Kapitel 12

 

Manchmal lud Mr. Tiser einige bevorzugte Bewohner des Versorgungsheims in sein Privatzimmer ein, das ihm zu gleicher Zeit auch als Schlafzimmer diente. Der Raum lag im Erdgeschoß und war nach dem Flur zu durch eine Doppeltür abgeschlossen. Tiser erzählte allen, daß er diese gepolsterte Tür habe anbringen lassen, um durch den Lärm im Haus nicht gestört zu werden; aber diese Erklärung wirkte etwas sonderbar, da das einzige große Fenster des Zimmers auf eine verkehrsreiche, geräuschvolle Straße führte. In Wirklichkeit war die Polstertür nur ein Schutz gegen die Horcher von außen.

 

Von Zeit zu Zeit verhandelte Mr. Tiser wichtige Dinge in seinem Zimmer, die sowohl ihn als auch die Verbrecher angingen, die eine Unterkunft in dem Heim gefunden hatten. An diesem Abend hatte er drei der Polizei wohlbekannte Männer zu sich bestellt.

 

Harry, der Schläger, gehörte zu ihnen. Niemand wußte, woher er diesen Beinamen bekommen hatte. Ein anderer war Lew Patho. Sie saßen mit dem nicht weniger gefährlichen dritten um einen Kartentisch und tranken Whisky, für den sie nicht zu zahlen brauchten.

 

»Es tut mir nur leid für euch«, sagte Tiser gerade. »Ihr armen Kerle, die ihr von der Polizei überall herumgejagt werdet und niemals eine Chance habt hochzukommen, bloß weil ihr nun einmal unglücklicherweise eure Vorstrafen habt! Und dabei wurdet ihr doch auf falsche Zeugenaussagen hin verhaftet und eingesteckt.«

 

Die drei sahen sich zustimmend an.

 

»Ich will ja im allgemeinen nichts gegen die Polizei sagen«, fuhr Tiser fort. »Es sind ganz ehrbare Leute darunter. Ich will auch nichts gegen Mr. Bradley sagen, der ein ganz gutes Herz haben mag. Aber was er sich heute erlaubte, war doch etwas zuviel.«

 

Er machte eine längere Pause, um den Leuten Gelegenheit zu geben, ihn zu fragen. Aber keiner von ihnen sagte ein Wort.

 

»Also, nun hört mal, was er gesagt hat. ›Ich wundere mich nur, Mr. Tiser‹ – er nennt mich nämlich immer Mr., das ist anständig von ihm –, ›warum Sie so schlechte Kerle wie Meuchelmörder‹ denkt euch mal, so ein gemeines Wort hat er gebraucht – ›in Ihrem Heim beherbergen. Zum Beispiel diesen Lew Patho und diesen Harry und den gemeinen Menschen mit dem unverschämten, roten Gesicht, der erst neulich drei Monate gesessen hat, weil er seine Frau so verprügelt hat!‹«

 

Der »Mann mit dem roten Gesicht« rutschte unruhig hin und her.

 

»Wenn der mir etwas sagen will…« begann er heiser.

 

Aber Tiser winkte ihm ab.

 

»Ich kann mir nicht helfen, ich habe immer das Gefühl, ja sogar die Überzeugung, daß dieser Bradley nicht eher ruht, als bis er euch alle wieder hinter Schloß und Riegel hat. Es ist wirklich schlimm, daß sich ein solcher Beamter so gehässig zeigen kann. Ich hielt es für meine Pflicht, euch zu warnen.«

 

Tiser lehnte sich in seinen Stuhl zurück. Harry, der Schläger, runzelte düster die Stirn.

 

»Er wird seine Ladung schon in den nächsten Tagen bekommen.«

 

»Ja, das fürchte ich auch«, meinte Tiser kopfschüttelnd. »Seht mal, ich kenne seine Gewohnheiten ganz genau. Ich weiß, wo er wohnt und wann er nach Hause geht. Schon oft habe ich mir gedacht, wie dumm es von dem Mann ist, der doch so viele Feinde hat, daß er nachts um ein Uhr allein über Bryanston Square geht. Dort ist doch um diese Zeit keine Menschenseele. Ich muß sagen, er fordert sein Schicksal heraus!«

 

Er erhielt keine Antwort: Die drei Männer starrten in ihre Gläser.

 

»Ich will durchaus nicht behaupten, daß es schön wäre, wenn sich jemand an diesem schlauen und rührigen Polizeibeamten vergriffe – aber verstehen könnte ich es schon.«

 

Er erhob sich und brachte eine neue Flasche von der Kredenz.

 

»Nun, meine Jungen, jetzt werde ich euch einmal das Radio anstellen. Ein unbekannter Wohltäter hat dem Versorgungsheim einen Apparat geschenkt. Gestern ist er gebracht worden.«

 

Als sie eine Weile der Musik gelauscht hatten, wandte sich der Mann mit dem roten Gesicht an die anderen. Vielleicht hatte ihn die Musik zu diesem Plan inspiriert.

