8

 

Als Penelope am nächsten Morgen erwachte, lag sie in einer großen, luftigen, schön eingerichteten Kabine. Die Vorhänge waren aus schwerer blauer Seide, und das Bett, auf dem sie ruhte, schien aus Silber zu sein. Auf dem Fußboden lag ein herrlicher blauer Teppich, und der ganze Raum war mit Rosenholz getäfelt. Sie sah einen hübschen, eingelegten Schreibtisch, auf dem eine silberne Leselampe stand, und einen bequemen Armsessel, von dem aus die prachtvollen Lederbände auf dem Bücherbrett leicht zu erreichen waren.

 

Penelope konnte sich nicht darauf besinnen, wie sie ins Bett gekommen war. Sie war noch vollständig angekleidet, aber jemand mußte den Bund ihres Rockes gelockert und ihr die Schuhe ausgezogen haben. Es war so schön, hier zu liegen, dem monotonen Geräusch der Schiffsschrauben zu lauschen und sich leise schaukeln zu lassen, daß sie gar nicht das Bedürfnis empfand, aufzustehen. Sie war also an Bord eines großen Schiffes und wollte eigentlich nicht mehr daran denken, wie sie hierhergekommen war. Aber sie rief sich doch noch einmal furchtlos alle Vorgänge der letzten Nacht ins Gedächtnis zurück. Sie überlegte gerade, wie spät es wohl sein mochte, als über ihr die Glocke anschlug.

 

Es war ein Schlag – ihrer Schätzung nach mußte es halb neun sein.

 

Sie machte noch immer keine Anstrengung, sich zu bewegen, sie zog nicht einmal die seidene Steppdecke beiseite, die über ihr lag, Plötzlich klopfte draußen jemand an die Tür.

 

»Herein«, sagte sie und war erstaunt, wie schwach ihre Stimme klang. Sie erwartete, die Stewardeß zu sehen, aber statt dessen trat ein Matrose in einer blauen Jacke herein, ein großer, schlanker Seemann mit dunkelbraunem Gesicht. Er sah auffallend gut aus, nur sein Benehmen erschien Penelope nicht ganz einwandfrei, denn er nahm seine runde Mütze nicht ab.

 

»Ich bringe Ihnen eine Tasse Tee. Ich weiß allerdings nicht, ob Sie Zucker nehmen. Am besten hätte ich Ihnen natürlich ein Tablett mit allen Zutaten gebracht, aber es ist mir erst eingefallen, als ich schon vor der Tür stand.«

 

Er stellte die Tasse sorgfältig auf den Tisch neben ihrem Bett.

 

Sie hatte noch nie Matrosen gesehen, die sich so gut und vornehm ausdrückten. Seine Hände waren rauh und hart, sein Anzug ein wenig abgenützt, aber er sprach und hielt sich wie ein Gentleman.

 

»Ich danke Ihnen sehr«, sagte sie und stützte sich auf ihren Ellenbogen. »Würden Sie wohl die Stewardeß bitten, einmal zu mir zu kommen?«

 

»Ich bin hier die Stewardeß«, erwiderte er ernst.

 

Trotz ihrer Kopfschmerzen mußte sie lachen.

 

»Wer hat mich denn gestern abend hierhergebracht?«

 

»Das war auch ich. Sie waren so schnell eingeschlafen, daß es unmöglich war, Sie aufzuwecken. Ich habe mir erlaubt, Sie zur Ruhe zu bringen. Wenn Sie gestatten, werde ich Ihnen jetzt das Bad bereiten.«

 

Er verschwand durch eine Tür, die sie bis jetzt noch nicht bemerkt hatte. Sie hörte, wie das Wässer einlief. Nach einer Weile kam er wieder zurück.

 

»Ich habe Ihre Schuhe geputzt. Es gibt an Bord alles, was Sie nur wünschen können, nur haben wir keine anderen Kleider für Sie. Wir hoffen aber, auch diese Frage später noch zu Ihrer Zufriedenheit lösen zu können.«

 

»Wo bin ich denn eigentlich?«

 

»Sie sind an Bord der Jacht ›Polyantha‹.«

 

»›Polyantha‹!« Das war doch das Schiff, das Mr. Stamford Mills gesehen hatte! Sie erinnerte sich plötzlich daran – welch ein merkwürdiger Zufall!

 

»Wenn Sie mir Nähnadel und Zwirn besorgen wollen, werde ich versuchen, mein Kleid selbst wieder in Ordnung zu bringen. Ich muß doch ein wenig repräsentabel aussehen, wenn wir in den Hafen einlaufen.«

 

»Wir legen in keinem Hafen an. Es ist wohl notwendig, daß Sie das erfahren. Wir befinden uns auf einer sehr langen Reise.«

 

Sie sah ihn verwundert an.

