Kapitel 6

 

6

 

»Aber meine liebe Penelope, Sie haben mich furchtbar erschreckt! Wo waren Sie denn nur?« empfing Cynthia ihre Sekretärin, als sie in das Hotel kam. »Ich dachte schon, Sie seien verlorengegangen. Ich habe auch schon in Borcombe angerufen.«

 

»Ich ging durch einen der Tunnel hinaus«, sagte Penelope ruhig. »Ich bin doch wirklich kein so kleines Kind, daß ich mich in London verirren könnte. Ich kannte doch Ihr Hotel.«

 

»Aber was haben Sie denn in der ganzen Zeit gemacht? Der Zug ist doch schon vor einer Stunde angekommen!«

 

Penelope fiel das Lügen schwer. Um Cynthia zu beruhigen, erzählte sie eine Geschichte, die halb wahr und halb falsch war, und erwähnte auch, daß sie durch den Hyde Park gegangen sei.

 

*

 

»Hoffentlich ist Arthurs Unterredung zufriedenstellend verlaufen«, sagte Cynthia am Abend. Als sie merkte, daß sie laut gedacht hatte, setzte sie schnell hinzu: »Arthur hatte nämlich Besuch.«

 

Penelope wußte natürlich, warum man sie fortgeschickt hatte.

 

Als sie am nächsten Morgen nach Stone House zurückkehrten, war Mr. Dorban ernst und in Gedanken versunken. Auch zu ihr war er sehr kurz, als er einige Minuten allein mit ihr im Büro war. Er machte einen sehr zerstreuten Eindruck und schien gar nicht mehr an den Vorfall im Motorboot zu denken, der sich zwischen ihnen abgespielt hatte. Er erwähnte überhaupt nichts davon, und am allerwenigsten rührte er an die Frage ihrer Rückkehr nach Kanada. Freilich hatte sich Penelope schon endgültig dafür entschieden, diesen entscheidenden Schritt im Augenblick nicht zu tun. Seine Offenherzigkeit hatte sie doch in gewisser Weise beruhigt, so daß sie sich etwas sicherer fühlte.

 

Sie sah ihn in den nächsten Tagen nur selten. Arthur Dorban hatte lange Konferenzen mit seiner Frau, und man ließ Penelope viel allein. Es war auch außergewöhnlich, daß die beiden am nächsten Nachmittag allein in dem Motorboot aufs Meer hinausfuhren. Penelope war froh darüber.

 

Sie kletterte zu den Klippen hinauf und pflückte einen Strauß wilder Blumen. Es war ein herrlicher Nachmittag, die Hitze wurde durch eine Brise von der See her gelindert, der Himmel war wolkenlos klar und dunkelblau, und die Bucht dehnte sich grünflimmernd vor ihr aus. Sogar den Möwen, die sonst vom frühen Morgen bis zum späten Abend über Stone Hause kreisten und ihre unmelodischen Schreie ertönen ließen, war es heute zu heiß.

 

Penelope hatte die Höhe erreicht und sich im Schatten eines großen Ginsterbusches niedergelassen, als sie den Duft einer Zigarre wahrnahm. Irgend jemand mußte in ihrer Nähe sein und rauchen. Sie sah sich um, konnte aber niemanden entdecken. Das Ufer von Borcombe lag verlassen da. Wer mochte es nur sein? Die Leute in Borcombe rauchten im allgemeinen keine Zigarren. Arthur Dorban hatte nur türkische Zigaretten im Hause, und außerdem konnte sie das Motorboot von hier aus auf dem Meer sehen und ihn an seiner weißen Wolljacke deutlich erkennen.

 

Sie stand auf. In demselben Augenblick erhob sich auf der anderen Seite des Gebüsches ein junger Mann. Sein Gesicht war rot, die blonden Haare hatte er nach hinten gebürstet.

 

»Ich bitte um Verzeihung«, begann er. »Ich fürchte, der Rauch meiner Zigarre hat Sie belästigt?«

 

Sie fand ihn wenig anziehend, denn er war etwas korpulent, aber sein gutmütiges Lächeln besänftigte sie. Er hatte auch zweifellos eine gute Erziehung genossen.

 

»Ich war neugierig, woher der Rauch kam«, erwiderte sie lächelnd. »Aber bitte, lassen Sie sich durch mich nicht stören.«

 

»Sie sind die amerikanische Dame«, sagte er schnell. »Ich dachte mir gleich, daß Sie es seien, als Sie hier heraufkamen. Es ist merkwürdig, daß ich bis heute noch nicht wußte, daß Sie in dem Hause dort wohnen.«

 

»Sind Sie ein Freund Mr. Dorbans?«

 

Das Lächeln verschwand aus seinen Zügen.

 

»Nein«, sagte er langsam. »Ich bin gerade kein Freund von Mr. Dorban – aber ich kenne ihn sehr gut. Sie wohnen doch dort?«

 

»Ich bin Mr. Dorbans Sekretärin.«

 

Er sah sie erstaunt an.

 

»Seine Sekretärin? So, das erklärt alles. Seine Dienstboten sind alle aus Frankreich«, fügte er hinzu.

 

Sie war verstimmt, und er fühlte das auch sofort.

 

»Entschuldigen Sie bitte mein unverzeihliches Betragen, aber ich interessiere mich sehr für Dorban. Mr. Whiplow ist nicht mehr da?«

 

»Mr. Whiplow?« fragte sie erstaunt.

 

»Ach, Sie werden ihn nicht getroffen haben. Sie waren ja in London. Das hatte ich im Augenblick ganz vergessen.«

 

Er sprach so naiv und jungenhaft, daß sie lächeln mußte.

 

»Mr. Whiplow ist gestern wieder abgefahren«, sagte sie. »Er blieb nur einen Tag hier.«

 

»Haben Sie nicht ein Bild von ihm? Ich habe ihn um zehn Minuten verfehlt, sonst hätte ich selbst schnell eine Aufnahme von ihm gemacht. Es ist natürlich nicht recht, daß ich all diese Fragen an Sie stelle – aber haben Sie nicht doch irgendein Foto, vielleicht ein Gruppenbild im Garten oder so etwas Ähnliches?«

 

Sie schaute ihn verwundert an.

 

»Ich kann doch hier nicht mit Ihnen über Mr. Dorbans Besucher sprechen«, erwiderte sie reserviert.

 

»Nein, natürlich nicht.« Er entschuldigte sich vielmals. »Es tut mir. leid, daß ich Sie so belästigt habe.«

 

Er wandte sich um, als ob er gehen wollte, blieb aber doch wieder stehen. Sie war gespannt, was er ihr noch mitzuteilen habe.

 

»Ich wohne im Hotel zur Krone in Torquay. Es ist wohl töricht von mir, Ihnen das vorzuschlagen, aber für den Fall … Mein Name ist Stamford –«

 

»Mills«, ergänzte sie.

 

Er sah sie verwundert an.

 

»Ja, Stamford Mills – Sie haben also von mir gehört?«

 

Sie antwortete ihm nicht.

 

Das war also der Mann, der nach Cynthias Erzählung der Todfeind Arthurs war! Er sah allerdings nicht so aus, als ob man vor ihm Angst haben müsse.

 

»Ich stehe gerade nicht sehr gut mit den Dorbans«, gab er zu. »Vermutlich hat man Sie schon vor mir gewarnt.« Er blickte auf das Meer hinaus. »Entschuldigen Sie mich«, sagte er dann plötzlich und eilte auf die andere Seite des Gebüsches.

 

Sie wunderte sich, was das alles bedeuten sollte. Aber plötzlich erschien er wieder mit einem großen Fernglas und schaute eine Minute lang auf die See hinaus. Dann ließ er mit einem Seufzer das Glas sinken.

 

»Ich hatte sie schon mit dem bloßen Auge erkannt«, sagte er dann zufrieden und zeigte auf das Wasser.

 

Penelopes Augen folgten der Richtung seines Fingers, und sie sah am Horizont einen kleinen Flecken.

 

»Hiermit können Sie besser sehen.«

 

Er reichte ihr das Fernglas. Sie stellte es ein, es dauerte aber einige Zeit, bis sie das lange schwarze Schiff mit den hohen Aufbauten erkannte. Es schien stillzustehen.

 

»Die hübsche ›Polyantha‹«, murmelte Mr. Stamford Mills.

 

Dann schlug er sich auf den Mund, als ob er eine ungeheure Indiskretion begangen habe.

 

»Ich habe dieses Schiff schon gestern gesehen«, sagte sie ruhig, während sie ihm das Glas zurückgab, »es ist eine Jacht.«

 

Er dachte einige Zeit nach, bevor er antwortete.

 

»Ja, Sie haben recht, es ist eine Jacht. Sie gehört einem guten Freund von mir, dem Herzog von Augille. Ich habe schon verschiedene Reisen auf ihr gemacht – es ist ein schönes Schiff.«

 

Er setzte seinen Hut auf, wandte sich plötzlich um und ging über die Wiesen. Sie hatte fast den Eindruck, daß dieser Mann nicht ganz richtig im Kopf war.

 

*

 

Beim Tee sagte sie noch nichts von ihrer Begegnung, aber später quälte sie ihr Gewissen, und sie erzählte doch von ihrem Erlebnis.

 

»Stamford Mills?« fragte Mr. Dorban heftig. »Was macht denn der hier? Hat er Sie irgend etwas gefragt?«

 

»Ja, er wollte allerhand von mir wissen.«

 

»Du sagtest doch, Mills sei in London«, wandte sich Arthur streng an seine Frau.

 

»Ich habe auch bestimmt gehört, daß er dort sei.«

 

»Was macht er denn hier? Hat er von irgend jemandem gesprochen?«

 

»Er fragte mich, ob Mr. Whiplow noch hier sei.«

 

Arthur wechselte einen kurzen Blick mit Cynthia.

 

»Sie haben ihm natürlich gesagt, daß kein Whiplow hier war?«

 

»Er schien überzeugt zu sein, daß Sie gestern Besuch hatten«, entgegnete Penelope.

 

Mr. Dorban quälte sie noch mit vielen Fragen. Aber je eindringlicher er wurde, desto weniger war sie geneigt, ihm Genaueres über ihre Unterhaltung mit dem Fremden zu erzählen.

 

Die ›Polyantha‹ erwähnte sie überhaupt nicht, denn es erschien ihr vollkommen nebensächlich und zufällig, daß sie diese Jacht gesehen hatte.

 

*

 

»Gehen Sie bitte hinauf und räumen Sie den Koffer oben im Abstellraum aus«, sagte Cynthia am nächsten Nachmittag zu ihr. »Das heißt, es braucht nicht gerade jetzt zu sein. Es liegen viele Sommerkleider von mir darin, die ich im vorigen Jahr getragen habe. Neulich erhielt ich eine Karte von einem Händler in Torquay, der alte Kleider aufkauft – und ich möchte sie doch lieber weggeben als von den Motten zerfressen lassen.«

 

»Ich werde es jetzt gleich tun«, entgegnete Penelope.

 

Ein paar Minuten später kam sie zurück und bat um den Schlüssel.

 

»Wie, der Koffer ist verschlossen?« fragte Cynthia überrascht. »Ich kann mich nicht erinnern, ihn abgeschlossen zu haben.« Sie zog eine Schublade ihres kleinen Sekretärs auf und nahm einen Schlüsselbund heraus. »Einer davon paßt sicherlich«, meinte sie.

 

Penelope ging wieder hinauf, fand auch einen passenden Schlüssel und öffnete das Schloß.

 

Es war ein großer, grüner Koffer. Cynthia hatte ihr am Tage nach ihrer Ankunft das ganze Haus gezeigt und dabei auch erwähnt, daß sie früher zwei gleiche Koffer besessen habe, der eine sei aber auf einer Reise verlorengegangen.

 

Das oberste Fach des Koffers war leer. Sie hob es heraus und legte es auf den Boden. Ein brauner Papierbogen bedeckte den Inhalt der unteren Abteilung. Sie entfernte auch diesen, und ihr Blick fiel auf zwei ungerahmte Radierungen. Die eine stellte den Kopf eines Heiligen dar, die andere eine Landschaft in der Manier von Corot. Mit einer Klammer war ein kleiner Zettel daran befestigt, der auf die Erde fiel, als sie die Radierungen herausnahm.

 

Es war eine Quittung: ›Ich bestätige hiermit den Empfang von siebenhundert Pfund als Zahlung für die beiden Originalradierungen St. Markus und Englische Landschaft.‹ Die Quittung war mit ›John Feltham‹ unterzeichnet und genau vor einem Jahr ausgestellt worden.

 

Sie stellte die beiden Radierungen beiseite und legte die Quittung auf das Fensterbrett. Dann kniete sie wieder nieder und entfernte eine weitere Papierlage. Starr vor Staunen, erblickte sie viele Pakete englischer Banknoten der verschiedensten Werte von fünf bis zu hundert Pfund.

 

Plötzlich hörte sie einen Ausruf hinter sich, wandte sich um und sah in das entsetzte Gesicht Cynthias.

 

»Mein Gott!« stieß die Frau heiser hervor.

 

Bevor Penelope etwas sagen konnte, hatte Cynthia sie beim Arm ergriffen und in den Gang gezogen.

 

»Gehen Sie schnell hinunter und sagen Sie –«

 

Aber es war nicht nötig, Arthur Dorban zu rufen, denn er war seiner Frau gefolgt.

 

»Du Dummkopf!« fuhr ihn Cynthia an. »Du hast den falschen Koffer versenkt!«

 

Kapitel 7

 

7

 

Nach dem schweigsam verlaufenen Abendessen ging Penelope in den Garten, um sich über die Lage klarzuwerden. Sie versuchte, hinter das Geheimnis zu kommen, das über dem Leben der Dorbans lag. Er hatte den falschen Koffer versenkt! War das der Koffer, der auf der Reise verlorengegangen sein sollte? Und warum hatte er einen Koffer mit Banknoten versenken sollen, die einen so fabelhaften Wert darstellten?

 

Sie hatten ihr nicht die geringste Erklärung gegeben – das erschien ihr als schlechtes Zeichen. Die Atmosphäre war geladen. Es drohte ihr Gefahr – sie wußte und fühlte es.

 

Cynthias schrille Stimme rief sie zurück. Sie ging langsam ins Haus, ihr Herz schlug schneller. Auf dem Wege, der am Haus entlangführte, sah sie etwas Weißes liegen. Sie bückte sich und hob es auf. Selbst in dem Zwielicht erkannte sie, daß es die Quittung war, die sie oben in dem Koffer gefunden hatte. Die Zugluft mußte sie aus dem Fenster geweht haben. Sie steckte sie in die Tasche ihrer Strickjacke, um sie Mrs. Dorban zu geben.

 

»Kommen Sie hier herein, Penelope«, sagte Cynthia hart.

 

Sie folgte der Frau in das kleine Wohnzimmer.

 

Arthur Dorban saß an einem kleinen Tisch und hatte das Kinn in seine Hand gestützt. Er schaute nicht auf, als sie eintrat, sondern sah unverwandt auf die Spitzendecke, die auf dem Tisch lag.

 

Penelope hörte, wie der Schlüssel umgedreht wurde, und wußte, daß sie nun gefangen war.

 

»Hier ist sie«, sagte Cynthia barsch.

 

Aber Arthur rührte sich immer noch nicht.

 

»So sag es ihr doch!« Cynthia konnte ihre Ungeduld nicht verbergen.

 

Nun schaute Mr. Dorban auf.

 

»Ich will allein mit ihr sprechen.«

 

Cynthia zuckte die schmalen Schultern.

 

»Das kann ich auch ertragen«, erwiderte sie ironisch, ging dann zwei Schritt auf ihren Mann zu und lehnte sich über den Tisch. »Du weißt, was dies zu bedeuten hat, Slico? Es gibt keine halben Maßnahmen und auch keine Kompromisse. Hast du mich verstanden? Wenn du nicht den Mut hast, ich habe ihn!«

 

Sie sah ihn noch einen Augenblick scharf und eindringlich an, dann verließ sie das Zimmer.

 

Als sie die Tür geschlossen hatte, wandte er sich an Penelope. Aber es fiel ihm schwer, zu sprechen.

 

»Neulich gab ich Ihnen eine Chance, nach Kanada zurückzukehren, und ich wünschte jetzt aufrichtig, Sie hätten von meinem Anerbieten Gebrauch gemacht. Jetzt können Sie nicht mehr nach Kanada oder sonstwohin gehen. Es gibt nur noch eine Möglichkeit für Sie, aber es ist alles andere als die, an die Cynthia denkt. Sie erinnern sich noch daran, was ich Ihnen auf dem Boot sagte?«

 

Sie nickte. Ihr Mund war trocken, und sie konnte kein Wort hervorbringen.

 

»Das ist der Ausweg, der Ihnen bleibt. Aber das bedeutet auch, daß wir irgendwie mit Cynthia fertig werden müssen.«

 

»Ich verstehe nicht, was Sie meinen – was habe ich denn getan?« fragte sie heiser.

 

»Sie haben etwas gesehen, was Sie nicht hätten sehen dürfen. Wenn Sie mehr darüber wüßten, was sich in diesem Land in den letzten zwölf Monaten ereignet hat, würden Sie nicht solche Fragen stellen. Ich habe Cynthia satt, das habe ich Ihnen schon früher gesagt. Und ich muß zwischen Cynthia und Ihnen wählen. Eine von beiden muß aus dem Wege!«

 

Sie starrte ihn entsetzt an.

