gesehen hat – sogar schon zweimal. Ich kann das alles nicht verstehen. Die einzige Erklärung wäre nur, daß Tiser eben betrunken war und in seinem Delirium allerhand Gespenster gesehen hat.«

 

»Würde es für Sie sehr viel bedeuten, wenn Li Yoseph wieder hier auftauchte?«

 

Es war eine unschuldige Frage, die ohne die geringste Nebenabsicht gestellt wurde, aber Mark war jetzt nervös geworden.

 

»Was meinen Sie damit?« fragte er rauh. »Was sollte mir denn das ausmachen, wenn Li Yoseph lebte? Er war ein tüchtiger Mann, aber in der letzten Zeit mußte ich mich vor ihm in acht nehmen. Die Polizei war auf ihn aufmerksam geworden und überwachte ihn. In der Zeit, als er verschwand, war eigentlich kaum mehr etwas mit ihm anzufangen. Auch war er nicht ganz klar im Kopf; seine Geisterseherei war doch schon eine Art Wahnsinn. Ich wußte nie, welchen Unsinn er nächstens sagen würde. Ich habe bis zuletzt freundschaftlich mit ihm verkehrt, denn er war der einzige, der den Mord an Ronnie sah. Und ich wünschte, daß Sie die Wahrheit von einem Augenzeugen hörten.«

 

»Habe ich sie denn wirklich gehört?«

 

Er ging langsam auf sie zu und starrte sie an.

 

»Was meinen Sie nun schon wieder?«

 

»Habe ich wirklich die Wahrheit erfahren? Sie sagten doch eben selbst, daß er ein wenig verrückt war. Warum sollte er mir dann die Wahrheit gesagt haben? Konnte das nicht auch eine seiner Illusionen gewesen sein?«

 

Auf diese Frage gab es keine Antwort, und Mark war noch mehr beunruhigt als früher.

 

»Ich verstehe Sie in diesen Tagen kaum mehr, Ann. Sie sagen die merkwürdigsten Dinge und stellen die seltsamsten Fragen. Sie wissen doch genau, wie es mit Li Yoseph stand. In mancher Beziehung, zum Beispiel mit seinen Geistern und den kleinen Kindern, war er nicht normal, aber sonst war er doch so vernünftig wie wir beide.« Er dachte einen Augenblick nach. »Natürlich kann er auch unbewußt gelogen haben. Ich kann es nicht beurteilen. Ich habe die Geschichte von ihm gehört und muß mich damit zufriedengeben, ebenso wie Sie. Und als er sie mir das erstemal erzählte, war ich vollkommen davon überzeugt, und ich halte sie auch jetzt noch für wahr. Wer sollte Ihren Bruder denn getötet haben, wenn Bradley es nicht war?«

 

Sie schüttelte nur den Kopf und seufzte.

 

*

 

In den folgenden Wochen wurde Marks Verhältnis zu Ann wieder besser. Die Depression, die sie bedrückte, wich teilweise von ihr; sie war liebenswürdig und lachte sogar über seine kleinen Späße. Sie war für ihn in doppelter Weise wertvoll. Einmal war sie eine geschickte, mutige Autofahrerin, da sie aber nach der Gerichtsverhandlung zu unfreiwilliger Ruhe verurteilt worden war, lernte er sie in anderer Weise um so mehr schätzen.

 

In gewisser Weise war er in sie verliebt. Er bewunderte sie, aber als er ihr einmal engere Freundschaft anbot, wies sie ihn freundlich, aber bestimmt zurück. Ihr Verhältnis zueinander war seit der Verhandlung vor dem Polizeigericht in ein neues Stadium getreten, und er versuchte vergeblich, die richtige Einstellung zu Ann zu finden.

 

In letzter Zeit war Mark viel beschäftigt, denn seine geschäftlichen Unternehmungen waren nicht immer erfolgreich. Vor kurzem hatte er bei einer Polizeirazzia zwei Agenten zugleich verloren. Auch das Versorgungsheim belastete ihn stark. Tiser kümmerte sich nicht mehr genügend um die Insassen der Herberge. Mark hatte fast zwei Jahre auf einen guten Agenten gewartet, der eine Gefängnisstrafe in Dartmoor absaß. Als er dann durch einen Glückszufall im Versorgungsheim auftauchte, ließ ihn Tiser wieder gehen, ohne ihn Mark zu bringen. McGill war wütend, als er das hörte, und schickte nach seinem unglücklichen Assistenten.