 

»Aber Sie können mich doch an der Küste absetzen?«

 

»Ich fürchte, daß wir nicht einmal das können«, sagte er in seiner nüchternen Art.

 

»Aber ich kann doch nicht auf eine weite Reise gehen, ohne darauf vorbereitet zu sein, und außerdem –«

 

»Sie können an Ihre Freunde ein Telegramm senden, daß Sie in Sicherheit sind.«

 

Es kam ihr zum Bewußtsein, daß sie keine Freunde hatte, die auf Nachrichten von ihr warteten.

 

»Habe ich geträumt, oder war es wirklich Mr. Orford, den ich gestern abend hier an Bord sah?«

 

»Sie haben recht, es war Mr. Orford.«

 

»Geht er denn auf diesem Schiff nach Amerika?« fragte sie erleichtert.

 

»Nein, er geht überhaupt nicht nach Amerika. In diesem Augenblick geht er zum Frühstück.«

 

Mit einer kleinen Verbeugung wandte er sich um und verließ die Kabine. Er schaute aber noch einmal kurz hinein.

 

»Sie können die Tür zuriegeln – merkwürdigerweise ist auch das Kabinenschloß in Ordnung. In der Regel ist es nämlich nicht ganz intakt. Den Schlüssel finden Sie in der obersten rechten Schublade des Schreibtisches.«

 

Ein merkwürdiger junger Mann, dachte Penelope, als sie sich an dem warmen Bad erfreute. Als sie später die Kabinentür öffnete, standen ihre Schuhe draußen. Ihre Kabine führte auf das Oberdeck. Es wehte eine steife Brise, und damit ihre leichten Schuhe nicht über Bord geweht wurden, hatte die ›Stewardeß‹ eine eiserne Stange darüber gelegt. Bei diesem Anblick überlief sie ein Schauer.

 

Zehn Minuten später trat sie auf das Deck hinaus.

 

»Guten Morgen, Miss Pitt.«

 

Sie wandte sich um.

 

Ein etwas starker junger Mann weidete sich an ihrem Erstaunen.

 

»Mr. Stamford Mills!« rief sie überrascht.

 

»Ja, das bin ich. Ich hatte das Vergnügen, Sie schon gestern nachmittag kennenzulernen.«

 

»Aber – wie kommt es denn, daß Sie auch hier sind?« fragte Penelope verwundert.

 

»Darf ich Ihnen unseren Arzt, Dr. Fraser, vorstellen?«

 

Der Schiffsarzt war ein schweigsamer Schotte, der Penelope mißtrauisch betrachtete. Sie fühlte, daß er ihre Anwesenheit auf dem Schiff als etwas Ungehöriges ansah, und sie fragte, ob noch andere Damen an Bord seien.

 

»Nein, leider nicht«, erwiderte Mr. Robert Stamford Mills. »Und wie Sie hierhergekommen sind, ist mir ein Rätsel. Ich hörte erst heute morgen davon, als ich aufwachte. Man sagte mir, daß Sie in einem kleinen Motorboot aufgefischt worden seien. Was hatten Sie denn mitten in der Nacht auf hoher See zu tun?«

 

»Man wollte mich ermorden«, sagte Penelope ruhig.

 

»Ermorden?« fragte er schnell. »Wie meinen Sie denn das?«

 

»Wenn ich es Ihnen erzählte, würden Sie denken, ich hätte den Verstand verloren. Dergleichen passiert nur in schrecklichen Träumen oder verrückten Büchern. Ich will niemandem etwas davon sagen, bis ich wieder an Land bin, auch dann –«

 

»Aber Sie müssen es mir sagen! Oder noch besser Mr. Orford«, sagte er, als er sah, daß sie sich verletzt fühlte.

 

»Kennen Sie denn Mr. Orford?« fragte sie erstaunt. »Warum ist er eigentlich an Bord? Ich dachte, er wollte nach Amerika reisen?«

 

»War es Cynthia oder Arthur, der den Mordanschlag auf Sie verübte?« fragte Bobby Mills hartnäckig. »Und warum ist das geschehen? Hatten Sie irgend etwas über die Leute herausgefunden? Oder –«

 

»Oder?« fragte sie herausfordernd.

 

Er sah sie nachdenklich an.

 

»Cynthia Dorban ist eine sehr eifersüchtige Frau, die vor nichts zurückschreckt und kein Mitleid kennt. Ihr erster Mann starb unter sehr merkwürdigen Umständen. Meiner Meinung nach –«

 

Er hielt plötzlich inne.

 

»Da kommt Mr. Orford«, unterbrach sie ihn, und Bobby ging dem liebenswürdigen, älteren Herrn entgegen. Gleich darauf traten sie zu ihr an die Reling.