 

»Aus dem Wege?«

 

»Ja.« Plötzlich stand er auf und trat dicht an sie heran. Sie war vor Schrecken wie gelähmt. Er legte seinen Arm um ihre Schulter und seine Hand unter ihr Kinn. »Sieh mich an«, flüsterte er, und seine Augen leuchteten auf. »Ich ginge für dich aufs Schafott, wenn du das erlösende Wort sprechen würdest! Aber du mußt mir helfen – hörst du? Ich habe mich auf dem Boot zusammengenommen, aber du weißt nicht, was es mich gekostet hat, mich damals zu beherrschen. Ich sehne mich nach dir, Penelope!«

 

Als seine heißen Lippen die ihren berührten, brach plötzlich der Bann, der über ihr gelegen hatte. Sie stieß ihn zurück, wandte sich und eilte aus dem Zimmer in den dunklen Korridor. Sie faßte eben das Treppengeländer, als etwas ihr Gesicht berührte. Sie wußte, daß es ein seidenes Tuch war, noch ehe ihre Kehle damit zugeschnürt wurde. Sie versuchte zu schreien, aber der Laut wurde erstickt.

 

Sie war noch niemals ohnmächtig geworden und wußte auch nicht, daß sie das Bewußtsein verloren hatte, bis sie im Wohnzimmer wieder zu sich kam. Ihre Hände waren eng zusammengebunden.

 

»Wenn Sie schreien, soll es Ihnen leid tun«, sagte Cynthia. Ihr Gesicht sah eingefallen und verzerrt aus, ihre Augen schienen eingesunken zu sein. Penelope erkannte sie kaum wieder.

 

Sie sah sich um und entdeckte Arthur Dorban, der mit verschränkten Armen dastand und sie düster anschaute.

 

»Stehen Sie auf«, sagte Cynthia kurz, und Penelope erhob sich schwankend.

 

Cynthia sah auf ihre Armbanduhr, nahm dann das seidene Tuch vom Tisch, drehte es zusammen und steckte es in Penelopes Mund. Das Mädchen wußte, daß es zwecklos war, Widerstand zu leisten. Sie konnte nur warten und ihre Kräfte für den Endkampf sammeln. Sie versuchte vergeblich, ihre Hände aus den Fesseln zu ziehen.

 

Mrs. Dorban mußte ihre Absicht erraten haben, denn sie lächelte verächtlich.

 

»Sie strengen sich umsonst an. Lassen Sie mich einmal sehen.« Sie schaute hinunter. »Nein, die Seide wird keine Eindrücke zurücklassen«, sagte sie erleichtert. Sie nahm Penelope am Arm und führte sie zur Haustür.

 

»Warte!« rief Arthur heiser.

 

Cynthia wandte sich zu ihm um und blickte ihn haßerfüllt an.

 

»Ich werde zurückkommen und dann mit dir sprechen, Slico«, erwiderte sie leise.

 

Sie trat mit Penelope hinaus.

 

»Wenn Sie schwierig werden wollen, mache ich kurzen Prozeß mit Ihnen. Sehen Sie einmal her!«

 

Der Mond wurde durch dunkle Wolken verhüllt, aber es war hell genug, daß sie die schimmernde kleine Pistole in Cynthias Hand sehen konnte. Sie nickte, und sie gingen zusammen den Gartenweg hinunter durch das Tor in der Mauer. Cynthia hielt das Mädchen am Arm fest. Sie stiegen die Stufen hinab und machten erst auf dem flachen Felsen dicht bei dem Bootshaus halt.

 

Cynthia öffnete die Tür, die ins Innere führte. »Steigen Sie ein!«

 

Penelope gehorchte.

 

Es schien ihr alles wie ein böser Traum, und sie glaubte, sie werde jeden Augenblick erwachen. Und doch wußte sie ganz genau, daß es schreckliche Wirklichkeit war. Sie taumelte in das Boot, Cynthia folgte ihr, beugte sich vor, um die Vertäuung zu lösen, und warf den Motor an. Langsam glitt das Boot in die offene Bucht hinaus. Cynthia saß am Steuer, Penelope zu ihren Füßen, starr vor Schrecken.

 

Der Mond trat jetzt hinter den Wolken hervor und überstrahlte alles mit seinem blaßgelben Licht. Penelope konnte entlang der Küste die Leuchttürme sehen. Nur das rhythmische Geräusch des Motors unterbrach das tiefe Schweigen, das dort herrschte.

 

Etwa zwanzig Minuten lang fuhren sie mit größter Geschwindigkeit auf das offene Meer hinaus. Dann brachte Cynthia den Motor zum Stehen, ging nach vorn und kam mit einem Tau zurück, dessen eines Ende sie um Penelopes Taille legte und festknüpfte. Dann bückte sie sich und hob die eisernen Stäbe auf, die als Ballast auf dem Boden des Bootes lagen. Sie legte zwei schwere Stücke zu Penelopes Füßen und band sie daran fest.

 

Nun wurde dem Mädchen plötzlich klar, was die Frau beabsichtigte. Beinahe wäre sie ohnmächtig geworden, aber sie biß sich auf die Lippen, bis sie bluteten. Sie mußte noch immer träumen, denn das konnte doch nicht wahr sein. Kein Mensch brachte es über sich, ein so teuflisches Verbrechen auszuführen. Und doch kam ihr zum Bewußtsein, daß Jahr für Jahr solche schreckliche Verbrechen begangen wurden. Aber das hier konnte einfach nicht wahr sein; die Gedanken versagten ihr – sie mußte aus diesem Traum erwachen!

 

»Ich werde Sie jetzt über Bord werfen. Wenn Sie ertrunken sind, ziehe ich Sie wieder heraus und nehme die Gewichte von Ihren Füßen.«

 

Penelope schrie auf vor Verzweiflung, aber der seidene Knebel erstickte ihre Stimme. Cynthia packte sie mit scharfem Griff und riß sie hoch. Einen Augenblick standen die beiden, Verbrecherin und ihr Opfer, nebeneinander. Penelope nahm ihre ganzen Kräfte zusammen und warf sich mit voller Gewalt gegen ihre Mörderin. Cynthia taumelte, griff mit der Hand in die Luft, schrie auf und fiel ins Wasser. Gleich darauf erschien ihr Kopf wieder auf der Wasserfläche, und sie streckte die Hände aus, um sich am Boot festzuhalten.

 

Penelope versuchte, sich nach vorne zu bewegen, aber die Eisen hinderten sie daran. Sie packte das Tau mit ihren geschwollenen Händen und zog sich mit aller Kraft daran weiter. Jetzt war sie in Reichweite des Schalthebels. Sie hörte das leise Geräusch des Motors. Mit größter Anstrengung drückte sie auf den Hebel und warf ihn herum – die Kielwelle sprang auf, und das Boot machte wieder Fahrt.

 

Sie schaute zurück – Cynthia schwamm jetzt. Sie erinnerte sich daran, daß Arthur ihr erzählt hatte, daß seine Frau wie ein Fisch schwimmen könne. Sie zog nun mit den Händen das seidene Tuch weg, das ihren Mund bedeckte, und atmete erleichtert in der kühlen Nachtluft auf. Sie zitterte an allen Gliedern, und ihr Kopf schmerzte. Zuerst mußte sie nun die schrecklichen Eisen von den Füßen entfernen. Sie setzte sich nieder und löste die Knoten mit den Fingern. Schließlich gelang es ihr, sich von den Gewichten zu befreien, aber ihre Hände waren noch gefesselt. Sie ließ den Motor mit voller Geschwindigkeit laufen. In einem der Fächer unter den Sitzen befand sich ein kleiner Kasten mit Geschirr, Bestecken und Tischzeug. Sie riß das Fach auf und fand ein Messer. Dann setzte sie sich auf den Boden, hielt das Messer mit den Füßen fest und sägte so den seidenen Strick durch.

 

Als sie zum Steuer zurückging, war ihr erster Gedanke, die gräßlichen Eisen über Bord zu werfen, und sie fühlte sich erleichtert, als sie im Wasser versanken. Cynthia konnte sie nicht mehr sehen, als sie nach der Küste zurückblickte.

 

Wohin kam sie? Aber sie fuhr in das offene Meer hinaus, ohne an Gefahr zu denken. Die große Gefahr lag ja nun hinter ihr. Sie wollte nur fort, weit fort!

 

Vielleicht konnte sie um Portland Hill herumfahren. Weymouth lag dort an der Küste, weit von Borcombe entfernt. Dieser Gedanke tröstete sie.

 

Sie hatte ihre Gedanken wieder gesammelt und durchsuchte nun das Boot nach Vorräten. Sie fand; daß genügend Benzin im Tank war, um einen ganzen Tag lang fahren zu können. Nahrungsmittel waren freilich nicht zu entdecken. Aber sie war ja so nahe am Lande, daß sie sich darüber keine Sorgen machte. Sie vermutete, daß es etwa elf Uhr war. Bei Tagesanbruch konnte sie in Weymouth eintreffen. Bis Mitternacht fühlte sie sich gar nicht müde, aber dann kam die Reaktion in Gestalt einer überwältigenden Erschöpfung, und sie konnte kaum noch die Augen aufhalten. Aber plötzlich wurde sie wieder ganz wach, als sie sah, daß sie sich in einer dichten Nebelbank befand.

 

Wieder durchsuchte sie das Boot, diesmal nach einem Kompaß, aber es war keiner vorhanden. Das beste wäre gewesen, wenn sie gestoppt und Anker geworfen hätte, bis der Nebel sich verzogen hatte. Bevor sie in den Nebel eintauchte, hatte sie jedoch gerade noch gesehen, daß sie etwa auf der Höhe des Leuchtturms von Portland war. Da schien es ihr ziemlich einfach, an der Küste entlangzufahren; sie brauchte ja nur auf die Brandung zu lauschen. Sie brachte den Motor auf halbe Geschwindigkeit und fuhr weiter.

 

Als sie aus der Nebelbank herauskam, war aber kein Land mehr zu sehen. Am östlichen Himmel dämmerte es schon. Direkt rechts vor sich sah sie ein großes Schiff, das anscheinend auch aus einer der Nebelbänke herausgekommen war, die die Schiffahrt im Kanal im Sommer so stark behindern. Ihr Herz schlug schneller, denn sie fühlte, daß sie auf diesem Schiff in Sicherheit sein würde. Sie erhob sich und rief aus vollen Kräften.

 

Sie hörte eine Stimme auf der Kommandobrücke und wurde dann von einem Scheinwerfer geblendet, der das kleine Motorboot mit seinen grellen weißen Strahlen überflutete.

 

»Kommen Sie hinterschiffs an das Fallreep heran!« wurde ihr durch ein Sprachrohr zugerufen.

 

Sie brachte den Motor auf volle Fahrt und hielt auf das Schiff zu. Einige Minuten später legte sie neben einem schnell heruntergelassenen Fallreep an, und ein Matrose zog sie auf die kleine Plattform am Fuß der Treppe.

 

»Bringen Sie die Frau an Bord, aber stoßen Sie das Boot wieder in See!« wurde von oben heruntergerufen.

 

Penelope war halb ohnmächtig, als sie sah, daß der Matrose das Motorboot mit einem Fußtritt wieder ins Meer hinausdirigierte. Ihre Knie zitterten, als sie an Deck geführt wurde. Im Schein einer Lampe stand ein Mann vor ihr. Er war ungewöhnlich groß und trug einen dunkelvioletten Pyjama.

 

»Was ist denn los?« rief er.

 

Plötzlich erkannte Penelope ihn wieder.

 

»Ach, Mr. Orford«, rief sie und fiel schluchzend an seine Brust.

 

»Unglaublich!« murrte James Xenocrates Orford. »Zum Donnerwetter, was haben Sie denn auf meinem schönen Schiff zu suchen?«

 

Kapitel 8

 

8

 

Als Penelope am nächsten Morgen erwachte, lag sie in einer großen, luftigen, schön eingerichteten Kabine. Die Vorhänge waren aus schwerer blauer Seide, und das Bett, auf dem sie ruhte, schien aus Silber zu sein. Auf dem Fußboden lag ein herrlicher blauer Teppich, und der ganze Raum war mit Rosenholz getäfelt. Sie sah einen hübschen, eingelegten Schreibtisch, auf dem eine silberne Leselampe stand, und einen bequemen Armsessel, von dem aus die prachtvollen Lederbände auf dem Bücherbrett leicht zu erreichen waren.

 

Penelope konnte sich nicht darauf besinnen, wie sie ins Bett gekommen war. Sie war noch vollständig angekleidet, aber jemand mußte den Bund ihres Rockes gelockert und ihr die Schuhe ausgezogen haben. Es war so schön, hier zu liegen, dem monotonen Geräusch der Schiffsschrauben zu lauschen und sich leise schaukeln zu lassen, daß sie gar nicht das Bedürfnis empfand, aufzustehen. Sie war also an Bord eines großen Schiffes und wollte eigentlich nicht mehr daran denken, wie sie hierhergekommen war. Aber sie rief sich doch noch einmal furchtlos alle Vorgänge der letzten Nacht ins Gedächtnis zurück. Sie überlegte gerade, wie spät es wohl sein mochte, als über ihr die Glocke anschlug.

 

Es war ein Schlag – ihrer Schätzung nach mußte es halb neun sein.

 

Sie machte noch immer keine Anstrengung, sich zu bewegen, sie zog nicht einmal die seidene Steppdecke beiseite, die über ihr lag, Plötzlich klopfte draußen jemand an die Tür.

 

»Herein«, sagte sie und war erstaunt, wie schwach ihre Stimme klang. Sie erwartete, die Stewardeß zu sehen, aber statt dessen trat ein Matrose in einer blauen Jacke herein, ein großer, schlanker Seemann mit dunkelbraunem Gesicht. Er sah auffallend gut aus, nur sein Benehmen erschien Penelope nicht ganz einwandfrei, denn er nahm seine runde Mütze nicht ab.

 

»Ich bringe Ihnen eine Tasse Tee. Ich weiß allerdings nicht, ob Sie Zucker nehmen. Am besten hätte ich Ihnen natürlich ein Tablett mit allen Zutaten gebracht, aber es ist mir erst eingefallen, als ich schon vor der Tür stand.«

 

Er stellte die Tasse sorgfältig auf den Tisch neben ihrem Bett.

 

Sie hatte noch nie Matrosen gesehen, die sich so gut und vornehm ausdrückten. Seine Hände waren rauh und hart, sein Anzug ein wenig abgenützt, aber er sprach und hielt sich wie ein Gentleman.

 

»Ich danke Ihnen sehr«, sagte sie und stützte sich auf ihren Ellenbogen. »Würden Sie wohl die Stewardeß bitten, einmal zu mir zu kommen?«

 

»Ich bin hier die Stewardeß«, erwiderte er ernst.

 

Trotz ihrer Kopfschmerzen mußte sie lachen.

 

»Wer hat mich denn gestern abend hierhergebracht?«

 

»Das war auch ich. Sie waren so schnell eingeschlafen, daß es unmöglich war, Sie aufzuwecken. Ich habe mir erlaubt, Sie zur Ruhe zu bringen. Wenn Sie gestatten, werde ich Ihnen jetzt das Bad bereiten.«

 

Er verschwand durch eine Tür, die sie bis jetzt noch nicht bemerkt hatte. Sie hörte, wie das Wässer einlief. Nach einer Weile kam er wieder zurück.

 

»Ich habe Ihre Schuhe geputzt. Es gibt an Bord alles, was Sie nur wünschen können, nur haben wir keine anderen Kleider für Sie. Wir hoffen aber, auch diese Frage später noch zu Ihrer Zufriedenheit lösen zu können.«

 

»Wo bin ich denn eigentlich?«

 

»Sie sind an Bord der Jacht ›Polyantha‹.«

 

»›Polyantha‹!« Das war doch das Schiff, das Mr. Stamford Mills gesehen hatte! Sie erinnerte sich plötzlich daran – welch ein merkwürdiger Zufall!

 

»Wenn Sie mir Nähnadel und Zwirn besorgen wollen, werde ich versuchen, mein Kleid selbst wieder in Ordnung zu bringen. Ich muß doch ein wenig repräsentabel aussehen, wenn wir in den Hafen einlaufen.«

 

»Wir legen in keinem Hafen an. Es ist wohl notwendig, daß Sie das erfahren. Wir befinden uns auf einer sehr langen Reise.«

 

Sie sah ihn verwundert an.

 

»Aber Sie können mich doch an der Küste absetzen?«

 

»Ich fürchte, daß wir nicht einmal das können«, sagte er in seiner nüchternen Art.

 

»Aber ich kann doch nicht auf eine weite Reise gehen, ohne darauf vorbereitet zu sein, und außerdem –«

 

»Sie können an Ihre Freunde ein Telegramm senden, daß Sie in Sicherheit sind.«

 

Es kam ihr zum Bewußtsein, daß sie keine Freunde hatte, die auf Nachrichten von ihr warteten.

 

»Habe ich geträumt, oder war es wirklich Mr. Orford, den ich gestern abend hier an Bord sah?«

 

»Sie haben recht, es war Mr. Orford.«

 

»Geht er denn auf diesem Schiff nach Amerika?« fragte sie erleichtert.

 

»Nein, er geht überhaupt nicht nach Amerika. In diesem Augenblick geht er zum Frühstück.«

 

Mit einer kleinen Verbeugung wandte er sich um und verließ die Kabine. Er schaute aber noch einmal kurz hinein.

 

»Sie können die Tür zuriegeln – merkwürdigerweise ist auch das Kabinenschloß in Ordnung. In der Regel ist es nämlich nicht ganz intakt. Den Schlüssel finden Sie in der obersten rechten Schublade des Schreibtisches.«

 

Ein merkwürdiger junger Mann, dachte Penelope, als sie sich an dem warmen Bad erfreute. Als sie später die Kabinentür öffnete, standen ihre Schuhe draußen. Ihre Kabine führte auf das Oberdeck. Es wehte eine steife Brise, und damit ihre leichten Schuhe nicht über Bord geweht wurden, hatte die ›Stewardeß‹ eine eiserne Stange darüber gelegt. Bei diesem Anblick überlief sie ein Schauer.