 

»Wie wäre es, wenn wir heute auf Bradley warteten? Der Kerl wird zu üppig.«

 

»Pst, pst!« Mr. Tiser lächelte und winkte beschwichtigend mit der Hand. Dann hielt er sich die Ohren zu. »So etwas darf ich nicht hören, das wißt ihr doch!«

 

*

 

Inspektor Bradley machte sich um drei Viertel eins in derselben Nacht auf den Heimweg. Der Mann mit dem roten Gesicht folgte ihm in einer gewissen Entfernung. Alles, was Tiser gesagt hatte, schien genau zu stimmen. Der Detektiv nahm kein Taxi, auch stieg er nicht auf einen Nachtautobus, obwohl sich dicht vor dem Haus eine Haltestelle befand. Mit der Zeit wurde der Abstand zwischen den beiden Männern immer geringer, und als Bradley nach Bryanston Square einbog, war ihm sein Verfolger dicht auf den Fersen. Hier tauchten auch dessen beide Freunde aus der Dunkelheit auf und schlossen sich ihm an. Ihre Schritte waren nicht zu hören, denn Mr. Tiser hatte ihnen vorsorglich vor einigen Tagen Gummischuhe geschenkt. Seine Menschenfreundlichkeit war grenzenlos.

 

Als Bradley auf dem verlassenen Gehsteig entlangging, wollten sich die drei Verbrecher auf ihre Beute stürzen. Sie waren nur noch fünf Schritte von dem Detektiv entfernt, als sich dieser plötzlich umwandte.

 

»Hände hoch – schnell!« befahl er kurz. »Fortlaufen hat keinen Zweck! Das ist nur Kraftvergeudung.«

 

Noch während er sprach, erschienen plötzlich zwei Polizeiautos, und zwar von entgegengesetzten Seiten. Sie hielten in einer Entfernung von zwanzig Metern, und mehrere Beamte sprangen ab.

 

Schnell waren die drei durchsucht.

 

Als die Leute in ein Polizeiauto gebracht worden waren, trat Bradley an den Wagen heran.

 

»Wenn ich Tiser wiedersehe, werde ich ihm sagen, daß ihr seinen Vorschlag genau ausgeführt habt. Es wäre besser gewesen, wenn ihr euch das Radioprogramm zu Ende angehört hättet. Nachher gab es nämlich noch einen interessanten Vortrag über Gefängnisse. Allerdings hätte der Redner euch ja nicht viel Neues erzählen können.«

 

Befriedigt von dem Erfolg ging Bradley nach Hause.

 

Mr. Tiser folgte in dieser Nacht einem unwiderstehlichen Drang und untersuchte den kleinen Lautsprecher; ein geschickter Mechaniker, der in dem Heim wohnte, half ihm dabei. Auf diese Weise erfuhr er, daß der Apparat mit einem Draht in Verbindung stand, der nicht zur Antenne, sondern zu dem Telefonmast auf dem Dach führte. Tiser wurde aschgrau im Gesicht, als er an all die gefährlichen Unterhaltungen dachte, die seit der Anbringung des »Radios« in seinem Zimmer geführt worden waren. Schließlich entdeckten sie im Gehäuse ein äußerst empfindliches Mikrophon – alle Gespräche waren abgehört worden!

 

*

 

Eine Woche verging, aber Ann konnte sich zu keiner Tätigkeit aufraffen. Sie saß zu Hause und dachte nach. Aber sie kam zu keiner Klarheit, ihre Gedanken verwirrten sich nur noch mehr.

 

Die Entziehung des Führerscheins beraubte sie ihres größten Vergnügens, denn die Autofahrten hatten ihr viel Zerstreuung geboten. Aber obwohl sie darauf verzichten mußte, lebte ihr Haß gegen Bradley nicht wieder auf.

 

Einmal sah sie ihn, als sie im Park spazierenging. Er fuhr in einem kleinen Auto hinter einem Mannschaftswagen der Polizei her. Was mochte wohl das Ziel dieser Fahrt sein? Wen würde das Geschick ereilen?

 

Auch in der Zeitung las sie ab und zu von ihm; einmal trat er als Zeuge gegen einen Autodieb, ein andermal gegen eine Bande von Taschendieben auf.

 

Mark versuchte, sie zu zerstreuen, und nahm sie eines Abends zu dem Versorgungsheim mit; aber es war kein angenehmes Erlebnis für sie. Mark erzählte ihr von Sedeman und zeigte ihr sein Zimmer.

 

»Wir können den alten Kerl nicht gut vor die Tür setzen, deshalb haben wir sein Zimmer nicht wieder belegt«, erklärte er. »Augenblicklich wohnen verhältnismäßig wenig Leute im Haus.«

 

»Haben Sie denn die anderen alle schon gebessert?«

 

Er glaubte, einen sarkastischen Unterton aus ihrer Frage herauszuhören, und war etwas bestürzt darüber.

 

»Wir machen nicht den Versuch, sie zu bekehren – das hätte wenig Zweck. Wir wollen ihnen nur Arbeit verschaffen und sie zu einem geordneten Leben zurückführen, wenn sie aus dem Gefängnis kommen«, sagte Mark auf der Heimfahrt.

 

»Welche Art von Arbeit verschaffen Sie ihnen denn?«

 

Wieder fühlte er ihr Mißtrauen aus dieser Frage.

 

Über Schmuggel sprachen sie nicht mehr. Mark hatte sich jene böse Erfahrung als Warnung dienen lassen. Weder in seiner Garage noch in seinem Haus bewahrte er irgendwelche Ware auf, die seine gesetzwidrige Tätigkeit hätte verraten können. Selbst Anns Auto hatte er in einer weiter entfernten Garage in der Nähe der Edgware Road untergebracht.

 

Aber drei Wochen nach der gerichtlichen Verhandlung sollte Mark noch einen viel größeren Schrecken bekommen.