 

»Nun, ich muß schon sagen, daß ich nicht auf Sie gerechnet hatte«, begrüßte sie Mr. Orford. »Wissen Sie, was Sie für uns bedeuten, mein Fräulein? Ein wenig Sand in der sonst so gut laufenden Maschine meiner Organisation. Sie sind das fünfte Rad am Wagen und die neunte Dimension. Sie gehören nicht hierher. Sie sind wie ein Stück Papier, das in kein besonderes Fach gehört und das man immer von einer Stelle zur anderen schiebt. Aber irgend etwas müssen wir ja nun mit Ihnen anfangen.«

 

»Bin ich Ihnen denn so sehr im Wege?« fragte sie schuldbewußt.

 

Mr. Orford nahm seine Mütze ab und fuhr erregt mit der Hand durch das Haar.

 

»Es ist möglich, daß Sie unsere ganzen Pläne stören. Im Augenblick hindern Sie uns ebensowenig wie eine schöne Rose, die in den Wüsten Arabiens blüht. Sie kommen mir vor wie jemand, der mit einem roten Hut bei einer Beerdigung erscheint. Außerdem sind Sie sehr verdächtig, und deswegen sorge ich mich.«

 

»Können Sie mich denn nicht irgendwo an der Küste absetzen?«

 

»Nein, das ist unmöglich«, sagte er entschieden. »Wir kommen an keine Küste, wo wir Sie absetzen könnten. Sie sind eben jetzt dazu verdammt, auf den westlichen Meeren umherzufahren. Vielleicht ist es von der Vorsehung so eingerichtet, daß Sie an Bord kommen sollten, und vielleicht machen Sie diese Reise erst glaubwürdig. Aber wir haben keine Kleider für Sie, keinen Puder und keinen Lippenstift und was sonst junge Damen alles zum Leben brauchen. Sie sind in einer absolut männlichen Umgebung, und solange wir nicht in die südlichen Teile des Stillen Ozeans kommen, wüßte ich nicht, was wir für Sie tun könnten.« Er sah Mills an und kniff die Augen zusammen. »Sie können höchstens mit ihm zurückfahren, aber auch die Aussicht ist gering.«

 

Penelope wunderte sich über diese geheimnisvolle Andeutung. Sie konnte ja nicht ahnen, daß Mr. Orford an einen Tanker gedacht hatte, der von ihm gechartert war, um seiner Jacht auf hoher See Betriebsstoff zu liefern.

 

»Und nun, mein liebes Fräulein, erzählen Sie mir einmal, was alles passiert ist und wie Sie hierherkamen.« Er legte väterlich seinen Arm um ihre Schultern und nahm sie mit zu den Deckstühlen.

 

»Es tut mir leid, daß ich Ihrem Wunsch nicht nachkommen kann. Die Sache ist zu ernst, als daß ich sie irgend jemandem erzählen könnte, ohne auch der Polizei davon Mitteilung zu machen.«

 

»War es so schlimm?« fragte er und schaute sie prüfend an. »Sie haben sich jetzt auch über Mrs. Dorban zu beklagen, wie mir Bobby erzählt. Früher haben Sie sich doch über Mr. Dorban beschwert, weil er unverschämt zu Ihnen wurde. Aber das steht wohl in keinem Zusammenhang. Und Mrs. Dorban wollte Sie töten? Sie brauchen es mir nicht zu bestätigen, ich sehe es. Ich hätte niemals gedacht, daß das möglich wäre. Die Leute gehen gewöhnlich nicht so weit, höchstens einer unter zehntausend ist zum Mörder veranlagt. Und Sie haben nun gerade das Unglück gehabt, mit einem solchen zusammenzukommen. Erzählen Sie mir doch einmal, wie das alles gekommen ist.«

 

»Ich habe schon zuviel gesagt. Ich möchte nicht in einem Skandalprozeß vor Gericht erscheinen; auch wäre es sehr schwer zu beweisen.«

 

Mr. Orford nickte.

 

»Wenn ich Mrs. Dorban richtig beurteile, so hat sie jetzt schon vor der Polizei beschworen, daß Sie versucht hätten, sie zu ermorden. Das ist ihre Art. Hätte ich nur vorher gewußt, daß Sie im Hause der Dorbans wohnten!«

 

»Welchen Unterschied hätte das denn gemacht?«

 

Aber Mr. Orford war ebensowenig bereit, sich frei auszusprechen, wie Penelope.

 

Sie ging in ihre Kabine zurück und fand den netten Matrosen damit beschäftigt, ihr Bett zu machen. Er schien Übung darin zu besitzen. Sie beobachtete ihn, ohne daß er es wußte.

 

»Ich danke Ihnen auch schön«, sagte sie dann.

 

Nur für einen kurzen Augenblick war er ein wenig verwirrt.

 

»Ihre Kabine ist jetzt wieder in Ordnung, Miss Pitt.«

 

»Wie heißen Sie eigentlich?« gab Penelope zurück.