 

Zehn Minuten später trat sie auf das Deck hinaus.

 

»Guten Morgen, Miss Pitt.«

 

Sie wandte sich um.

 

Ein etwas starker junger Mann weidete sich an ihrem Erstaunen.

 

»Mr. Stamford Mills!« rief sie überrascht.

 

»Ja, das bin ich. Ich hatte das Vergnügen, Sie schon gestern nachmittag kennenzulernen.«

 

»Aber – wie kommt es denn, daß Sie auch hier sind?« fragte Penelope verwundert.

 

»Darf ich Ihnen unseren Arzt, Dr. Fraser, vorstellen?«

 

Der Schiffsarzt war ein schweigsamer Schotte, der Penelope mißtrauisch betrachtete. Sie fühlte, daß er ihre Anwesenheit auf dem Schiff als etwas Ungehöriges ansah, und sie fragte, ob noch andere Damen an Bord seien.

 

»Nein, leider nicht«, erwiderte Mr. Robert Stamford Mills. »Und wie Sie hierhergekommen sind, ist mir ein Rätsel. Ich hörte erst heute morgen davon, als ich aufwachte. Man sagte mir, daß Sie in einem kleinen Motorboot aufgefischt worden seien. Was hatten Sie denn mitten in der Nacht auf hoher See zu tun?«

 

»Man wollte mich ermorden«, sagte Penelope ruhig.

 

»Ermorden?« fragte er schnell. »Wie meinen Sie denn das?«

 

»Wenn ich es Ihnen erzählte, würden Sie denken, ich hätte den Verstand verloren. Dergleichen passiert nur in schrecklichen Träumen oder verrückten Büchern. Ich will niemandem etwas davon sagen, bis ich wieder an Land bin, auch dann –«

 

»Aber Sie müssen es mir sagen! Oder noch besser Mr. Orford«, sagte er, als er sah, daß sie sich verletzt fühlte.

 

»Kennen Sie denn Mr. Orford?« fragte sie erstaunt. »Warum ist er eigentlich an Bord? Ich dachte, er wollte nach Amerika reisen?«

 

»War es Cynthia oder Arthur, der den Mordanschlag auf Sie verübte?« fragte Bobby Mills hartnäckig. »Und warum ist das geschehen? Hatten Sie irgend etwas über die Leute herausgefunden? Oder –«

 

»Oder?« fragte sie herausfordernd.

 

Er sah sie nachdenklich an.

 

»Cynthia Dorban ist eine sehr eifersüchtige Frau, die vor nichts zurückschreckt und kein Mitleid kennt. Ihr erster Mann starb unter sehr merkwürdigen Umständen. Meiner Meinung nach –«

 

Er hielt plötzlich inne.

 

»Da kommt Mr. Orford«, unterbrach sie ihn, und Bobby ging dem liebenswürdigen, älteren Herrn entgegen. Gleich darauf traten sie zu ihr an die Reling.

 

»Nun, ich muß schon sagen, daß ich nicht auf Sie gerechnet hatte«, begrüßte sie Mr. Orford. »Wissen Sie, was Sie für uns bedeuten, mein Fräulein? Ein wenig Sand in der sonst so gut laufenden Maschine meiner Organisation. Sie sind das fünfte Rad am Wagen und die neunte Dimension. Sie gehören nicht hierher. Sie sind wie ein Stück Papier, das in kein besonderes Fach gehört und das man immer von einer Stelle zur anderen schiebt. Aber irgend etwas müssen wir ja nun mit Ihnen anfangen.«

 

»Bin ich Ihnen denn so sehr im Wege?« fragte sie schuldbewußt.

 

Mr. Orford nahm seine Mütze ab und fuhr erregt mit der Hand durch das Haar.

 

»Es ist möglich, daß Sie unsere ganzen Pläne stören. Im Augenblick hindern Sie uns ebensowenig wie eine schöne Rose, die in den Wüsten Arabiens blüht. Sie kommen mir vor wie jemand, der mit einem roten Hut bei einer Beerdigung erscheint. Außerdem sind Sie sehr verdächtig, und deswegen sorge ich mich.«

 

»Können Sie mich denn nicht irgendwo an der Küste absetzen?«

 

»Nein, das ist unmöglich«, sagte er entschieden. »Wir kommen an keine Küste, wo wir Sie absetzen könnten. Sie sind eben jetzt dazu verdammt, auf den westlichen Meeren umherzufahren. Vielleicht ist es von der Vorsehung so eingerichtet, daß Sie an Bord kommen sollten, und vielleicht machen Sie diese Reise erst glaubwürdig. Aber wir haben keine Kleider für Sie, keinen Puder und keinen Lippenstift und was sonst junge Damen alles zum Leben brauchen. Sie sind in einer absolut männlichen Umgebung, und solange wir nicht in die südlichen Teile des Stillen Ozeans kommen, wüßte ich nicht, was wir für Sie tun könnten.« Er sah Mills an und kniff die Augen zusammen. »Sie können höchstens mit ihm zurückfahren, aber auch die Aussicht ist gering.«

 

Penelope wunderte sich über diese geheimnisvolle Andeutung. Sie konnte ja nicht ahnen, daß Mr. Orford an einen Tanker gedacht hatte, der von ihm gechartert war, um seiner Jacht auf hoher See Betriebsstoff zu liefern.

 

»Und nun, mein liebes Fräulein, erzählen Sie mir einmal, was alles passiert ist und wie Sie hierherkamen.« Er legte väterlich seinen Arm um ihre Schultern und nahm sie mit zu den Deckstühlen.

 

»Es tut mir leid, daß ich Ihrem Wunsch nicht nachkommen kann. Die Sache ist zu ernst, als daß ich sie irgend jemandem erzählen könnte, ohne auch der Polizei davon Mitteilung zu machen.«

 

»War es so schlimm?« fragte er und schaute sie prüfend an. »Sie haben sich jetzt auch über Mrs. Dorban zu beklagen, wie mir Bobby erzählt. Früher haben Sie sich doch über Mr. Dorban beschwert, weil er unverschämt zu Ihnen wurde. Aber das steht wohl in keinem Zusammenhang. Und Mrs. Dorban wollte Sie töten? Sie brauchen es mir nicht zu bestätigen, ich sehe es. Ich hätte niemals gedacht, daß das möglich wäre. Die Leute gehen gewöhnlich nicht so weit, höchstens einer unter zehntausend ist zum Mörder veranlagt. Und Sie haben nun gerade das Unglück gehabt, mit einem solchen zusammenzukommen. Erzählen Sie mir doch einmal, wie das alles gekommen ist.«

 

»Ich habe schon zuviel gesagt. Ich möchte nicht in einem Skandalprozeß vor Gericht erscheinen; auch wäre es sehr schwer zu beweisen.«

 

Mr. Orford nickte.

 

»Wenn ich Mrs. Dorban richtig beurteile, so hat sie jetzt schon vor der Polizei beschworen, daß Sie versucht hätten, sie zu ermorden. Das ist ihre Art. Hätte ich nur vorher gewußt, daß Sie im Hause der Dorbans wohnten!«

 

»Welchen Unterschied hätte das denn gemacht?«

 

Aber Mr. Orford war ebensowenig bereit, sich frei auszusprechen, wie Penelope.

 

Sie ging in ihre Kabine zurück und fand den netten Matrosen damit beschäftigt, ihr Bett zu machen. Er schien Übung darin zu besitzen. Sie beobachtete ihn, ohne daß er es wußte.

 

»Ich danke Ihnen auch schön«, sagte sie dann.

 

Nur für einen kurzen Augenblick war er ein wenig verwirrt.

 

»Ihre Kabine ist jetzt wieder in Ordnung, Miss Pitt.«

 

»Wie heißen Sie eigentlich?« gab Penelope zurück.

 

»Wie ich heiße?« wiederholte er. »Wenn ich die Wahrheit sagen soll, habe ich darüber überhaupt noch nicht nachgedacht. Wie würde Ihnen John gefallen?«

 

»Gut, ich werde Sie John nennen«, sagte sie vergnügt.

 

Er blieb an der Tür stehen.

 

»Wünschen Sie noch irgend etwas? Es tut mir leid, daß wir keine Blumen an Bord haben. Aber wenn Sie etwas Grünes in der Kabine haben wollen – ein wenig Petersilie haben wir im Kühlschrank. Vielleicht könnten wir Ihnen davon etwas ins Zimmer stellen –«

 

»Danke, ich bin auch ohne Grün zufrieden.« Penelope war ein wenig ärgerlich über die vertrauliche Art, mit der er sie behandelte. Aber gleich nachdem er gegangen war, schämte sie sich schon wieder darüber.

 

Zu ihrem größten Erstaunen wurde ihr die Mittagsmahlzeit in ihrer Kabine serviert. Offensichtlich wollten die anderen Passagiere nicht mit ihr zusammen speisen. John hatte allerdings eine andere Erklärung dafür.

 

»Man glaubt, es wäre Ihnen unangenehm, die einzige Dame bei Tisch zu sein. Nachher werden Sie übrigens den Captain kennenlernen. Er ist ein sehr netter Herr; er hat nur keinen Sinn für Humor, obwohl er aus Schottland stammt!«

 

Sie staunte, wie zwanglos er sich mit ihr unterhielt. Früher hatte sie immer den Eindruck gehabt, daß ein Schiffskapitän eine Respektsperson sei, von der alle Matrosen und Seeleute nur mit größter Hochachtung sprächen. Daher war sie doppelt verwundert, als sie Captain Willit sah. Er war ein streng aussehender älterer Herr, der sie unter buschigen weißen Augenbrauen hervor musterte und die erste beste Gelegenheit wahrnahm, sich wieder zu empfehlen.

 

Sie entdeckte, daß die ›Polyantha‹ ein Motorschiff mit verhältnismäßig kleiner Besatzung war. Verschiedene Einrichtungen und Gebräuche an Bord konnte sie nicht verstehen. Vor allem war sie über das Verhalten der Passagiere und Offiziere ihrem Steward gegenüber erstaunt. Niemand sprach mit ihm, und wenn er, wie es häufig geschah, irgendeine zufällige scherzhafte Bemerkung machte, ignorierten sie ihn. Trotzdem schien ihm die Atmosphäre, in der er sich bewegte, gut zu gefallen. Das zweite merkwürdige Mitglied der Besatzung war ein Matrose, der anscheinend nichts anderes zu tun hatte, als auf dem Vorderdeck zu sitzen und Zigarren zu rauchen. Es war ein breitschulteriger Mann mit einem kugelrunden Kopf und einem brutal wirkenden Gesicht. Seine kurzgeschorenen Haare, seine Stupsnase und sein« dicker Hals gaben ihm das Aussehen eines Profiboxers. Allein seine Trägheit hätte ihn auffällig erscheinen lassen, aber er erregte noch mehr Aufsehen dadurch, daß er einen Ledergürtel trug, an dem zwei schwere Pistolentaschen hingen, eine an jeder Hüfte.

 

Er schaute auf, als sich Penelope über die Reling lehnte und ihn beobachtete. Er verzog das Gesicht zu einer sonderbaren Grimasse, die ein Lächeln sein sollte, ihn aber nur noch abstoßender machte. Dann winkte er ihr zu ihrer größten Entrüstung zu. Sie dachte zuerst, daß diese Geste nicht ihr gelte und nur zufällig gewesen sei, aber als er ihr eine Kußhand zuwarf, wandte sie sich empört ab.

 

»Was gibt es denn?«

 

Der Steward richtete diese Frage an sie.

 

»Der Matrose dort –«, sagte sie ein wenig unzusammenhängend. »Er – er, ach, es war nichts. Matrosen sind wahrscheinlich so.« Sie versuchte zu lächeln, obschon sie sich ärgerte, aber er ließ sich nicht täuschen.

 

»Hat er Sie beleidigt?«

 

»Er war ein wenig frech – er hat mir widerlicherweise eine Kußhand zugeworfen. Ich glaube, er dachte –«

 

Bevor sie den Satz beenden konnte, hatte er sich umgewandt und war die Treppe zum Vorderdeck hinuntergeeilt. Sie sah, wie er schnell auf den großen Mann zuging. Sie sprachen heftig miteinander, dann drehte sich John um und stieg langsam die Treppe wieder herauf. Sein Gesicht war bleich.

 

»Er wird Sie nicht mehr belästigen«, sagte er nur kurz und ging an ihr vorüber.

 

Kapitel 9

 

9

 

Der Matrose, der den ganzen Tag nichts tat, hieß Hollin, wie sie später von Bobby Mills erfuhr. Der junge Mann schien aber nicht gern über ihn und seine Untätigkeit zu sprechen.

 

»Warum trägt er eigentlich die Pistolen?«

 

»Das weiß ich auch nicht«, erwiderte Bobby höflich.

 

Jeden Abend erschien Hollin auf dem oberen Deck. Er hatte eine Zigarre im Mundwinkel und die Hände in den Hosentaschen. So ging er nach hinten und stieg dort die Treppe hinunter.

 

Keiner der Passagiere kümmerte sich auch nur im geringsten um ihn. Der alte Captain, der neben Mr. Orfords Stuhl stand, schaute ihm nach, als er vorbeikam, aber er sagte nichts. Sonst herrschte schärfste Disziplin an Bord. Der Steuermann grüßte militärisch, und alle Matrosen liefen, sobald die Pfeife des wachhabenden Offiziers ertönte. Nur der Steward John und der merkwürdige Hollin schienen sich nicht im mindesten darum zu kümmern. Aber John tat nichts, was man irgendwie als eine Beleidigung oder Ungezogenheit hätte auslegen können. Er mischte sich nur immer gern in die Unterhaltung.

 

Mr. Orford brachte den größten Teil des Tages schlafend in einem der großen, bequemen Deckstühle zu. Ein großer Sonnenschirm war über ihm aufgespannt. Mr. Stamford Mills dagegen beschäftigte sich viel in seiner eigenen Kabine.

 

Orford und Mills waren anscheinend die einzigen Passagiere an Bord der Jacht. Die Besatzung setzte sich aus dem Ersten, Zweiten und Dritten Offizier, dem Chefingenieur und seinem Assistenten, dem Zahlmeister, dem Funker, ungefähr zwölf Matrosen und dem Captain zusammen.

 

Die Ruhe an Bord wurde nur gestört, wenn der Funker einen Funkspruch brachte. Dann kamen schnell alle zusammen, und auch Mr. Orford wachte auf und erhob sich.

 

Einmal wurde nach einer solchen Konferenz der Kurs der ›Polyantha‹ geändert, und das Schiff, das bisher nach Westen gehalten hatte, wandte sich scharf nach Süden. Sie fuhren jetzt auch mit viel größerer Geschwindigkeit, wie Penelope wahrnahm. Der ganze Schiffsrumpf zitterte, und Sturzseen kamen über den scharfgeschnittenen Bug. Dann wurde plötzlich ohne ersichtlichen Grund Kurs nach Osten genommen, dann wieder nach Süden.

 

Früh am Nachmittag wurde ein Matrose in den Mastkorb geschickt, der den ganzen Horizont mit einem scharfen Fernglas absuchen mußte. Am Abend waren alle verdrießlich und schweigsam. Bobby Stamford Mills beantwortete Penelopes Fragen nur kurz. Mr. Orford saß stumm da und hatte die Hände über dem Bauch gefaltet.

 

Der einzige, der ein fröhliches Gesicht machte, war der Steward John. Er servierte ihr das Abendbrot und brachte danach noch Kaffee an Deck. Als sie sich zurückzog, fand sie ihn, wie er auf dem Deck kauerte, den Oberkörper an die Kommandobrücke gelehnt. Als sie erschien, erhob er sich.

 

»Kann ich Ihnen noch etwas bringen, bevor Sie sich zur Ruhe legen, Miss Pitt?«

 

»Nein, ich danke Ihnen, John.«

 

»Ich habe Ihnen etwas Mineralwasser hineingestellt. Und denken Sie daran, daß Sie Ihre Tür abschließen können. Wann wünschen Sie morgen früh den Tee? Ich fürchte allerdings, Sie müssen morgen zur Tür kommen und mir das Tablett abnehmen. Ich bin zwar ein vorzüglicher Steward, aber als Kammermädchen etwas schüchtern. Wie sind denn die anderen Passagiere gestimmt?«

 

»Sie sind sehr schweigsam. John, können Sie mir nicht sagen, wohin wir fahren?«

 

»Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Vielleicht durch den Panamakanal in die Südsee.«

 

»Wem gehört denn dieses Schiff?«

 

»Ich vergaß den Namen des Eigentümers – es ist ein französischer Herzog. Aber der Herr, der die Jacht gechartert hat, ist der edle Xenocrates.«

 

»Mr. Orford?« fragte sie erstaunt.

 

»Ja.«

 

»Kennen Sie ihn näher?«

 

»Ich kannte ihn nicht, bis ich ihm hier an Bord begegnete. Sie wollen mich noch etwas fragen? Wahrscheinlich möchten Sie erfahren, warum sich ein Mann mit meinen überragenden Talenten und meiner Unterhaltungsgabe in einer so untergeordneten Stellung auf Mr. Orfords Jacht befindet?«

 

»Ja, das kommt mir allerdings sonderbar vor.«

 

»Das ist es auch. Sie wären eine blasierte alte Jungfer, wenn Sie anders darüber dächten. Ich weiß nur nicht recht, wie ich Ihnen meinen Posten hier erklären soll. Aber nehmen Sie einmal an, ich sei ein armer schottischer Student, der sich während der Ferien auf See das nötige Geld verdient, um seine Kolleggelder zu bezahlen. Klingt das nicht ganz glaubhaft?«

 

»Nein, ganz und gar nicht«, erwiderte sie. Aber es schien ihr, als hätte sie sich jetzt lange genug mit ihm unterhalten. Sie sagte ihm gute Nacht und verschwand in ihrer Kabine.