 

»Was soll denn das bedeuten? Haben wir vielleicht unser Geschäft zugemacht? Wovon willst du denn leben? Oder willst du überhaupt mit dem Leben Schluß machen?«

 

»Ich tu doch mein Bestes, Mark«, winselte Tiser.

 

»Du tust dein Bestes? Du hast auch dein Bestes getan, Bradley aus dem Weg zu schaffen, und hast dadurch die Aufmerksamkeit der Polizei auf mich und dich gelenkt! Du greifst dir drei unbeholfene Kerle heraus, die wohl Frauen verprügeln können, aber weiter nichts – die werden natürlich geschnappt! Du läßt dir direkt unter deine Nase ein Mikrophon in der Herberge aufstellen, und dabei willst du sorgfältig alles verbergen, was dort vorgeht. Es war doch nur ein glücklicher Zufall, daß ich in jener Zeit nicht dort anrief.«

 

»Aber Mark, ich schwöre dir, daß ich die drei nicht ausgeschickt habe …«

 

Mark brachte ihn zum Schweigen.

 

*

 

Nachdem ein paar Wochen vergangen waren, wurde Tiser wieder mutiger. Der Spuk, der ihn so erschreckt hatte, war nicht wiedergekommen. Wenn er sich selbst um Marks Geschäft gekümmert hätte, wie es seine Aufgabe war, hätte er wohl keine Zeit gehabt, an Li Yoseph zu denken. Aber er ließ das Geschäft gehen, wie es wollte, und gab sich ganz seinen Einbildungen und Träumen hin. Die Verwaltung des Versorgungsheimes lag in den Händen eines Stewards, eines früheren Sträflings. Tausend andere Dinge hielten Tiser in Atem, und statt tatkräftig zu arbeiten, grübelte er stundenlang darüber nach, was geschehen könne, wenn Li Yoseph plötzlich zurückkehrte.

 

Viele Leute, die ihn besuchten, kamen nicht durch den Haupteingang, sondern durch eine Nebentür. Sie hatten nur kurze Unterredungen mit Tiser und verschwanden ebenso geheimnisvoll, wie sie gekommen waren.

 

Einer von diesen war ein gewisser Mr. Laring, der früher Offizier gewesen war. Er hatte eine gesunde Gesichtsfarbe, eine kräftige Nase, blaugraue Augen, und er sprach mit dem vornehmen Akzent eines Gentleman. Man hielt ihn für wohlhabend; er wohnte in einem hübschen Haus in einer der südlichen Vorstädte Londons, besaß zwei Autos und ging stets tadellos gekleidet. Er hatte immer einen guten Vorwand, das Versorgungsheim zu besuchen, denn er brachte jedesmal ein großes Paket illustrierter Zeitschriften und Bücher als Lektüre für die Insassen des Heims mit. Was er dagegen mitnahm, wußten nur Tiser und er.

 

Eines Abends erschien er wieder mit einem großen Paket Zeitungen bei Tiser, der eine Flasche Whisky und einen Syphon mit Sodawasser brachte und sie auf den Tisch setzte. Laring hatte viel zu sagen.

 

»Das ganze Geschäft geht in die Binsen, Tiser. Wenn Mark sich nicht vorsieht, werden ihn diese Amerikaner noch ganz verdrängen. Natürlich sind sie auch an mich herangetreten, weil ich eine der besten und größten Verteilerorganisationen im ganzen Lande habe. Und Sie haben mir jetzt seit zwei Monaten keine größere Lieferung zukommen lassen! Das geht unter keinen Umständen so weiter, Tiser!«

 

Mr. Larings »Organisation« war selbst amerikanisch aufgezogen. Er war einer der größten Exporteure, und seine Agenten saßen in allen größeren Städten von New Orleans bis nach Seattle. Aber in anderer Beziehung war er wieder von Mark abhängig.

 

»Der ganze Fehler liegt darin, daß Sie kalte Füße bekommen haben. Ja, ja, ich weiß alles über den Fall beim Polizeigericht, ich habe die Berichte mit dem größten Interesse gelesen. Aber Geschäft ist nun einmal Geschäft, mein lieber Tiser. Die kleinen geschäftlichen Verbindungen, die ich hier in der Gegend habe, machen mir keine Sorgen. Die will ich sowieso aufgeben.«

 

In diesem Augenblick schlug eine kleine Glocke an. Sie gab das Zeichen, daß ein anderer Besucher gekommen war. Tiser, der von McGill zu regerer Tätigkeit angetrieben worden war, ging aufgeregt hin, um zu öffnen. Als er die Tür aufmachte, stand Ann vor ihm. Er war so erstaunt, daß er zunächst nichts sagen konnte.