 

»Wie ich heiße?« wiederholte er. »Wenn ich die Wahrheit sagen soll, habe ich darüber überhaupt noch nicht nachgedacht. Wie würde Ihnen John gefallen?«

 

»Gut, ich werde Sie John nennen«, sagte sie vergnügt.

 

Er blieb an der Tür stehen.

 

»Wünschen Sie noch irgend etwas? Es tut mir leid, daß wir keine Blumen an Bord haben. Aber wenn Sie etwas Grünes in der Kabine haben wollen – ein wenig Petersilie haben wir im Kühlschrank. Vielleicht könnten wir Ihnen davon etwas ins Zimmer stellen –«

 

»Danke, ich bin auch ohne Grün zufrieden.« Penelope war ein wenig ärgerlich über die vertrauliche Art, mit der er sie behandelte. Aber gleich nachdem er gegangen war, schämte sie sich schon wieder darüber.

 

Zu ihrem größten Erstaunen wurde ihr die Mittagsmahlzeit in ihrer Kabine serviert. Offensichtlich wollten die anderen Passagiere nicht mit ihr zusammen speisen. John hatte allerdings eine andere Erklärung dafür.

 

»Man glaubt, es wäre Ihnen unangenehm, die einzige Dame bei Tisch zu sein. Nachher werden Sie übrigens den Captain kennenlernen. Er ist ein sehr netter Herr; er hat nur keinen Sinn für Humor, obwohl er aus Schottland stammt!«

 

Sie staunte, wie zwanglos er sich mit ihr unterhielt. Früher hatte sie immer den Eindruck gehabt, daß ein Schiffskapitän eine Respektsperson sei, von der alle Matrosen und Seeleute nur mit größter Hochachtung sprächen. Daher war sie doppelt verwundert, als sie Captain Willit sah. Er war ein streng aussehender älterer Herr, der sie unter buschigen weißen Augenbrauen hervor musterte und die erste beste Gelegenheit wahrnahm, sich wieder zu empfehlen.

 

Sie entdeckte, daß die ›Polyantha‹ ein Motorschiff mit verhältnismäßig kleiner Besatzung war. Verschiedene Einrichtungen und Gebräuche an Bord konnte sie nicht verstehen. Vor allem war sie über das Verhalten der Passagiere und Offiziere ihrem Steward gegenüber erstaunt. Niemand sprach mit ihm, und wenn er, wie es häufig geschah, irgendeine zufällige scherzhafte Bemerkung machte, ignorierten sie ihn. Trotzdem schien ihm die Atmosphäre, in der er sich bewegte, gut zu gefallen. Das zweite merkwürdige Mitglied der Besatzung war ein Matrose, der anscheinend nichts anderes zu tun hatte, als auf dem Vorderdeck zu sitzen und Zigarren zu rauchen. Es war ein breitschulteriger Mann mit einem kugelrunden Kopf und einem brutal wirkenden Gesicht. Seine kurzgeschorenen Haare, seine Stupsnase und sein« dicker Hals gaben ihm das Aussehen eines Profiboxers. Allein seine Trägheit hätte ihn auffällig erscheinen lassen, aber er erregte noch mehr Aufsehen dadurch, daß er einen Ledergürtel trug, an dem zwei schwere Pistolentaschen hingen, eine an jeder Hüfte.

 

Er schaute auf, als sich Penelope über die Reling lehnte und ihn beobachtete. Er verzog das Gesicht zu einer sonderbaren Grimasse, die ein Lächeln sein sollte, ihn aber nur noch abstoßender machte. Dann winkte er ihr zu ihrer größten Entrüstung zu. Sie dachte zuerst, daß diese Geste nicht ihr gelte und nur zufällig gewesen sei, aber als er ihr eine Kußhand zuwarf, wandte sie sich empört ab.

 

»Was gibt es denn?«

 

Der Steward richtete diese Frage an sie.

 

»Der Matrose dort –«, sagte sie ein wenig unzusammenhängend. »Er – er, ach, es war nichts. Matrosen sind wahrscheinlich so.« Sie versuchte zu lächeln, obschon sie sich ärgerte, aber er ließ sich nicht täuschen.

 

»Hat er Sie beleidigt?«

 

»Er war ein wenig frech – er hat mir widerlicherweise eine Kußhand zugeworfen. Ich glaube, er dachte –«

 

Bevor sie den Satz beenden konnte, hatte er sich umgewandt und war die Treppe zum Vorderdeck hinuntergeeilt. Sie sah, wie er schnell auf den großen Mann zuging. Sie sprachen heftig miteinander, dann drehte sich John um und stieg langsam die Treppe wieder herauf. Sein Gesicht war bleich.

 

»Er wird Sie nicht mehr belästigen«, sagte er nur kurz und ging an ihr vorüber.