 

Er hörte noch, wie sie zuschloß, als er zum Wellendeck hinunterging. Eine dunkle Gestalt, die im Schatten auf einem Poller gesessen hatte, erhob sich rasch.

 

»Steck die Pistole weg, alter Freund«, sagte John mürrisch. »Mach, daß du zu Bett kommst. Warum hast du dich noch nicht hingelegt?«

 

»Weil ich nicht eher zu Bett gehe, als bis du dich auch gelegt hast«, erwiderte der andere mit rauher und heiserer Stimme. »Hier ist keiner mehr als der andere. Ich kenne meine Stellung hier genau. Ich habe mir die Sache überlegt, und ich werde dir einmal sagen, wie es noch kommt. Die Sache kostet den alten Kerl zwanzigtausend Pfund, keinen Penny weniger. Ich will zwanzigtausend ausgezahlt haben, und ihr sollt mich in Südamerika an Land setzen.«

 

John nahm ein Etui aus seiner Hosentasche und zündete sich eine Zigarette an.

 

»Du bist verrückt!« sagte er dann kurz und wandte sich zum Gehen.

 

»Sag mal, Kollege, wer ist denn eigentlich diese Schürze hier?«

 

»Was willst du wissen?« John drehte sich plötzlich wieder zu ihm um.

 

»Ich meine dies Weib da oben in der Kabine. Ich habe gesehen, wie sie vorige Nacht an Bord kam. Wer ist sie denn? Ein hübsches Mädchen, das muß ich sagen!«

 

»Hollin«, sagte John ruhig, »willst du wirklich nach Südamerika? Wenn das der Fall ist, sprichst du nie wieder über diese Dame. Hör gut zu. Wenn du ihr noch einmal eine Kußhand zuwirfst, dann wirst du mir trotz deiner beiden Pistolen nicht entkommen. Du wirst nicht einmal wissen, woher die Kugel pfeift, die dir den Schädel einschlägt! Denk daran!«

 

»Wozu machst du denn einen solchen Krach mit mir? Habe ich mich nicht die ganze Zeit wie ein Gentleman benommen? Habe ich nicht Crawley kaltgemacht, als er dich fassen wollte?«

 

»Du bist ein Lügner«, erwiderte John gleichmütig. »Es war überhaupt kein Grund vorhanden, Crawley niederzuschlagen.«

 

Penelopes Kabine lag in gleicher Höhe mit dem Boden des Vordecks, und durch zwei Luken konnte man das Wellendeck überschauen, wo die beiden miteinander sprachen. Die Fenster waren offen, und sie stand dort, stützte die Ellenbogen auf und schaute auf das blaugrüne Meer hinaus, das hell vom Mond beschienen wurde. Sie hatte die Stimmen gehört, und plötzlich vernahm sie deutlich die Worte:

 

»Es war überhaupt kein Grund vorhanden, Crawley niederzuschlagen.«

 

Wer mochte dieser unglückliche Mann sein? Und was hatten diese beiden Menschen, die so ganz verschieden waren, miteinander zu schaffen?

 

Kurz darauf war alles ruhig, und nachdem sie sich noch einmal vergewissert hatte, daß ihre Tür fest verschlossen war, ging sie zu Bett. Sie schlief gleich ein.

 

In der Nacht wachte sie plötzlich auf. Das Schiff lag so schräg, daß sie aus der Koje gefallen wäre, wenn das silberne Gitter sie nicht daran gehindert hätte. Entsetzt stand sie auf, aber gleich darauf lag die ›Polyantha‹ wieder richtig. Sie schob die Vorhänge zurück, die die Fenster bedeckten, und blickte hinaus. Fern am Horizont sah sie einen Lichtschimmer. Während sie ihn noch betrachtete, hörte sie ein Rasseln und Klingeln. Sie war zuerst darüber bestürzt, bis sie sich daran erinnerte, daß sich die Kommandobrücke über ihrer Kabine befand und daß sie den Schiffstelegrafen gehört hatte.

 

Sie stieß das Fenster auf. Die Stimme des Captains drang zu ihr.

 

»Dort ist das Schiff – wir haben seine Signale seit zwei Stunden aufgefangen. Glauben Sie, daß man uns drüben gesehen hat?«

 

»Nein, der Scheinwerfer hat uns nicht erreicht. Wieviel Uhr ist es?« fragte Mr. Orford.

 

»Fast zwei. Wir haben noch anderthalb Stunden bis Tagesanbruch, und wir fahren jetzt sechsundzwanzig Knoten die Stunde. Wenn sich der Captain drüben nicht in den Kopf setzt, uns zu folgen, werden wir bei Morgengrauen außer Sicht sein.«

 

Ein tiefes Schweigen folgte, und Penelope nahm an, daß die Leute oben ins Kartenzimmer gegangen waren.

 

Aber plötzlich ertönte Mr. Orfords Stimme.

 

»Was war das?«

 

»Ein Flugzeug«, entgegnete der andere kurz. »Ich habe es schon vor einer Stunde gehört. Sind alle Lichter an Bord gelöscht, Simson?«

 

»Die Hauptlichtleitung ist abgeschaltet.«

 

»Sind auch die Navigationslichter aus?«

 

»Jawohl, Sir.«

 

»Schauen Sie auf beiden Decks nach, ob jemand von der Wache raucht.« Dann sprach er plötzlich mit veränderter Stimme: »Maschinenraum – sind Sie da, Ferly? Ist es möglich, daß irgendwelche Funken aus den Kaminen kommen? Ergreifen Sie alle nötigen Maßregeln, um das zu verhüten.«

 

Plötzlich hörte das Geräusch der Schiffsmaschinen auf, und Penelope vernahm einen Laut, ähnlich dem Summen einer Kreissäge, die Hartholz schneidet. Allmählich verstummte dieses Surren wieder, und nach einer weiteren langen Pause hörte sie Schritte über ihrem Kopf.

 

»Dieser Funkspruch der Admiralität ist soeben aufgefangen worden, Sir«, sagte jemand.

 

»Wie lautet er?« fragte der Captain brummig.

 

Der Mann wußte den Inhalt anscheinend auswendig, denn auf der Brücke waren alle Lichter gelöscht.

 

»An alle Schiffe, die über den Ozean fahren, vom Kap Dungeness bis Kap Land’s End. Bitte berichten Sie sofort durch Funk an die Admiralität, ob Sie das Wrack eines Flugzeuges gesichtet haben.«

 

»Dieser verdammte Hollin und seine Kappe! Ich wußte doch, daß dieses Schwein uns alles verderben würde!«

 

Penelope ging zurück und setzte sich auf die Bettkante. Nun wußte sie, warum die Maschinen angehalten hatten. Das Schiff hatte die Richtung wieder gewechselt. Wovor fürchteten sich diese Leute? Warum mußten alle Lichter gelöscht werden?

 

Die ›Polyantha‹ hatte ein Geheimnis – und dieses Geheimnis war mit Hollin und seiner Mütze verknüpft. Sie schüttelte den Kopf und ging dann zu Bett. Als sie gerade wieder am Einschlafen war, rasselte und klingelte oben der Maschinentelegraf aufs neue, und sie merkte, daß das Schiff mit höchster Geschwindigkeit weiterfuhr.

 

Dann schlief sie ein und erwachte erst wieder, als es am nächsten Morgen an ihre Tür klopfte.

 

»Würden Sie heute Kondensmilch nehmen?« fragte Johns Stimme. »Unserer Kuh ist nämlich nicht ganz wohl.«

 

Kapitel 4

 

4

 

Am nächsten Morgen stand sie sehr früh auf und ging in den Garten, um sich noch einmal alles genau zu überlegen.

 

Es war sechs Uhr. Der Nebel hatte sich verteilt, und man konnte weithin über die Bucht von Borcombe sehen. Das Wasser spiegelte in allen Farben die Strahlen der Sonne wider.

 

Sie saß auf einer rauhen Steinbank und atmete die milde und doch so kräftige Seeluft ein. Das herrliche Bild, das sich ihr bot, machte einen tiefen Eindruck auf sie. Das rote Gestein der Devonshire-Klippen erglühte, weiße Sanddünen und reiche grüne Felder, die unmittelbar an den Klippen begannen, dehnten sich vor ihr aus. Ihre Blicke verfolgten den langen Weg, der sich allmählich in der Landschaft verlor.

 

Sie war versunken in diese Schönheit und vergaß all ihre Schwierigkeiten und ihre Sorgen. Hinter den Fliederbüschen zog sich die weite Wildnis der Fichten und des Ginsters hin. Links erhob sich der Kirchturm von St. Maria. Die Spitze ragte gerade noch über die Häuser oben auf den Klippen. Sie schaute auf den steilen, gewundenen Pfad, der zu dem Hause führte. Von ihrem Sitzplatz aus konnte sie das Tor nicht sehen, aber sie hörte, daß die Klinke herabgedrückt wurde. Da die Luft so klar war, vernahm sie das Geräusch so deutlich, als wäre das Tor dicht neben ihr. Sie schaute auf und war neugierig, welcher Besuch wohl zu so früher Stunde kommen könnte.

 

Zuerst erkannte sie den Herrn in dem grauen Anzug und dem Strohhut nicht wieder. Offensichtlich hatte er sie nicht bemerkt, denn er näherte sich dem Haus mit einer gewissen Vorsicht, als ob er daran zweifelte, hier willkommen zu sein.

 

Er vermied die kiesbedeckten Wege und ging auf dem Rasen, der die Blumenbeete umsäumte. Schritt für Schritt kam er näher und schaute gespannt auf die oberen Fenster. Plötzlich sah er sie, stand einen Augenblick still und trat dann auf sie zu. »Guten Morgen, mein Fräulein«, sagte er mit leiser Stimme. Offenbar wünschte er nicht, daß andere Leute seine Worte hören sollten.

 

»Guten Morgen.«

 

Mr. Whiplow schaute sich wieder nach dem Haus um und schnitt eine Grimasse.

 

»Ist Mrs. Dorban zu Hause? Sie haben ihr wahrscheinlich gesagt, daß Sie mich getroffen haben? An Bord des Schiffs haben Sie mich aber wohl nicht gesehen? Ich möchte fast darauf wetten!«

 

»Mrs. Dorban ist nach London gefahren. Möchten Sie sie gern sehen?« gab Penelope kühl zurück.

 

»Nun, ich kann auch mit Arthur verhandeln. Er ist ein verständiger junger Mann. Aber sie …!« Er blickte Penelope an, und seine ausdruckslosen Augen suchten in ihren Zügen zu lesen. »Hat sie Ihnen nichts gesagt?« Er zeigte mit dem Daumen nach dem Hause. »Reden Sie mir nur nicht vor, daß sie Sie nicht nach mir ausgefragt habe. Sonderbarer Zufall! Zeigt aber nur, wie klein die Welt ist. – Aber gehen Sie doch nicht fort!«

 

»Ich will einen der Dienstboten hinaufschicken, daß er Mr. Dorban ruft«, begann sie eben, als Arthur Dorban plötzlich in der Haustür erschien.

 

Er war vollständig angekleidet und trug ein Gewehr unter dem Arm. Penelope machte sich keine Gedanken darüber, daß er bewaffnet war, denn viele Kaninchen trieben im Garten ihr Unwesen, und manchmal brachte er den ganzen Vormittag damit zu, sie zu jagen. Aber Mr. Whiplow schien anderer Meinung darüber zu sein – für ihn hatte die Waffe eine besondere Bedeutung. In seinem Gesicht zeigten sich Angst und Entsetzen, und er suchte schnell Deckung hinter Penelope. Aufgeregt sprach er über ihre Schulter.

 

»Machen Sie doch keine solchen Geschichten, Arthur! Legen Sie sofort das Gewehr weg!«

 

Mr. Dorban lachte, so daß man seine weißen Zähne sehen konnte. Mit einem Griff hatte er die Waffe geöffnet und zeigte sie ihm.

 

»Ist nicht geladen! Gehen Sie von der Dame fort, Sie beunruhigen sie!«

 

Er stellte die Flinte an die Mauer und ging auf ihn zu. Whiplows Augen folgten jeder seiner Bewegungen.

 

»Sie sind auf demselben Schiff wie meine Frau herübergekommen. Wo waren Sie?«

 

»Auf dem Land. Ich wollte eigentlich nicht kommen, Slic – Arthur, wollte ich sagen –, aber Amerika war mir über.«

 

»Sie hätten schreiben sollen. Wir hätten das beste Fremdenzimmer für Sie in Ordnung gebracht und die Dorfkapelle bestellt, Sie am Bahnhof zu empfangen.«

 

Hinter Slicos höflicher Ironie lag eine geheime Drohung.

 

»Sie kennen Miss Pitt ja schon – in Toronto wollten Sie Eindruck auf sie machen. Sie sind doch ein richtiger Mädchenjäger!«

 

Whiplow war verlegen und antwortete nicht.

 

»Sie werden uns entschuldigen?« wandte sich Arthur mit hochgezogenen Augenbrauen an Penelope.

 

Sie nickte langsam, denn sie fühlte, daß sie hier überflüssig war. Als die beiden ins Haus gegangen waren, setzte sie sich wieder auf ihre Bank und dachte über alles nach. »Wenn Whiplow nicht schweigt …« Sie erinnerte sich wieder an die Worte, die Mrs. Dorban damals im Schlaf gesprochen hatte. Worüber sollte er schweigen? Hatte Arthur Dorban irgendein Verbrechen zu verheimlichen? Das war doch unwahrscheinlich. Er war wohlbekannt in dem Dorf, und die Polizeibeamten, die auf ihren Patrouillen hier vorbeikamen, unterhielten sich oft lange mit ihm. Er machte nicht den geringsten Versuch, sich zu verbergen.

 

Sie ärgerte sich über ihre Verdächtigungen. Der Besuch Mr. Whiplows würde sich wahrscheinlich sehr einfach erklären lassen. Alle Menschen hatten irgend etwas zu verbergen – es mußten ja nicht notwendigerweise immer Verbrechen sein. Wie leicht kam man in unangenehme Situationen, die man nicht gern der Öffentlichkeit preisgeben wollte! Irgendwie war ihr klar, daß El Slicos schlechter Ruf nichts mit Mr. Whiplows Schweigen zu tun hatte. Es mußte sich um etwas anderes handeln.

 

Seufzend erhob sie sich. Draußen auf dem Meer sah sie die Umrisse eines dunklen Schiffes, das in weiter Ferne vorüberzufahren schien. Plötzlich hörte sie ein Geräusch und wandte sich um. Der Gärtner, der einzige Engländer unter den Angestellten, stand vor ihr.

 

»Morgen, mein Fräulein. Na, schauen Sie nach der ›Polyantha‹ aus?«

 

»Meinen Sie das Schiff dort? Kennen Sie es?«

 

»Ja, es lag gestern in der Tor-Bay, dort habe ich es gesehen. Es gehört einem Franzosen, heißt es. In der Nähe von Dartmoor hat es Vorräte an Bord genommen.«

 

»Ist es ein Passagierschiff?«

 

Der Gärtner grinste. »Es ist eine Jacht.«

 

»Was, eine Jacht? Dafür ist es aber sehr groß.«

 

Der Gärtner wollte nicht zugeben, daß ein fremdes Schiff größer und besser sein könne als ein englisches, und erzählte, daß es noch viel größere Jachten gebe.

 

Penelope entfernte sich von dem geschwätzigen Mann und überließ ihn seiner Tätigkeit.

 

Arthur war mit seinem Besuch in das Wohnzimmer gegangen. Sie konnte seine Stimme deutlich hören. Da sie nichts Besseres zu tun wußte, ging sie in das Arbeitszimmer. Später sah sie die beiden Männer an den Fenstern vorbeigehen. Arthur entdeckte sie sofort an ihrem Tisch und führte seinen Begleiter außer Sicht und Hörweite.

 

»Whiplow«, sagte er nun schon zum drittenmal, »Sie sind der erste Mensch, der mich hereingelegt hat.«

 

»Das haben Sie mir vorher auch schon erzählt«, brummte Whiplow. »Was meinen Sie eigentlich damit, daß ich Sie hintergangen haben soll, Arthur? Ich kann es in Amerika einfach nicht mehr aushalten. Es ist zu langweilig für einen Mann wie mich, der an ein lustiges Leben gewöhnt ist. Mein Gott, Sie haben keine Ahnung, wie entsetzlich langweilig die Menschen drüben sind. Wenn Sie in einer Pension beim Frühstück etwas über Butter sagen, dann sind gleich mindestens drei Leute am Tisch, die einem den ganzen Morgen einen Vortrag über Butter halten. Das geht mir auf die Nerven!«

 

»Das scheint mir aber keine genügende Entschuldigung dafür zu sein, daß Sie Ihr feierliches Versprechen einfach brechen«, fuhr ihn Mr. Dorban an, und in seinen brauen Augen blitzte es unheimlich auf. »Sie Lauscher, Sie verdammter, vergnügungssüchtiger Dieb! Sie sind nur zurückgekommen, weil Sie in Mexiko Ihr ganzes Geld verspielt haben! Und Sie sollten doch mindestens zwei Jahre damit auskommen. Jetzt wollen Sie erneut Geld aus mir herauspressen. Aber ich habe nichts übrig, Whip. Ich werde Ihnen genug geben, daß Sie bescheiden leben können; Sie werden wöchentlich eine bestimmte Summe erhalten. Wenn Sie irgendwie unangenehm werden wollen und mir mit Anzeige drohen, werde ich Ihnen den Mund schon stopfen. Haben Sie mich verstanden?«

 

Mr. Whiplow war unruhig. »Ich muß doch auch leben können, nicht wahr, Arthur?«

 

»Ich hoffe, daß Sie leben können«, erwiderte Arthur Dorban bedeutsam. Mr. Whiplow wurde bleich.