 

»Miss Perryman! Was, in aller Welt, tun Sie denn hier – sind Sie ohne Begleitung gekommen?« Er schüttelte mißbilligend den Kopf.

 

»Das ist aber sehr gefährlich. Daß Mark das zugegeben hat!«

 

»Er weiß nichts davon«, sagte sie und wartete auf eine Einladung, näher zu treten. »Haben Sie Besuch?«

 

»Nur mein guter Freund, Mr. Laring, ist da. Er interessiert sich sehr für das Heim und bringt uns immer etwas zum Lesen mit. Würden Sie mich einen Augenblick entschuldigen?«

 

Er eilte in sein Zimmer zurück und erklärte, wer gekommen war. Mr. Laring war ein höflicher Mann und begrüßte Ann mit einer kleinen Verbeugung. Aber auch er war erstaunt. Weder er noch die anderen Agenten Marks wußten, ob das junge Mädchen ahnte, welche Tätigkeit es eigentlich ausübte. Von Anfang an war zwar allen aufs strengste untersagt worden, in seiner Gegenwart Näheres über die Art des Geschäftes zu erwähnen; aber man nahm diese Komödie nicht ernst und glaubte nur, daß es ein Vorwand war, um es zu schützen, falls die Polizei es tatsächlich einmal fassen sollte.

 

Ann folgte einem plötzlichen Impuls, als sie ihre Wohnung verließ und zu dem Heim ging. Sie wußte selbst nicht, warum sie hierhergekommen war. Es schwebte ihr nur dunkel vor, daß sie ihren eigenen Grübeleien aus dem Wege gehen und hier eine Lösung ihrer Zweifel suchen wollte.

 

»Nein, Mark McGill weiß nicht, daß ich hierhergekommen bin. Ich langweilte mich zu Hause und dachte, ich könnte hier vielleicht Li Yoseph treffen.«

 

Sie sah, daß Tiser zusammenzuckte, und bereute den kleinen Scherz.

 

»Li Yoseph?« Laring runzelte die Stirn. »Ich dachte, unser alter Freund wäre …«

 

»Über See gereist, über See –«, ergänzte Tiser schnell. »Kann ich irgend etwas für Sie tun, Miss Perryman – ich meine, wünschen Sie etwas Bestimmtes von mir? Es ist wirklich schon sehr spät …«

 

Es war nach zehn, und um diese Zeit war selten eine Dame im Heim zu sehen.

 

»Ach nein, ich wollte nichts Besonderes – ich wollte eigentlich nur einmal an die frische Luft gehen.« Es kam ihr zum Bewußtsein, daß sie den Mann belog, denn sie war eben am Ende der Straße aus einem Taxi gestiegen.

 

Über Mr. Larings Gegenwart freute sie sich – er machte das Zusammensein mit Tiser erträglicher. Sie hatte den unklaren Plan gehabt, mit Tiser einmal über das Schmuggelgeschäft zu sprechen und von ihm die Wahrheit zu erfahren. Natürlich war es Sacharin, das sie transportiert hatte … Und das Schmuggeln war ja so allgemein; erst in der letzten Woche hatte sie in der Zeitung gelesen, daß der Obersteward eines Schiffes mit hundert Pfund bestraft worden war. Der Staatsanwalt hatte in seiner Rede ausführlich darauf hingewiesen, wieviel eingeschmuggelt wurde und wie häufig derartige Verstöße waren.

 

Ann sagte sich immer wieder, daß Bradley sie nur hatte erschrecken wollen. Das war ein alter Trick der Polizeibeamten. Er wollte durch diese Redereien die einzelnen Mitglieder der Organisation miteinander verfeinden. Aber ihre Zweifel ließen sich nicht unterdrücken. Wenn es nun doch kein Sacharin war? Diese Ungewißheit quälte sie entsetzlich. Und hier saß sie nun Mr. Laring gegenüber, einem der größten Abnehmer der geschmuggelten Waren. Mr. Laring würde ihr sicher die Wahrheit sagen, vor der Tiser feige zurückschreckte. Natürlich würde er hier nicht darüber sprechen. Die Unterhaltung drehte sich um allgemeine Dinge, um das Wetter, um Anns unangenehmes Erlebnis vor dem Polizeigericht, um die vortrefflichen Charaktereigenschaften Marks. Tiser lobte ihn ganz besonders. Nach einer Viertelstunde erhob sich Mr. Laring, um sich zu verabschieden, und Ann nahm die Gelegenheit wahr.