 

»Wir wollen die Sache in aller Ruhe besprechen«, fuhr Dorban fort. »Ich muß das Mädchen nach London schicken. Gehen Sie ins Dorf und geben Sie ein Telegramm an Cynthia auf.«

 

Um elf Uhr kam die Rückantwort von Mrs. Dorban: »Sendet Penelope mit Mittagszug zur Stadt. Werde sie am Bahnhof; Paddington abholen.«

 

Penelope war glücklich, fortfahren zu können, und sie verfehlte Cynthia mit voller Absicht.

 

Kapitel 5

 

5

 

Mr. James Xenocrates Orford gab ohne weiteres zu, daß es heiß war. Bisher hatte er nur immer verächtlich gesagt: »Wie, das soll heiß sein? Da sollten Sie erst mal nach New York kommen – da muß man in allen Büros Ventilatoren laufen lassen, um überhaupt leben zu können zu dieser Zeit! Zu Hause sagen wir erst, es ist heiß, wenn das Quecksilber oben zur Röhre herauskommt und die Bäume hochklettert. In New York kann es heiß werden, ja. Das ist etwas ganz anderes, aber schließlich gewöhnt man sich auch daran. Aber hier heiß? In London ist es noch gar nicht wieder heiß gewesen seit dem großen Feuer – und es ist schon sechshundert Jahre her, daß die ganze Stadt abbrannte!«

 

Und doch durfte man ruhig glauben, daß ihm die Hitze sehr zusetzte. Er war über einen Meter achtzig groß, aber in einiger Entfernung sah er kleiner aus, was auf seinen ungeheuren Umfang zurückzuführen war. Sein Gesicht war groß und rot, und im Laufe der Jahre hatten sich viele Falten darin gebildet. Seine klugen, blauen Augen schauten aus diesen Fettpolstern vergnügt und lustig lächelnd hervor. Er hatte ein Doppelkinn. Trotz seiner fünfundfünfzig Jahre hatte sich noch kein Grau in seine dichten schwarzen Haare gemischt. Er war geschmackvoll und sorgfältig gekleidet, trug stets einen tadellos sitzenden Anzug und einen hohen steifen Kragen, dazu eine breite schwarze Krawatte, in der eine große, kostbare Perlennadel glänzte. Er trug niemals eine Weste oder Hosenträger, sondern nur einen schwarzen Ledergürtel mit einer hübschen goldenen Schnalle.

 

Mr. Orfords Büros lagen im vierten Stock eines Gebäudes, das an den Hyde Park grenzte, und von dort aus schaute er vergnügt auf die Welt hinunter, auf die knospenden Bäume, den grünen Rasen, die vielen Blüten der Rhododendren. Wenn er manchmal noch spät arbeitete, drangen die Töne der Kapelle zu ihm herüber, die im Park konzertierte, vor allem die tiefen Klänge des Bombardons. Dann zog er zuweilen seinen Stuhl ans offene Fenster, legte die Hände auf den Gürtel und schaute hinaus, bis die Schatten tiefer und länger wurden, die Laternen aufflammten und die Autos wie große Leuchtkäfer auf den Parkstraßen umherschwirrten.

 

Auf dem Schild am Hauseingang stand nur sein Name: James Orford. Die Art seiner Tätigkeit war nicht näher bezeichnet. Trotzdem beschäftigte er einen verhältnismäßig großen Stab von Angestellten, Sekretären, Stenotypistinnen und Agenten innerhalb und außerhalb seines teuren Büros.

 

Die Inhaber der anderen Geschäftsräume in dem Hause, deren Beruf aber genau bekannt war, nannten ihn nur den ›dicken Amerikaner‹ Sie hatten ihn gern, denn er war lustig und liebenswürdig. Niemand drang näher in seine Verhältnisse ein, und da er Amerikaner war, zeigte man sich etwas zurückhaltender als sonst.

 

Mr. Orford hatte sich in England das Teetrinken angewöhnt.

 

»Setzen Sie das Tablett nur dorthin«, sagte er und zeigte mit seinem dicken Finger auf einen kleinen Tisch in der Nähe des Fensters.

 

Eine seiner Stenotypistinnen hatte ihm Tee gebracht. Aber nicht Tee, wie man ihn in England trinkt, sondern jenes starke Getränk, das heiß auf große Eisstücke gegossen und in Gläsern serviert wird.

 

Keiner von seinen sieben Angestellten hatte übrigens die geringste Ahnung, womit sich Mr. Orford eigentlich beschäftigte. Man wußte nur, daß er sich gern als ›Organisator‹ bezeichnete. Aber ganz gewiß gehörte er nicht zu jenen Leuten, die einem den Gebrauch von Kartotheken, Patentschnellheftern und dergleichen Kram beibringen oder die sich engagieren lassen, um einen Betrieb zu ›rationalisieren‹, und die dann das ganze Büro rebellisch machen.

 

Zuerst dachten alle, sein Geschäft hinge irgendwie mit Schiffen zusammen. In einem großen Zimmer stand nämlich ein gewaltiger Tisch, auf dem eine Weltkarte ausgebreitet war. Hier wurden jeden Tag kleine Schiffsmodelle hin und hergeschoben. Ein Angestellter, der von Mr. Orford besonders geschult wurde, war für die Ordnung auf dem Tisch verantwortlich. Tausende kleiner Schiffe bevölkerten diese Miniaturwelt. Sie fuhren nach allen Himmelsrichtungen, nach Norden, Süden, Osten, Westen. Jede Nachricht über die Position der Schiffe wurde zweimal am Tage in Mr. Orfords Büro bekanntgegeben, und mindestens einmal am Tage erschien James selbst in dem Raum und überschaute die Situation.

 

»Was hat denn die ›Nippon Muru‹ dort zu tun, Stanger, wie? Sie ist doch näher an Yokohama als an Shanghai. Und dieses Schiff der Cunard-Linie ist ja vollständig außer Kurs, der legt doch nicht an den Azoren an! Den haben Sie wieder einmal mit einem Schiff der Union-Castle-Linie verwechselt!«

 

Er schimpfte heftig, aber er schaute doch ganz liebenswürdig drein.

 

Ein junges Mädchen mußte alle Eisenbahnverbindungen in Europa kennen. Sie wurde auch täglich von ihm getestet.

 

»Jemand fährt nach Como, Basel, Genua, Belgrad, Wien. Er will auf der Ausreise einen Geschäftsfreund in Valorbe eine Stunde lang sprechen, einen anderen in Luzern. Hat er dazu Zeit, ohne seinen Anschluß zu versäumen, wie? Sie meinen, er hat Zeit dazu? Da irren Sie sich aber sehr. Der Aufenthalt in Luzern verdirbt ihm die ganze Reise. Sie müssen sich besser informieren, Miss Jay. Sie bilden sich natürlich ein, er könnte eine Stunde dadurch sparen, daß er die Bahnverbindung über den Gotthardtunnel benützt – das ist ganz verkehrt, sehen Sie nur im Kursbuch nach.«

 

In seinem Kartenzimmer hingen große Landkarten von Europa, auf denen alle Verkehrswege, Flughäfen, Tankstationen für Schiffe und Kohlendepots eingezeichnet waren. Er konnte aufs Pfund genau angeben, wieviel Gefrierfleisch ein Kapitän zu irgendeiner Zeit in Vigo, Triest, Dakar, Kapstadt oder Colombo kaufen konnte.

 

Er selbst kaufte jedoch weder Fleisch, noch verkaufte er Schiffe. Er handelte auch nicht mit Eisenbahnaktien. Anscheinend organisierte er nichts weiter als die Arbeiten in seinem Büro und sein eigenes, angenehmes Leben.

 

Während er tief in Gedanken vor seinem Schreibtisch saß, brachte ein Angestellter eine Karte herein. Es war keine Visitenkarte, sondern eines jener kleinen Formulare, die Mr. Orford im Wartezimmer für Leute auflegte, die ihn sprechen wollten.

 

Er setze seine schwarzumrandete Brille auf und sah wohlwollend auf den Namen.

 

»Miss Penelope Pitt«, las er. Unten, wo der Besucher eigentlich den Zweck seines Kommens angeben sollte, standen die Worte: ›Auf Empfehlung des Richters Heron in Edmonton.‹

 

»Führen Sie die Dame herein«, sagte er sofort.

 

Penelope trat ein. Sie war ein wenig nervös und unentschlossen, aber ihre Aufregung und ihre Unsicherheit verwandelten sich zu einem großen Erstaunen, als sie Mr. Orford sah.

 

»Nehmen Sie bitte Platz. Sie kommen aus Edmonton? Einen Brief? Lassen Sie mich einmal sehen.« Er nahm das Schreiben aus ihrer Hand, las es schnell durch, legte es dann sorgfältig beiseite und betrachtete sie liebenswürdig.

 

»Nun, was kann ich für Sie tun, Miss Pitt?«

 

Penelope fiel es schwer, ihre Geschichte zu erzählen. Sie erwähnte keinen Namen und sagte nicht einmal, wo sie augenblicklich wohnte.

 

»Ich fühle mich eigentlich wie eine Gefangene«, erklärte sie ihm. »Und ich habe augenblicklich den unangenehmen Eindruck, daß ich einem meiner Gefängniswärter entsprungen bin. Die Dame erwartete mich am Bahnhof, aber ich bin ihr glücklich entwischt.«

 

Mr. Orford faltete die Hände und zog die Augenbrauen hoch. »Ich weiß nicht, wie ich Ihnen helfen kann, Miss Pitt. Sie kommen auch gerade zu einer sehr ungünstigen Zeit, denn ich fahre Sonnabend nach New York. Und dieser Mr. John – ich weiß wohl, daß er nicht so heißt – benimmt sich gerade so wie ein Chef in New York. Die Menschen sind eigentlich überall dieselben.«

 

»Was raten Sie mir, Mr. Orford? Was soll ich tun?«

 

»Ich würde ihn einfach beim Wort nehmen, Miss Pitt, und mir meine Reise nach Kanada auszahlen lassen. Ich liebe diese offenherzigen Menschen nicht. Hat er denn irgendeine Stellung im öffentlichen Leben?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Seine Frau wohnt bei ihm? Das macht die Sache leichter. Für einen alten Freund tue ich natürlich alles, und einer jungen Dame aus Kanada helfe ich besonders gern. Sie glauben wohl kaum, daß ich auch aus diesem Lande stamme. Möglicherweise will dieser Mensch Sie nur bluffen, und wenn er Ihnen das Geld zur Rückreise nach Montreal oder Toronto nicht gibt, dann kommen Sie nur ruhig wieder hierher. Mein Sekretär wird Ihnen, ohne daß Sie sich weiter zu bemühen brauchen, eine Fahrkarte besorgen. Sie brauchen mir nicht zu danken, das ist nicht nötig.« Er machte eine abwehrende Geste. »Wenn ich nicht gerade von einer sehr wichtigen Sache in Anspruch genommen wäre, würde ich Ihnen mehr helfen können, aber augenblicklich kann ich mir selbst nicht helfen vor Arbeit. Ich fürchte, daß ich nicht einmal alles erledigen kann, bevor ich mit der ›Olympic‹ von Southampton abfahre.«

 

»Es ist sehr liebenswürdig von Ihnen, daß Sie etwas für mich tun wollen, Mr. Orford«, entgegnete Penelope froh. »Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll. Ich werde gern wiederkommen und Sie aufsuchen –«

 

»Sie meinen meinen Bürovorsteher«, murmelte Mr. Orford. »Wenn Sie mir den Namen Ihres Chefs und Ihre Adresse geben, bin ich eher in der Lage, etwas zu unternehmen. Aber ich sehe, Sie wollen das nicht tun. Vielleicht haben Sie recht. Manche Menschen brauchen ja keine Hilfe, um aus ihren Schwierigkeiten herauszukommen, und ich glaube, Sie gehören zu denen, die sich selbst helfen können.«

 

Er gab ihr liebenswürdig die Hand. Aber als sie gegangen war, dachte er nicht mehr an sie, denn er war tatsächlich dabei, einen großen Plan durchzuführen, der seine ganze Zeit und alle seine Gedanken in Anspruch nahm. Denn der geringste Irrtum in der Beurteilung der Lage, der kleinste Fehler in der Berechnung der Zeit bedeuteten Leben oder Tod für einen Menschen, an dessen Schicksal er außerordentlich interessiert war.

 

Kapitel 2

 

2

 

Penelope war zum Bahnhof gegangen, um für den nächsten Tag Plätze im Zug nach Quebec zu belegen. Es war ein ganz gewöhnlicher Zug, aber einige Stunden nach seiner Ankunft in Quebec fuhr das Schiff ab. So kam es, daß der Zug für Penelope eine besondere Bedeutung gewann. In ihren Augen war es ein Sonderzug, der allein für sie bestellt war und auf dem vom Schornstein der Lokomotive bis zu den Schlußlichtern des letzten Wagens mit großen Buchstaben geschrieben stand: ›Penelope Pitts Sonderzug nach Europa.‹

 

Der New-York-Expreß war eben eingelaufen, als sie in die Bahnhofshalle trat und zu den Fahrkartenschaltern gehen wollte. Mit geheimer Ehrfurcht betrachtete sie die bevorzugten Menschen, die aus der rätselhaften Märchenstadt kamen und gleichgültig dem Ausgang des Bahnhofs zuschritten, als ob es nichts Besonderes wäre, in dieser Weltstadt gelebt zu haben und von dort hierherreisen zu können.

 

Als der Strom der Leute abebbte und nur noch einzelne Nachzügler zu sehen waren, wandte sie sich mit einem Seufzer den Schaltern zu, um die Fahrkarten zu lösen. Danach ging sie langsam wieder dem Ausgang zu. Plötzlich lächelte sie ein Herr an, und bevor sie sich darüber klar wurde, was sie tat, hatte sie ihn zurück angelächelt. Er war groß und sah gut aus. Als er zum Gruß den Hut lüftete, entdeckte sie, daß er ein wenig kahlköpfig war. Offenbar war auch er eben mit dem Expreß aus New York gekommen, denn ein Lederkoffer und ein leichter Mantel lagen zu seinen Füßen, und er sah etwas bestaubt aus, als ob er eine lange Reise hinter sich hätte.

 

Sie hatte tatsächlich geglaubt, ihn zu kennen, vielleicht war er ihr in Edmonton einmal begegnet. Ihr früherer Chef hatte viele Geschäftsfreunde, und es war nicht ausgeschlossen, daß er zu ihnen gehörte.

 

»Guten Tag – haben wir uns nicht schon irgendwo gesehen? Sie sind doch aus Detroit? Nein? Dann vielleicht Saint Paul? Dort habe ich viele Leute kennengelernt.«

 

»Wir irren uns wohl beide«, sagte sie und wollte weitergehen. Aber der Fremde hatte sich schnell umgesehen, ob nicht irgendwo ein unangenehmer Beamter in der Nähe war, und als er sich vergewissert hatte, daß das nicht der Fall war, hielt er sie an.

 

»Gehen Sie doch nicht fort, mein schönes Fräulein. Sie glauben gar nicht, wie ich mich freue, eine echte Kanadierin zu treffen. Ich bin nämlich Engländer. Können Sie mir nicht sagen, wo man hier eine gute Tasse Tee bekommt?«

 

»Ich bin in Toronto gar nicht bekannt«, erwiderte sie. »Einer der Pförtner wird Ihnen sicher Auskunft geben können.«

 

»Warum haben Sie denn so große Eile?« fragte er vorwurfsvoll. »Sie haben doch zuerst mit mir gesprochen und mich angelächelt.«

 

Sie ging schnell an ihm vorbei, aber er nahm Koffer und Mantel auf, folgte ihr und holte sie ein, bevor sie noch das Bahnhofsgelände verlassen hatte.

 

»Aber warum laufen Sie denn so? Sie sind doch nicht etwa beleidigt, Fräulein? Ich würde wirklich gern Ihre Bekanntschaft machen – mein Name ist übrigens Whiplow.«

 

Sie blieb stehen und starrte ihn an.

 

Whiplow? Das war doch der Name, den Mrs. Dorban im Schlaf erwähnt hatte. Sollte das ein Zufall sein? Der Name war doch recht selten.

 

»Johnny Whiplow. Wie heißen Sie denn?«

 

»Darüber fragen Sie am besten Mrs. Dorban«, entgegnete sie.

 

Ihre Worte machten einen ungeheuren Eindruck auf ihn. Er verfärbte sich und sah jetzt aschgrau aus. Seine Augen traten aus den Höhlen hervor.

 

»Mrs. – Mrs. Dorban?« fragte er erschrocken. »Ja, kennen Sie die Dame denn? Sie ist doch nicht etwa hier?«

 

Penelope benutzte seine Verwirrung, um fortzukommen. Als Mr. Whiplow auf die Straße trat, war sie verschwunden.

 

*

 

Mrs. Dorban gegenüber erwähnte sie nichts von ihrem Erlebnis. Penelope sah sie in den vierundzwanzig Stunden, die sie in Toronto verbrachten, auch nicht länger als eine Viertelstunde. Erst als sie im Zug nach Quebec saßen, sprach sie darüber.

 

»Sind Sie auch sicher, daß er Whiplow hieß? Wie sah er denn aus? Ja, das muß er gewesen sein, dieser Schuft! Er konnte sich niemals beherrschen, wenn er ein hübsches Gesicht sah. Er gehört zu den Männern, die auf den Straßen flanieren, wenn die Ladenmädchen nach Hause gehen. Aber wie kommt er nur ausgerechnet nach Toronto?« Mrs. Dorban biß sich auf die Lippen und blickte düster auf die Felder hinaus, an denen der Zug vorbeieilte. »Ich glaubte, er sei in Südamerika – was macht er nur in Kanada?« Ihre Züge wurden hart, und sie kniff die Augenlider zusammen. »Hat er Ihnen noch irgend etwas gesagt, nachdem er erfuhr, daß Sie mich kannten? War es überhaupt nötig, daß Sie meinen Namen nannten? Aber es wird schon ganz gut gewesen sein. Ich bin sogar froh darüber, sonst hätte ich keine Gewißheit, daß er es wirklich war.« Dann sprach sie in ihrer sprunghaften Art von gleichgültigen Dingen.

 

Als sie an Bord des Schiffes kamen, glaubte Penelope Whiplow zu sehen. Er stand oben auf dem Bootsdeck bei einer Gruppe von Passagieren und lehnte sich an die Reling. Als sie aber noch einmal genauer hinschaute, war er verschwunden, und sie sah ihn auch während der ganzen weiteren Reise nicht.

 

Penelope fühlte ein wenig Heimweh, als sich das Schiff vom Land entfernte, aber sie hatte es bald überwunden. Das Leben an Bord war neu und reizvoll für sie und brachte ihr dauernd Überraschungen. Das Schiff selbst schien ihr so romantisch, und die Zukunft lag so vielversprechend vor ihr, daß ihr schon nach zwei Tagen Kanada und ihr bisheriges Leben nur noch wie ein Traum vorkamen.

 

Cynthia sprach sehr wenig über ihren Mann; sie tat es nur, wenn sie direkt gefragt wurde. Es fiel Penelope auch nicht weiter auf, daß Mrs. Dorban bis nach Kanada gereist war, um eine Sekretärin zu engagieren, während doch in England Tausende fähiger Mädchen Stellung suchten. Sie sah ihr Engagement als eine liebenswürdige Großzügigkeit von Seiten Cynthias an und war ihr deshalb besonders dankbar.

 

Als sie eines Tages Cynthias Kabine aufräumte – Cynthia war trotz ihrer präzisen und geschäftlichen Art in ihren persönlichen Dingen recht unordentlich und nachlässig –, fand sie ein Blatt Papier. Es war mit Bleistift beschrieben und schien der Entwurf zu einem Telegramm zu sein:

 

 

›Dorban, Stone House, Borcombe, England. Habe die richtige Sekretärin gefunden. Bestehe darauf, daß Willis entlassen wird. Wahrscheinlich wurde sie von Stamford Mills geschickt. Dieses Mädchen weiß nichts von dem Fall und hat keine Freunde in England.‹

 

 

Penelope war einen Augenblick verwirrt. Sie hatte nicht den geringsten Zweifel, daß dieses Telegramm sich auf sie selbst bezog. Aber wer war Mr. Stamford Mills? Und welchen ›Fall‹ meinte Mrs. Dorban? Sie war etwas unangenehm berührt. Es waren mehrere Sätze ausgestrichen, und sie versuchte auch dies zu lesen. Einer lautete zweifellos: ›Sie macht den Eindruck, als ob sie nicht klatscht.‹

 

Penelope faltete das Papier wieder zusammen und verwahrte es. Zum erstenmal seit Beginn dieses Abenteuers fühlte sie sich unsicher. Und doch würde sich die ganze Sache sicher sehr einfach aufklären.

 

Bei der nächsten Gelegenheit brachte sie das Gespräch auf Mr. Dorban.

 

»Mein Mann haßt Städte«, sagte Cynthia müde und lehnte sich in ihren Stuhl zurück. Sie saßen beide auf dem Promenadendeck. »Wir sind ruhige Leute. Arthur ist eine Art Forscher und geht selten irgendwohin. Ich hoffe, daß Sie Einsamkeit vertragen können?«

 

Penelope lachte. »Ich freue mich darauf, viel allein zu sein. Das hatte ich mir gerade gewünscht.«

 

»Dann wird es Ihnen sicher sehr gut gefallen«, erwiderte Cynthia merkwürdig verbissen. »Es kommt kein Besuch, wir laden auch niemanden ein und geben keine Bälle oder Gesellschaften. Und wenn Sie nicht gern angeln –« Sie zögerte. »Aber vielleicht wird es Ihnen später mehr zusagen, als Sie sich jetzt denken können. Nennen Sie mich bitte mit Vornamen, ich habe es nicht gern, als Mrs. Dorban angesprochen zu werden. Wovon redeten wir eigentlich? Ach ja, später werden Sie wahrscheinlich eine recht angenehme Zeit bei uns verleben – aber nein, ich wollte Ihnen noch etwas ganz Besonderes sagen. Wir vertrauen Ihnen in jeder Weise, und Sie müssen über alle Angelegenheiten meines Mannes tiefstes Stillschweigen bewahren. Nicht, daß er irgendeine besondere Beschäftigung hätte – verstehen Sie mich?«

 

Penelope wußte zwar nicht recht, was sie meinte, aber sie nickte.

 

»Es sind viele Nachforschungen anzustellen, hauptsächlich über Landgüter. Mein Mann hat nämlich eine große Erbschaft in Aussicht. Wir hoffen, eines Tages ein großes Vermögen zu erben.« Cynthia sah sich um und sprach leiser. »Ich möchte Sie noch vor einem Menschen warnen. Mein Mann hat einen erbitterten Feind, der immer wieder versucht hat, ihn zu ruinieren. Ich weiß nicht, warum er das tut«, erklärte Mrs. Dorban mit einer Ruhe, die Penelope unter diesen Umständen merkwürdig vorkam. »Aber ich vermute, daß eine Frau im Spiel ist. Ich gebe mir keine Mühe dahinterzukommen, aber einen anderen Grund kann ich mir eigentlich nicht denken. Stamford Mills – so heißt der Mann – schickt stets Detektive aus, die sich in unsere Angelegenheiten mischen wollen. Ich habe keine Ahnung, wer er eigentlich ist. Ein weltgewandter Mensch, der in London nur von seiner Tüchtigkeit lebt. Manche behaupten auch, er sei ein Schwindler, aber ich möchte ihn nicht ohne Grund verleumden. Ich weiß nur, daß er unser Feind ist, und aus diesem Grunde ist es wichtig, daß Sie vor ihm gewarnt werden.«

 

»Aber was will er denn entdecken – ich meine, wenn er Leute schickt, um Sie auszuspionieren?« fragte Penelope besorgt.

 

»Das mag der Himmel wissen. Geben Sie mir bitte mein Buch, Penelope. Ich wünschte, dieses niederträchtige Schiff würde nicht so rollen.«

 

Die Bewegung des Schiffes belästigte Penelope in keiner Weise. Es schien beinahe, als wäre sie auf dem Ozean geboren, so wenig konnte ihr die Seekrankheit anhaben. Sie saß gern an Deck und betrachtete die endlose grüne See. Es war ihr angenehm, das Zittern und Stoßen der Schiffsturbinen zu fühlen. Sie liebte es auch, sich die frische Brise ins Gesicht wehen zu lassen.

 

Die Passagiere interessierten sie nicht besonders; nur mit dem Decksteward hatte sie sich bis zu einem gewissen Grade angefreundet. Er sah gutmütig aus und kümmerte sich gleich vom ersten Tage an besonders um sie. In den frühen Stunden des Nachmittags, wenn die Passagiere in ihren Kabinen ruhten und das Promenadendeck verlassen dalag, stand er neben ihrem Stuhl und erzählte ihr von seinen vielen merkwürdigen Erinnerungen und Erlebnissen auf See. Er berichtete von Schiffen und Reisenden, die er getroffen hatte. Mit besonderem Stolz teilte er ihr mit, daß er einmal Steward im Rauchsalon eines großen Passagierschiffs gewesen war, das zwischen New York und Southampton fuhr. Und am liebsten sprach er über einen interessanten Passagier, den er während dieser Zeit kennengelernt hatte.

 

Beddle – so hieß der liebenswürdige Decksteward – war schon vielen schlechten Menschen begegnet. Stundenlang konnte er von den Banden erzählen, die das ganze Jahr den Ozean in beiden Richtungen überquerten und nur von der Geschicklichkeit lebten, mit der sie die Karten beherrschten.

 

»Ich kenne sie alle, Lew Marks, Billy Sanders, Long Charlie, Denver John – mein Gott, ich könnte Ihnen eine Liste all dieser Schwindler geben, die länger ist als Ihr Arm, mein Fräulein!«

 

»Und die waren alle Falschspieler?«

 

Er nickte. »Aber der Schlimmste von allen war doch El Slico – eine Amerikanerin hat ihm diesen Beinamen gegeben, und den hat er behalten. Er war so gewandt und anpassungsfähig. Ich habe ihn niemals zweimal in demselben Anzug gesehen. Allein seine Kleidung muß ihn ein Vermögen gekostet haben. Er hatte stets die besten Kabinen an Bord belegt, während die Mitglieder der anderen Banden gewöhnlich zu vier Mann in einer Kabine reisen. Er ist noch ziemlich jung; wenigstens war er es damals, als ich ihn vor ein paar Jahren traf. Man erzählte sich, daß er den besten Gesellschaftskreisen angehöre – aber er ist ein Schurke, sage ich Ihnen. Er würde Ihnen die Goldkronen aus dem Munde reißen, wenn sonst nichts zu nehmen wäre! Er war der Führer einer Bande, die sich nur mit ganz vornehmen Leuten abgab. Einen Verstand hatte dieser Mann! Er war niemals von zufälligen Bekanntschaften an Bord abhängig. Einmal brachte er einen Millionär aus Colorado um hundertfünfzigtausend Dollar. El Slico wußte, daß der Mann nach Europa fahren wollte, und fuhr deshalb zwei Wochen vorher nach Colorado. Er verstand es, sich Eingang in seinen Klub zu verschaffen, und lernte ihn dort kennen. Der Millionär lud ihn in seine Wohnung ein. El Slico gab sich als reicher junger Engländer aus, der keine andere Aufgabe im Leben habe, als von den Zinsen seines großen Vermögens zu leben. Als sie sich später an Bord des Schiffes wiedertrafen, war es natürlich, daß sie sehr freundschaftlich miteinander verkehrten – und das hat Mr. Gifford hundertfünfzigtausend Dollar gekostet. Und selbst da wußte er noch nicht, daß El Slico der Anführer der Bande war, die ihm das Geld abgenommen hatte.«

 

Tag für Tag hörte Penelope Geschichten über diesen geheimnisvollen El Slico, denn es war das Lieblingsthema Mr. Beddles.

 

Vom Standpunkt der Gewohnheitsreisenden aus war die Überfahrt gänzlich uninteressant. Das Schiff war an drei großen Eisbergen vorbeigekommen und unzähligen anderen Schiffen begegnet. Ein Tanzabend, ein Kostümball und ein Konzert hatten im Salon stattgefunden, und am Sonntag war ein Schiffsgottesdienst abgehalten worden. Für das Mädchen aus Edmonton waren all diese Vorgänge große Ereignisse.

 

Als sie noch einen Tag von Liverpool entfernt waren und die langhingestreckte graue Küste Irlands passiert hatten, entdeckte Penelope einen Zug in Mrs. Dorbans Charakter, den sie ihr nicht zugetraut hatte.

 

Cynthia hatte sich in Winnipeg einen kleinen Schoßhund gekauft, und sie hatte das kleine Tier mit dem seidigen Fell sehr gern. Tagsüber trug sie den Hund immer im Arm mit sich herum, und nachts schlief er zu ihren Füßen im Bett.

 

Penelope liebte Hunde auch, aber sie fühlte sich mehr zu den größeren Rassen hingezogen. Diese kleinen Tierchen, die nur als Spielzeug dienten, von ihren Frauchen verzärtelt, gekämmt und gebürstet wurden und ihnen fast so unentbehrlich wie eine Handtasche waren, sagten ihr nicht zu. Sie taten ihr nur leid.

 

Penelope stand auf dem Promenadendeck und sah mit begeisterten Blicken, wie die wenig romantische Küste von Lancashire in dem leichten Nebel auftauchte. Als Cynthia zu ihr trat, wandte Penelope sich zu ihr um und sah sofort, daß sie den Hund nicht bei sich hatte.

 

»Wo ist denn Fluff?« fragte Penelope.

 

»Das arme kleine Tier – es war doch ein so lieber, netter Kerl…«

 

»Was ist denn mit ihm passiert?«

 

»Man hat mir gesagt, daß ich den Hund nicht mit an Land nehmen könne, es sei denn, daß er zuerst in Quarantäne käme. Und das gibt doch zu viele Unannehmlichkeiten. Hunde bekommen allerhand Krankheiten, wenn sie mit anderen Tieren zusammen eingesperrt werden. Ich habe Fluff deshalb einem Matrosen übergeben und ihm gesagt, daß er ihn ertränken soll. Er wollte mich zuerst überreden, ihn durch den Zoll schmuggeln zu lassen, aber ich wollte nicht extra dafür hundertfünfzig Dollar ausgeben. Er hat mir versprochen, daß er ihm einen schweren Gegenstand um den Hals bindet und ihn dann ins Wasser wirft.«

 

Penelope war sehr bestürzt. »Aber – ich dachte, Sie hatten das Tierchen so gern …«

 

»O ja, ich hatte es ganz gern. Es war ein lieber, kleiner Kerl. Aber keine reine Rasse, wie mir die Leute in Winnipeg vorschwindelten. Captain Wilkins, der viel von Hunden versteht, sagte mir, daß das Tierchen bestimmt keinen reinen Stammbaum habe und daß ich bei dem Kauf betrogen worden sei. Und mit unechten Hunden gebe ich mich nicht ab. Geht Ihnen denn die Sache nahe?«

 

Penelope konnte nichts erwidern. Die merkwürdige Gefühllosigkeit dieser Frau beleidigte sie. Das Leben eines kleinen Schoßhundes war ja sicher nicht von großer Bedeutung, aber es schmerzte sie doch, daß sie diesen Charakterzug an einer Frau entdecken mußte, die sie sonst so verehrte und in jeder Weise bewunderte. Sie dachte an die dünnen, schmalen Lippen Cynthias und sah sie jetzt mit einem neuen Interesse an.

 

Ein paar bevorzugte Freunde der Passagiere kamen dem Schiff in einem kleinen Boot entgegen. Cynthia erwähnte nebenbei, daß ihr Mann vielleicht auch an Bord komme. Sie zeigte aber keinerlei besondere Freude darüber, daß sie ihn nach so langer Trennung wiedersehen würde, und trat nicht einmal zu der kleinen Gruppe interessierter Leute, die über die Reling schauten, als die Passagiere des kleinen Bootes herüberkamen.

 

Penelope hatte sowohl ihre eigenen als auch Cynthias Sachen gepackt und suchte nun noch einmal den Decksteward auf.

 

»Ich danke Ihnen, mein Fräulein«, sagte Mr. Beddle, als er den Fünfdollarschein aus ihrer Hand nahm. »Sie hätten mir das nicht zu geben brauchen, es war mir auch so ein großes Vergnügen. Besten Dank. Ich hoffe, daß ich Sie wieder einmal auf einer Reise bedienen kann. Sind Sie eigentlich auf einer Vergnügungsfahrt?«

 

»Ich hoffe, es wird ein Vergnügen für mich werden; ich bin nämlich nach England gekommen, um eine Stellung anzutreten.«

 

Der Mann schaute Penelope nachdenklich an. »Es ist kein schlechtes Land, und Sie mögen hier Ihr Glück machen. Heiliger Moses!« Er schaute an ihr vorbei und machte ein überraschtes Gesicht. »Schnell, mein Fräulein«, flüsterte er, »das ist er!«

 

»Er – wer?«

 

Penelope wandte den Blick in die Richtung, in die er zeigte, und sah einen eleganten, glattrasierten Herrn, der von Kopf bis Fuß tadellos gekleidet war. Es schien ihr, als ob er von der Bond Street in London plötzlich an Bord dieses Schiffes versetzt worden sei, ohne daß sein Anzug auch nur die geringste Falte davongetragen hätte.

 

Sein Gesicht war dunkel, und er trug einen kleinen Schnurrbart. Sein Kinn wirkte ein wenig lang. Im Augenblick lächelte er und zeigte seine weißen Zähne.

 

»El Slico«, sagte Beddle leise. Aber bevor Penelope ihn noch richtig betrachten konnte, eilte Cynthia schon auf sie zu.

 

»Meine liebe Penelope, ich möchte Sie vorstellen.« Cynthia faßte sie am Arm und ging mit ihr auf den vornehmen Herrn zu. »Dies ist mein Mann, Mr. Dorban!«

 

›El Slico‹ nahm den Zylinder ab und reichte ihr seine lange, schmale Hand.

 

Penelope ergriff sie mechanisch.

 

Kapitel 20

 

20

 

Es regnete, als Penelope auf der etwas schmutzigen Strickleiter zu dem wenig einladenden Eisendeck des Tankers emporkletterte. Mr. Orford hatte merkwürdigerweise die etwas halsbrecherische Tour längst hinter sich. Er hatte vorher drahtlose Nachrichten an das Schiff geschickt, so daß sie alle möglichen Bequemlichkeiten in den Kabinen vorfanden, mit denen sie gar nicht gerechnet hatten. Die beiden Schiffe trennten sich im Morgengrauen wieder, und Penelope beobachtete zwischen großen Haufen aufgerollter Taue und rostiger Ankerketten, wie die schlanke ›Polyantha‹ sich immer weiter entfernte. Es regnete unaufhörlich.