 

»Ich möchte Sie gern begleiten, wenn es Ihnen recht ist«, sagte sie.

 

Sie sah, daß Tiser erschrak, und wurde dadurch nur noch mehr in ihrem Vorhaben bestärkt.

 

Mr. Larings Wagen stand an der Straßenecke. Es war dem Agenten ein Vergnügen, Ann nach Hause zu fahren, denn er liebte die Gesellschaft hübscher Frauen. Der Aufbruch erfolgte so schnell, daß Tiser keine Gelegenheit hatte, ihn zu warnen.

 

»Dieser Tiser ist doch ein merkwürdiger Mensch. Ich fürchte nur, daß er zuviel trinkt«, sagte Mr. Laring, als der Wagen durch Hammersmith Broadway fuhr.

 

»Der arme Kerl hat die Nerven vollständig verloren«, fuhr er fort und schüttelte traurig den Kopf. »Er wird Mark wohl nicht mehr viel helfen können, es ist sehr schade. Soviel ich weiß, dürfen Sie augenblicklich auch nicht mehr fahren, Miss Perryman? Man wird Sie sehr vermissen.«

 

»Mark wird die Verteilung wohl geregelt haben.«

 

Er seufzte.

 

»Er ist nicht so hinter dem Geschäft her, wie man eigentlich erwarten dürfte. Ich fürchte, er hat die Nerven auch verloren. Es wäre ja auch verständlich. Wir haben alle einen großen Schrecken bekommen, als Sie damals gefaßt wurden. Wir dachten bestimmt, daß es nicht ohne Gefängnis abgehen würde. Die ganze Sache war ein schurkischer Plan von diesem Bradley. Er brachte zuerst den Fall Smith vor den Gerichtshof, um dem Richter die Schwere Ihres Vergehens vor Augen zu führen.«

 

Plötzlich erinnerte er sich an sein Versprechen.

 

»Nicht, daß Sacharinschmuggel ein besonders schweres Vergehen wäre«, fügte er hastig hinzu.

 

»Sacharin?« erwiderte Ann lachend. »Reden Sie doch keinen Unsinn!«

 

Mr. Laring seufzte schwer.

 

»Ich weiß selbst nicht, ob das recht ist, was ich tue. Manchmal kommen mir böse Gedanken, ob ich nicht zum Unheil der Menschheit arbeite.« In Wirklichkeit hatte er noch nie Gewissensbisse gehabt oder sich Vorwürfe gemacht. »Aber was soll man machen? Hat denn irgendeine Person oder Gesellschaft oder ein Land das Recht, Ihnen oder mir vorzuschreiben, wo und wie wir unseren Vergnügungen nachgehen können? Hat jemand das Recht, mir zu verbieten, Whisky zu trinken, soviel mir beliebt? Sollten Sie kein Parfüm gebrauchen dürfen, wenn Ihnen der Duft besondere Freude macht?«

 

»Oder sollte ich zum Beispiel kein Kokain nehmen dürfen?« ergänzte sie ein wenig atemlos.

 

»Da haben Sie vollkommen recht.« Er machte eine kleine Pause. »Für mich persönlich hat es niemals eine Anziehung gehabt, aber ich kann mir wohl vorstellen, daß es Leute gibt, die sich ein intensives Vergnügen dadurch verschaffen können – ja, wenn ich so sagen darf, vielleicht das einzige Vergnügen, das ihnen das Leben noch bieten kann. Ich glaube nicht, daß ich eine strafbare Handlung begehe, wenn ich ihnen zu diesem Vergnügen verhelfe. Natürlich gibt es auch arme, schwache Menschen, die sich durch übermäßigen Genuß ruinieren. Aber es gibt ja auch Leute, die übermäßig rauchen oder übermäßig essen …«

 

Ann hörte ihm niedergeschlagen zu. Wenn sie ihn jetzt klar und offen fragte, ob er mit Kokain und Morphium handelte, würde er das entrüstet leugnen – und doch hatte er ihr alles gesagt, was sie wissen wollte, ja noch viel mehr als das.

 

Am Marble Arch wurden sie durch den Verkehr einen Augenblick aufgehalten; von da ab fuhr der Wagen langsamer und hielt schließlich am Cavendish Square. Mr. Laring wollte Ann höflich beim Aussteigen behilflich sein, aber sie duldete es nicht. Schnell stieg sie aus und schloß die Tür wieder.