 

Der Tanker war lange nicht so gemütlich. Er rollte und stampfte unheimlich, selbst bei geringem Wellengang. Mrs. Dorban, die leicht seekrank wurde und obendrein den Petroleumgeruch nicht vertragen konnte, legte sich bald in ihrer Kabine nieder und blieb den ganzen Tag dort.

 

Penelope verfügte nur über eine kleine Kabine und hatte große Mühe, all ihre Habseligkeiten unterzubringen. Die Schubladen der Kommode und der kleine Schrank waren mit Sachen des Schiffsoffiziers angefüllt, der die Kabine vor ihr innegehabt hatte. Sie richtete sich so gut wie möglich ein und sehnte sich noch lange nicht nach dem Ende ihres Abenteuers. Sie war sich selbst nicht recht über ihre Stimmung klar.

 

Am nächsten Morgen begegnete sie John an Deck. Er teilte ihr viele Neuigkeiten mit, die sie in Erstaunen setzten.

 

»Ich glaube nicht, daß wir für immer Abschied von der ›Polyantha‹ genommen haben«, meinte er. »Mr. Orford hat mir gerade gesagt, daß er einen anderen Treffpunkt mit ihr vereinbart habe. Wenn sie von dem ersten Kriegsschiff, dem sie begegnet, durchsucht worden ist, werden wir nördlich von Madeira wieder zu ihr stoßen. Und wir haben dann Aussicht, unsere Reise unter angenehmeren Bedingungen fortzusetzen.«

 

»Was soll denn aus den Dorbans werden? Und aus Hollin?« fragte Penelope.

 

»Hollin werde ich mitnehmen müssen, wie ich es ihm versprochen habe. Was aus den Dorbans werden soll, weiß ich selbst noch nicht. Das ist noch die größte Schwierigkeit, aber ich glaube, man kann sie mit Geld abfinden und mit einem Versprechen, das ich ihnen schon halbwegs gegeben habe.«

 

»Was haben Sie ihnen denn versprochen?«

 

Er schaute aufs Meer hinaus und schwieg eine Zeit.

 

»Ich habe ihnen versprochen, mich unter der Bedingung, daß sie mich nicht wieder betrügen, nicht zu verheiraten. Aber ich bin mir selbst noch nie so gram wie jetzt gewesen, nachdem ich dieses Versprechen gab.« Er sah sie wieder an.

 

»Warum denn?«

 

»Weil ich Sie liebe und mir dadurch das einzige Glück raube, das mir erstrebenswert erscheint. Sie müssen annehmen, daß ich ein recht ungebildeter Mensch bin, Penelope, und ich glaube es beinahe selbst. Ich wollte Sie aus diplomatischen Gründen heiraten, aber ich erkannte auch, daß Sie das Anerbieten Mr. Orfords nicht aus Liebe zu mir annahmen. Wie wäre das auch möglich gewesen? Sie kennen mich erst seit ein paar Tagen und wissen noch nicht einmal das Schlimmste über mich.«

 

»Ich glaube, ich weiß es doch.«

 

Er schüttelte den Kopf, aber Penelope fuhr unbeirrt fort.

 

»Sie fliehen vor jemandem. Haben Sie nicht –«, sie zögerte, aber dann sagte sie doch, »– ein Verbrechen begangen?«

 

»Nein, ich bin zwar angeklagt worden – aber es ist doch alles zwecklos …«

 

Sie schaute ihm nach, als er fortging, und fühlte eine sonderbare Leere im Herzen.

 

Am Nachmittag fuhren sie an zwei Torpedobootszerstörern vorbei, die anfragten, ob sie nicht die ›Polyantha‹ gesichtet hätten. Es wurde ihnen wahrheitswidrig mit »Nein« geantwortet. Gegen Abend erhielten sie einen Funkspruch, der mit Mr. Orford verabredet worden war.

 

»Die ›Polyantha‹ ist angehalten und durchsucht worden«, erklärte Mr. Orford beim Abendessen.

 

»Armer Bobby«, flüsterte Penelope. Bobby war an Bord geblieben, um die Rolle des reichen Besitzers zu spielen.

 

»Bobby fällt das Lügen nicht schwer«, sagte John ruhig. »Er kann tausend Ausflüchte machen und ist nie um eine Ausrede verlegen. Wie geht es Ihrer Frau, Dorban?«

 

Arthur lächelte geheimnisvoll, aber er gab keine Antwort.

 

Am Abend saßen sie auf dem Achterdeck zusammen, als der Captain zu ihnen trat. John und Mr. Orford rauchten, Penelope kauerte in ihrem Deckstuhl, denn das Schlingern des Schiffes war etwas ungemütlich geworden. Dorban ging unruhig auf und ab.

 

»Soeben habe ich einen Hilferuf aufgefangen, Mr. Orford«, sagte der Captain. »Das Schiff ›Pealego‹ ist auf ein Riff gelaufen und im Sinken.«

 

»Was ist das denn für ein Schiff?«

 

»Ein Passagierschiff, das von Vigo nach Funchal fährt, ein sonderbares Schiff, ich bin ihm schon mindestens ein dutzendmal in diesen Gewässern begegnet. Natürlich haben wir jetzt den Kurs ändern müssen und fahren auf die ›Pealego‹ zu. Das Unglück passierte ungefähr zwanzig Meilen von uns entfernt. Wir werden sehr bald auf ihre Rettungsboote stoßen.«

 

Zwei Stunden waren vergangen, als sie Licht auf dem Wasser entdeckten. Durch Ferngläser erkannten sie zwei Boote, die nebeneinander ruderten.

 

»Das ist schrecklich für uns«, sagte Mr. Orford und schüttelte den Kopf, »denn wir müssen diese Leute irgendwo an Land bringen. Und ich wollte meinen Fuß erst wieder auf festen Boden setzen, wenn wir die Mole von Boston erreicht hätten.«

 

Die Mannschaft des Tankers hängte eine hellbrennende Lampe über das Fallreep, das heruntergelassen wurde, und sie lehnten sich über die Reling, um die Geretteten zu sehen, als sie an Bord gebracht wurden.

 

Zuerst kamen zwei weinende Frauen in Matrosenmänteln, dann ein alter Mann, der ganz durchnäßt war. Hinter ihm tauchte ein großer, schlanker Mann auf, der das Aussehen eines Militärs hatte. Der erste, der ihm an Deck begegnete, war John, in dessen Gesicht kein Muskel zuckte, als der Mann auf ihn zukam.

 

»Ich bin Inspektor Spinner – ich denke, wir kennen uns.«

 

»Das ist wohl möglich«, erwiderte John kühl.

 

»Sie sind der Earl von Rivertor, ein Sträfling, der wegen Herstellung falscher Banknoten zu zwanzig Jahren Zuchthaus verurteilt wurde. Und dieses ist James Hollin, auch ein entflohener Sträfling, der fünf Jahre wegen Einbruchs abzusitzen hat. Sie sind beide am Vierzehnten des vergangenen Monats aus Dartmoor entflohen.«

 

Mr. Dorban kam heran.

 

»Ich kann diese Angabe nur bestätigen. Mein Name ist Arthur Dorban. Und dieser Mann –«, er zeigte auf John, »ist mein Vetter.«

 

Zu Penelopes größtem Erstaunen wandte sich John mit einem strahlenden Lächeln an seinen schlimmsten Feind.

 

»Jetzt bin ich meines Versprechens ledig, Arthur«, sagte er.

 

*

 

Für Penelope Pitt war die nächste Nacht ein langer, schrecklicher Traum. Sie war so wenig imstande, Wirklichkeit und Traum voneinander zu unterscheiden, daß sie beinahe ernsthaft an ihrem Verstand zu zweifeln begann. John war der Earl von Rivertor, und er war ein entflohener Sträfling! Das klang alles so unglaublich, so phantastisch, daß sie sich wohl zwanzigmal in der Nacht erhob und das elektrische Licht andrehte, um sich zu überzeugen, daß sie wachte und nicht das Opfer schrecklicher Halluzinationen war.

 

Was war aus Mr. Orford geworden? Sie wußte es nicht. Sie konnte ihre Gedanken nicht einmal so weit sammeln, um über ihre eigene Zukunft nachzudenken.

 

Am nächsten Morgen stand sie früh auf und ging an Deck, wo die Matrosen mit Wasserschläuchen und Bürsten tätig waren. Sie fand Mr. Orford in dem bequemsten Stuhl, der an Bord des Schiffes aufzutreiben gewesen war. Er hatte sich in viele Decken eingehüllt, war ebenfalls wach und in tiefe Gedanken versunken. Sie nahm an, daß er nicht gut auf sie zu sprechen sei, da sie sich indirekt für das tragische Ende seiner kühnen Pläne verantwortlich fühlte, aber er begrüßte sie mit einem freundlichen, fast väterlichen Lächeln.

 

»Ich bin überhaupt nicht zu Bett gegangen – ich habe auch nicht geschlafen«, sagte er erklärend.

 

»Bitte stehen Sie nicht auf«, bat sie ihn schnell, als er Miene machte, sich aus all seinen Decken herauszuwinden. »Ich kann mich hierher setzen.« Sie zog einen Stuhl herbei und ließ sich an seiner Seite nieder. »Mr. Orford, was bedeutet das alles?«

 

»Was es bedeutet? Sechs Monate harter Arbeit und eine halbe Million Dollar für die bestorganisierte Flucht, die die Welt jemals gesehen hat, sind zum Teufel gegangen!«

 

»Wollen Sie mir denn nicht endlich alles sagen?«

 

»Es ist ja jetzt doch kein Grund mehr vorhanden, warum Sie nicht alles wissen könnten.« Er winkte einem Matrosen. »Mein Sohn, gehen Sie einmal in die Küche und bringen Sie etwas heißen Kaffee«, wies er ihn an. Dann wandte er sich wieder an Penelope. »John ist der Lord von Rivertor. Als er zu zwanzig Jahren Zuchthaus verurteilt wurde, war er es noch nicht und hatte überdies nicht die leiseste Ahnung, daß er die nächste Anwartschaft auf diesen Titel hatte. Er ist sehr reich und begütert, ebenso Mr. Stamford Mills, sein Freund. Sie haben zusammen in Paris auf der Kunstakademie studiert, und seit Lord Rivertors Verurteilung hat dieser junge Mann alles aufgeboten, um ihn zu befreien. Ich selbst habe schon viel organisiert, aber noch niemals eine Flucht aus dem Gefängnis.«

 

Er machte eine Pause und schüttelte den Kopf.

 

»Der erste Unglücksfall begegnete uns, als Hollins Mütze davonflog. Alle englischen Sträflinge haben eine Nummer, die in die Kappen eingestickt wird.«

 

»Sie müssen mir aber alles von Anfang an erzählen. Warum wurde Lord Rivertor eigentlich verurteilt – welches Verbrechen hat er denn begangen?«

 

»Ich bin fest davon überzeugt, daß er überhaupt kein Verbrechen begangen hat«, sagte Mr. Orford mit Nachdruck. »Ich habe die Erfahrung gemacht, daß viele Leute unschuldig im Zuchthaus sitzen, die das Opfer eines widrigen Schicksals oder gemeiner Verleumdung sind. Als ich hörte, daß Lord Rivertor durch ein gemeines Komplott zu Fall gebracht worden war, fühlte ich sofort, daß hier wieder ein Justizirrtum vorliegen mußte. Er ist wirklich unschuldig.«

 

Mr. Orford war im Eifer aufgestanden und gestikulierte heftig.

 

»John war ein Künstler und ein Vetter dritten oder vierten Grades des alten Earls von Rivertor. Der alte Herr hatte drei Söhne, die alle innerhalb einer Woche an Lungenentzündung starben. Das klingt fast wie ein Märchen, aber sie sind tatsächlich eines natürlichen Todes gestorben. Ich habe mich sehr genau danach erkundigt, denn ich verdächtigte Mr. Dorban, daß er die Natur bei ihrem Vernichtungswerk unterstützt hätte.

 

John Rivertor wußte nichts von alledem. Er lebte als Maler und Zeichner in Paris und hatte sein Auskommen. Er war ein besonderer Spezialist für Radierungen. Möglich, daß er ein großer Künstler ist, möglich, daß er es nicht ist. Ich verstehe zuwenig von Kunst, um das beurteilen zu können.

 

Bei der Gerichtsverhandlung wurde nun folgender Tatbestand festgestellt: John verkehrte in einem Restaurant im Westen Londons. Der Eigentümer dieses Lokals hatte bei den verschiedensten Gelegenheiten gefälschte Fünfpfundnoten in seiner Kasse gefunden, konnte aber nicht genau sagen, von wem er die Scheine bekommen hatte. Der Verdacht fiel jedenfalls auf John. Mir ist es ganz unerklärlich, wie das möglich war, aber ich habe eine Vermutung, wer dieses Gerücht aufgebracht hat. Wahrscheinlich hat der Betreffende die falschen Noten selbst in Umlauf gesetzt.

 

John war nicht gerade wohlhabend, aber es ging ihm auch nicht schlecht. Er verkaufte seine Radierungen ganz gut und lebte von der Arbeit seiner Hände. Eines Tages kam ein Mann in sein Atelier, der Radierungen für einen amerikanischen Millionär kaufen wollte. John hatte ihn noch niemals gesehen und traf ihn auch später nicht wieder. Der Mann wählte ein paar Blätter aus und bot eine so hohe Summe dafür, daß John sehr erstaunt war. John selbst forderte einen weit niedrigeren Preis, aber der merkwürdige Käufer bestand darauf, ihm den hohen Betrag zu zahlen. Er gab ihm nur Banknoten. Das erste halbe Dutzend war echt, die anderen Scheine waren nicht besonders gut gelungene Fälschungen. Der Fremde nahm die Radierungen an sich, und John begleitete ihn auf seine Bitte zum Bahnhof. Der Besucher nannte sich Smith und erzählte, daß er nach Brüssel reise. Es dauerte noch ziemlich lange, bis der Zug abfuhr, und Mr. Smith hielt John bis zur Abfahrt auf. John ging dann in sein Stammlokal, um dort zu Abend zu speisen. Er fühlte sich in recht gehobener Stimmung, daß er soviel Geld verdient hatte.

 

Als er das Restaurant wieder verließ, wurde er von zwei Kriminalbeamten verhaftet, die ihn mit zur Polizeistation nahmen und dort durchsuchten. Die falschen Banknoten wurden bei ihm gefunden, und obgleich er erklärte, wie er in ihren Besitz gekommen war; glaubte man ihm nicht. Auch seine Wohnung wurde durchsucht. Sie bestand aus einem großen Atelier und zwei kleinen Zimmern; außerdem gehörten noch ein Abstellraum und eine kleine Küche dazu. In der verschlossenen Rumpelkammer entdeckte die Polizei eine vollständige Falschmünzereinrichtung – Druckerpressen, Platten und Pakete gefälschter Banknoten, die anscheinend eben erst gedruckt waren. Außerdem fand man Säurebäder, Radierwerkzeuge und alles, was sonst noch zum Druck von Banknoten notwendig ist. Die Indizien waren erdrückend, und obwohl verschiedene Sachverständige ihr Urteil dahin abgaben, daß diese Noten in einem anderen Land gedruckt worden seien, wurde John doch schuldig gesprochen. Da man außerdem glaubte, einen sehr gefährlichen Verbrecher gefaßt zu haben, wurde er zu der schwersten Strafe verurteilt, die das englische Gesetz dafür vorsieht – zu zwanzig Jahren Zuchthaus.

 

Ich war sehr verwundert, daß Sie von dieser ganzen Sache nichts wußten, denn alle englischen und amerikanischen Zeitungen waren von dieser Geschichte voll. Nicht nur der Prozeß wurde überall besprochen, sondern auch die Tatsache, daß der Mann, der fast zu einer lebenslänglichen Strafe verurteilt worden war, später den Titel eines Earl von Rivertor erbte. Außer diesem Titel fiel ihm noch eine Erbschaft von etwa zehn Millionen Dollar zu.«

 

Penelope hatte schweigend und staunend zugehört.

 

»Die Nachrichten darüber dürften nicht nach Edmonton gekommen sein, ich habe jedenfalls nichts darüber gelesen. Wann hat sich denn diese Tragödie abgespielt?«

 

»Es ist jetzt ein Jahr und siebzehn Tage her.«

 

Nun wurde es ihr plötzlich klar.