 

Sie blieb noch auf dem Gehsteig stehen und sah dem fortfahrenden Wagen nach. Aber plötzlich bemerkte sie, daß ein Herr in ihrer Nähe stand, kaum drei Schritte von ihr entfernt. Sie bemerkte seine glimmende Zigarette und wollte schnell ins Haus eilen. Aber er sprach sie an.

 

»Ein schöner Abend für eine Spazierfahrt, Miss Perryman.«

 

Es war Bradley.

 

»Ja, sehr schön«, erwiderte sie verlegen.

 

Sie hätte nun an ihm vorbeigehen können, aber sie folgte einem unbestimmten Gefühl und blieb stehen.

 

»Hat es Ihnen im Versorgungsheim gut gefallen? Man sollte annehmen, daß durch Ihre schöne Erscheinung und Ihr liebenswürdiges Wesen alle bekehrt werden, daß sie sich bei Ihrem Anblick haltlos in Sie verlieben, wie Sie es damals von mir behauptet haben.«

 

Ein schmerzlicher Zug zeigte sich auf ihrem Gesicht, als sie an die Szene erinnert wurde, die sie so sehr bereute.

 

»In den Büchern kann man lesen, wie diese Leute Tränen der Reue vergießen, ihre Untaten bereuen und dann für ein paar Groschen die Stunde Holz hacken, um ihren Lebensunterhalt auf ehrliche Weise zu erwerben. Aber die Wirklichkeit sieht ganz anders aus, nicht wahr?«

 

Er war liebenswürdig und freundlich zu ihr, als ob nichts zwischen ihnen vorgefallen wäre.

 

»Ich wollte Sie eigentlich sprechen«, fuhr er fort. »Wie ich höre, spukt hier ein geigenspielender Geist herum?«

 

»Warum verhaften Sie ihn denn nicht?« fragte sie. Nach der Befangenheit über dieses unerwartete Wiedersehen erlangte sie allmählich ihre Selbstbeherrschung wieder.

 

»Das Verhaften von Geistern ist gegen die Dienstvorschrift. Sie haben den alten Li Yoseph wohl nicht zu Gesicht bekommen?«

 

Das Gespräch kam ins Stocken, aber sie zögerte immer noch.

 

»Woher wissen Sie denn, daß ich im Versorgungsheim war?«

 

»Ich bin ihnen dorthin gefolgt«, gab er offen zu. »Auch auf Ihrem Heimweg habe ich Sie begleitet. Sie wundern sich, daß ich vor Ihnen hier ankam? Sie sind am Marble Arch aufgehalten worden, während ich mit meinen Polizeiwagen durchfahren konnte.«

 

Sie lächelte schwach.

 

»Was haben Sie eigentlich gemacht – seitdem ich Sie zuletzt gesehen habe?«

 

»Ich habe inzwischen Einbrecher gefangen.«

 

»Sicherlich sind Sie auch ihnen gegenüber sehr milde und nachsichtig gewesen«, sagte: sie ironisch.

 

»Gutmütigkeit ist meine Hauptschwäche«, entgegnete er ebenso. »Es gibt für mich kein größeres Glück, als einen Schwerverbrecher zu fangen, ihn in eine schöne, luftige, geräumige Zelle zu transportieren, ihn gut zu versorgen, zu Bett zu bringen und seine Hände zu streicheln, bis er sanft eingeschlafen ist.«

 

»Und dann gehen Sie hin und beseitigen alle Beweise gegen ihn, schaffen seine Diebeswerkzeuge weg und behaupten, daß Sie überhaupt nichts gefunden haben.«

 

Er lachte wieder.

 

»Ja, es ist merkwürdig. Ich habe nun einmal einen solchen Charakter. Wenn ich einen Verbrecher vor Gericht zur Verurteilung gebracht habe und er zwanzig Jahre bekommt, dann bin ich selbst so erschüttert, daß ich mich in den Schlaf weinen muß.«

 

Er schaute an ihr vorbei. Gleich darauf tauchten die Scheinwerfer eines großen Autos auf, das sich schnell auf sie zubewegte und dann dicht vor ihnen hielt.

 

»Gute Nacht, Miss Perryman. Ich muß noch einen Auftrag erfüllen.«

 

Gleich darauf stieg er in den Wagen, und Ann trat in das Haus. Sie fühlte sich merkwürdig leicht und froh.