 

»Ich war damals sechs Monate lang auf einer Farm und habe überhaupt keine Zeitungen in die Hand bekommen. Die Zeitungen in Edmonton haben die Sache doch sicher gebracht, denn Lord Rivertor besaß eine große Farm in der Nähe der Stadt.«

 

»John kam also ins Zuchthaus«, sagte Mr. Orford. »Mr. Stamford Mills, sein bester Freund, nahm sich vor, das Geheimnis, das über der Verurteilung Johns lag, aufzudecken. Er war vollkommen davon überzeugt, daß die Geschichte, die John vor Gericht vorbrachte, auf Wahrheit beruhte. Zunächst galt es nun, die Verwandten herauszufinden, die von seinem Verschwinden profitierten, und so kam er auf die Spur El Slicos. Arthur ist Johns nächster Vetter und deshalb auch der nächste Erbe des Titels.«

 

»Aber Lord Rivertor ist noch jung, und zwanzig Jahre sind doch keine unendliche Zeit. Wie konnten sie denn sicher sein, das Geld und den Titel zu erben?«

 

»Sie haben nichts dem Zufall überlassen«, entgegnete Mr. Orford grimmig. »Einen Monat nach seiner Einlieferung in Dartmoor wurde John schwer krank. Die Mahlzeiten werden dort von Sträflingen serviert, die sich gut geführt haben und deswegen mit diesen Posten betraut werden. Sie genießen gewisse Vorrechte. Zweifellos war das Essen, das John erhielt, irgendwie vergiftet. Zwei Monate später ging das Gewehr eines Wärters ›zufällig‹ los, und die Kugel ging nur um Haaresbreite an Lord Rivertors Kopf vorbei. Bobby, der ein geborener Detektiv ist, entdeckte, daß der Wärter ein Mann war, der schon mehrere Verweise erhalten hatte. Bobby brachte auch heraus, daß dieser Mann in Verbindung mit den Dorbans stand und schon mehrere Besuche in Stone House bei Borcombe gemacht hatte, wonach sich jedesmal der Betrag auf seinem Bankkonto merklich erhöhte. Warum lebt Mr. Dorban überhaupt so abgeschlossen von aller Welt in Borcombe?«

 

»Ich dachte, er hätte sich zurückgezogen –«

 

»Da irren Sie sich aber gewaltig«, sagte Mr. Orford lächelnd. »Dorban hielt sich in Borcombe auf, weil es in der Nähe des Zuchthauses von Dartmoor lag und weil er auf diese Weise mit seinen dortigen Agenten ständig in Verbindung treten konnte. Und warum hat man Sie wohl aus Kanada geholt? Weil Sie nichts von dem Fall wußten und keine Freunde in England hatten. Wenn ich nur gewußt hätte …«

 

Er schlug sich ungeduldig aufs Knie.

 

»Nach dem dritten Anschlag auf Johns Leben zog mich Bobby ins Vertrauen und bat um meinen Rat. Ich gebe gern zu, daß die hohe Belohnung, die mir angeboten wurde, viel dazu beitrug, daß ich diesen Auftrag überhaupt annahm. Wir charterten die Jacht ›Polyantha‹ für sechs Monate von einem französischen Herzog und bemannten sie mit zuverlässigen Leuten. Der Schiffsarzt ist ein entfernter Verwandter Johns, der alte Captain ist sein Onkel mütterlicherseits.

 

Bobby Mills diente während des Krieges als Flieger – es gelang ihm, von der Verwertungskommission für früheres Kriegsmaterial ein Flugzeug und einen ausrangierten Panzerwagen zu erwerben.

 

John arbeitete mit mehreren anderen Sträflingen in den Steinbrüchen, die in einiger Entfernung von dem Gefängnis liegen. Jeden Morgen und Nachmittag marschierten sie auf der großen Landstraße dorthin. John befand sich in der sechsten Abteilung, die jedesmal zuerst das Gefängnis verließ. Am Morgen des Vierzehnten kam ein Panzerwagen in die kleine Stadt, der anscheinend von einem Soldaten gelenkt wurde. In Wirklichkeit war es unser zweiter Ingenieur. Er fuhr langsam die Straße entlang und hielt vor dem Zuchthaus an, wo er sich zum Schein an dem Motor zu schaffen machte. Als die Abteilung herausmarschierte, sprang er auf seinen Sitz und fuhr weiter, zuerst langsam, dann immer schneller, bis er sich in gleicher Höhe mit der Abteilung befand.

 

John war auf alles genau vorbereitet. Ich will Ihnen nicht im einzelnen erzählen, welche Bestechungsmethoden wir anwandten, um ihn von unseren Absichten und Plänen in Kenntnis zu setzen. Als der Wagen in seine Nähe kam, sprang John auf das Trittbrett und wurde in das stahlgepanzerte Innere gezogen. Der Chauffeur beschleunigte sofort das Tempo. Unglücklicherweise war in dieser Abteilung auch der Sträfling Hollin, der diese günstige Gelegenheit wahrnahm. Bevor der Fahrer des Wagens wußte, was geschah, sprang auch er hinein und schlug den Gefangenenwärter nieder, der ihn zurückziehen wollte.

 

Der Wagen fuhr davon; die Panzerwände hielten die Geschosse ab, die ihm nachgesandt wurden. An einer verlassenen Stelle im Moor hielt Bobby sein Flugzeug bereit. Sie mußten Hollin wohl oder übel mitnehmen. Wenn seine Mütze nicht in der Nähe der Küste aus dem Flugzeug gefallen wäre, hätte niemand gewußt, welche Richtung wir nahmen oder wie die Flucht bewerkstelligt wurde.«

 

»Und auf dem Meer wartete sicher die ›Polyantha‹?«

 

»Ja, alles ging nach Wunsch. Das Flugzeug war mit besonderen Schwimmern versehen, so daß es sich auf der Wasserfläche halten konnte. Es kam in der Nähe des Fallreeps herunter. Wir nahmen John und diesen Kerl sofort an Bord, sprengten das Flugzeug und versenkten es. Nun glaubten wir, alles überstanden zu haben.«

 

»Und dann kam ich.«

 

»Ja, dann kamen Sie. Aber was haben Sie denn?«

 

Sie stand plötzlich auf, ihr Gesicht war bleich.

 

»Die Banknoten!« rief sie atemlos. »Und die Radierungen!«

 

»Was meinen Sie?«

 

Zusammenhanglos erzählte sie ihm, was sie damals gesehen hatte. Mr. Orford hörte gespannt zu, dann seufzte er schwer.

 

»Wenn ich das alles nur früher gewußt hätte! Natürlich ist es so! Die Banknoten schafften sie vom Ausland her, um Verdachtsmomente gegen ihn aufzubringen. Und die Radierungen! Zum Teufel!« Sie starrten einander an.

 

»Die Banknoten sind jetzt sicher ins Meer geworfen – wir haben also auch kein Beweismittel mehr gegen die Dorbans in den Händen!«

 

»Aber ich habe doch eine Quittung gesehen«, sagte Penelope langsam. »Ich vergaß den genauen Wortlaut. Aber die Unterschrift war von einem Mr. Feltham gegeben.«

 

»Das stimmt. Feltham war Johns früherer Familienname. Wo ist sie denn?«

 

»Ich versuche, mich zu besinnen.« Sie setzte sich nieder und stützte das Kinn in die Hände. Wo war doch nur die Quittung geblieben? Sie hatte sie auf das Fensterbrett gelegt, der Wind hatte sie in den Garten geweht, und sie hatte sie wieder aufgehoben in jener schrecklichen Nacht, in der Cynthia sie ermorden wollte.

 

»Ich habe sie irgendwo hingelegt – ich bin sicher, daß ich sie verwahrt habe. Ach, richtig – in der Tasche der Wolljacke!« rief sie plötzlich. »Erinnern Sie sich an die Jacke, in der ich an Bord der ›Polyantha‹ kam?«

 

»Wo ist diese Jacke?« fragte er heiser.

 

»Ich habe sie auf der ›Polyantha‹ zurückgelassen«, sagte Penelope atemlos. »Sie hängt dort in meinem Kleiderschrank.«

 

Mr. Orford sank in sich zusammen.

 

»Und ich habe dem Captain den strikten Auftrag gegeben, alles über Bord zu werfen, was an Ihre Anwesenheit erinnern könnte!«

 

Kapitel 21

 

21

 

Die See hatte sich beruhigt, und das Schiff schaukelte nicht mehr so stark, als Cynthia Dorban erwachte. Arthur schaute düster durch die offene Luke. Er war schon vollständig angekleidet.

 

»Was ist denn los?« fragte Cynthia schnell.

 

Er wandte sich nach ihr um.

 

»Es ist alles in Ordnung – nur weiß Penelope jetzt alles.«

 

»Sie weiß alles«, wiederholte sie wütend, »wer hat es ihr denn gesagt – etwa du?«

 

»Orford hat den ganzen Morgen mit ihr gesprochen. Ich glaube, sie hat ihm auch alles mitgeteilt.«

 

»Was denn?«

 

»Sie wird ihm von den Banknoten und den Radierungen in dem Koffer erzählt haben.«

 

Cynthia lächelte.

 

»Wenn er die finden will, dann muß er ein sehr tüchtiger Taucher sein. Ich habe sie selbst im Meer versenkt.«

 

»Sie hätten verbrannt werden müssen«, erwiderte er, während er noch immer durch das Fenster schaute. »Ich habe dir immer gesagt, daß es viel besser gewesen wäre, sie zu verbrennen. Aber jetzt ist es zu spät, um noch darüber zu streiten. Wenn sie nun einen Eid darauf leistet, was sie gesehen hat dann wird die Sache für uns beide sehr unangenehm.«

 

Cynthia erhob sich und zog ihren Morgenrock an, bevor sie antwortete.

 

»Du bist ein Narr. Ich hätte niemals gedacht, daß du ein solcher Schwächling wärst. Wenn sie auch schwört! Ihr Wort steht dann gegen ein Urteil. Du glaubst doch nicht, daß man deshalb eine Strafe aufhebt?«

 

»Whiplow ist auch an Bord«, fuhr er fort, ohne auf ihre Frage zu achten.

 

Sie sah ihn erstaunt an.

 

»Whiplow ist hier?«

 

»Er gehört zu den Schiffbrüchigen, die letzte Nacht von dem Schiff gerettet wurden. Er war in dem zweiten Boot. Offensichtlich war er mit Spinner auf dem Weg nach Madeira, als die ›Pealego‹ auf eine Klippe auflief. Ich hörte es, als sich Whiplow mit dem Captain unterhielt.«

 

»Hast du ihn selbst gesprochen?«

 

Er schüttelte den Kopf.

 

»Es ist nicht vorteilhaft für uns, ihn überhaupt zu kennen. Ich glaube nicht, daß er sehr zurückhaltend sein wird, aber ich muß ihn eben zum Schweigen bringen. Deswegen bin ich auch so früh aufgestanden, aber der Kerl schläft ja unheimlich lange.«

 

*

 

Sie setzte sich auf ihr Bett, um die Lage zu überdenken.

 

»Ich sehe nicht, daß seine Anwesenheit hier viel an der Situation ändert«, meinte sie dann.

 

Er wandte sich nach ihr um.

 

»Sie ändert sehr viel«, sagte er langsam, »das wirst du noch entdecken.«

 

»Wieso denn?«

 

»Obgleich du eine so schlaue Frau bist, kannst du doch manchmal auch furchtbar beschränkt sein. Ich gehe jetzt an Deck. Soll ich dir das Frühstück in die Kabine schicken?«

 

Sie schüttelte sich.

 

»Ich sehe, daß es dir noch nicht gut geht. Ich werde dir Keks und Sodawasser bringen lassen.«

 

Der erste, den er an Deck traf, war Mr. Orford, der in ungewöhnlich froher Stimmung war.

 

»Wie geht es unserem Freund heute morgen?« fragte Dorban.

 

»Ich habe ihn noch nicht gesehen, aber ich vermute, daß ihm das Frühstück besser schmeckt als Ihnen. Es geht doch nichts über ein gutes Gewissen.«

 

Arthur lächelte.

 

»Wie können Sie darüber sprechen? Sie gehören doch auch zu dem Komplott, und ich vermute, daß Sie sich unter Arrest befinden.«

 

»Ich stehe nur unter Verdacht«, gab Xenocrates Orford vorsichtig zu. »Aber wer steht nicht unter Verdacht?«

 

Arthur lachte.

 

»Ich zum Beispiel nicht. Warum haben Sie sich denn überhaupt in die ganze Sache eingelassen? Das muß Sie doch eine unheimliche Menge Geld gekostet haben? Und Sie können doch nicht behaupten, daß Sie großen Erfolg gehabt hätten?«

 

»Mein Herr, wir sind noch nicht am Ende. Ich habe genügend Zutrauen zu meinem guten Stern, um in einer Krisis wie der jetzigen vollkommen ruhig zu bleiben.«

 

»Es gehören aber schon ganz besondere Glücksumstände dazu, aus diesen Schwierigkeiten herauszukommen.«

 

Mr. Orford entdeckte eine dünne Rauchfahne am Horizont.

 

»Das ist doch die ›Polyantha‹?« rief er erregt.

 

Mr. Dorban mußte laut lachen.

 

»Ich hoffe, daß es die ›Polyantha‹ ist, denn ich habe es satt, auf diesem verdammten Tanker zu fahren. Ich will Ihnen nichts vorenthalten, Mr. Orford. Als Mr. Spinner meinen Vetter gestern verhaftete, fand man in seiner Tasche auch ein kleines Codebuch, das uns in die Lage versetzte, eine Botschaft an die ›Polyantha‹ zu senden. Wir forderten sie auf, so schnell wie möglich zu uns zu kommen. Glücklicherweise fuhr sie mit uns parallel. Sie sehen, Mr. Orford«, sagte er beinahe entschuldigend, »wir haben uns entschlossen, die ganze Bande zu fangen, einschließlich Mr. Bobby Mills.«

 

»Ich sehe«, sagte Mr. Orford und nickte.

 

In diesem Augenblick erschien John in Begleitung Mr. Spinners. Er begrüßte Mr. Orford durch ein Kopfnicken und sah seinen Vetter ruhig an, der ihn unverschämt anlächelte.

 

»Mr. Spinner sagt mir eben, daß die ›Polyantha‹ mit größter Geschwindigkeit auf uns zukommt. Dann haben wir wenigstens eine angenehme Reise nach England«, wandte sich John an den Kriminalbeamten. »Vermutlich ist es ganz gegen die Vorschriften, daß ich einige Worte mit Mr. Orford wechsle?«

 

Spinner zögerte.

 

»Ich weiß nicht, ob es darüber besondere Vorschriften gibt. In meiner Gegenwart können Sie ruhig mit ihm sprechen.«

 

»Ich danke Ihnen.«

 

John sah Dorban an, der sich mit einem Achselzucken zurückzog.

 

»Ist Miss Pitt sehr aufgeregt?«

 

»Ein wenig«, sagte Mr. Orford vorsichtig. »John, wissen Sie noch, ob ich Captain Willit den Auftrag gab, Miss Pitts Kabine sorgfältig zu durchsuchen? Ich bin jetzt so verwirrt, daß ich es nicht mehr genau sagen kann.«

 

John nickte.

 

»Ja, ich weiß genau, daß Sie ihm den Auftrag gaben – aber warum fragen Sie mich?«

 

Mr. Orford konnte seine Aufregung kaum verbergen.

 

»Ich möchte es Ihnen jetzt noch nicht sagen – vielleicht werden Sie es auch nie erfahren.« Dann wandte er sich an den Kriminalbeamten. »Können Sie sich auch noch an die Gerichtsverhandlung erinnern, Mr. Spinner?«

 

»Ich habe Lord Rivertor seinerzeit verhaftet.«

 

»Können Sie sich noch auf die Verteidigung in dem Prozeß besinnen?«

 

Der Inspektor lächelte schwach.

 

»Da war nicht viel zu verteidigen, Mr. Orford. Man behauptete, die ganze Sache sei eine wissentlich, falsche Beschuldigung und alles Beweismaterial sei künstlich gegen Feltham zusammengetragen. Die Maschinen, die Instrumente und die falschen Banknoten sollten während seiner Abwesenheit ins Haus geschafft worden sein.«

 

»Denken Sie auch noch daran, daß John Feltham erklärte, er habe zwei Radierungen an einen Fremden verkauft, den er später niemals wiedergesehen habe, und daß das falsche Geld, das man in seinem Besitz fand, der Kaufpreis für die zwei Radierungen war?«

 

Der Polizeiinspektor nickte.

 

»Nehmen wir nun einmal an«, Orfords Stimme sank zu einem Flüstern herab, »also nehmen wir einmal an, ich würde die Quittung über den Verkauf der Radierungen finden, Lord Rivertor könnte den Mann, der sie kaufte, identifizieren und wir könnten obendrein noch eine Zeugin beibringen, die die Radierungen im Besitz der Familie Dorban gesehen bat …«

 

Spinner runzelte die Stirn und dachte nach. Mr. Orfords Gründe waren sehr überzeugend.

 

»Das würde allerdings einen großen Unterschied machen. Das Justizministerium würde das Verfahren wiedereröffnen, und wenn es bewiesen werden könnte –« Er schüttelte den Kopf. »Aber ich glaube nicht, daß Ihnen dieser Nachweis gelingen wird. Die Quittung, die Sie vorzeigen, könnte doch gefälscht sein!«

 

»Ich möchte Sie ins Vertrauen ziehen«, sagte Orford und schaute argwöhnisch auf Arthur, der an der Reling lehnte. »Ich bringe jetzt ganz neue Gesichtspunkte.« Mr. Orford sprach sehr schnell, und John hörte erstaunt zu, als er alles berichtete, was er am Morgen von Penelope erfahren hatte.

 

Während er noch bei seiner Erzählung war, kam ein Mann an Deck und klopfte Arthur Dorban vertraulich auf die Schulter. Sie konnten ihn zuerst nur von hinten sehen, aber plötzlich wandte er sich um.

 

»Wer ist das?« fragte Orford.

 

John drehte sich auch um, dann sprang er mit einem Aufschrei auf den Fremden zu und packte ihn an der Kehle.

 

»Kennen Sie mich wieder?«

 

Whiplow wand sich unter seinem festen Griff, Sein Gesicht war aschfahl.

 

»Ich kenne Sie nicht – ich habe Sie niemals gesehen. Lassen Sie mich doch in Ruhe!«

 

John ließ ihn los.

 

»Dies ist der Mann, der damals in mein Atelier kam, zwei Radierungen von mir kaufte und mir die falschen Banknoten dafür gab! Das ist der Mann, den meine Freunde so lange gesucht haben und der spurlos verschwunden zu sein schien!«

 

»Sie sind verrückt«, rief Whiplow atemlos und zog seinen Rock zurecht. »Sie sind mir vollständig fremd!«

 

Der Kriminalbeamte nahm John am Arm und führte ihn fort.

 

Eine halbe Stunde später ging Mr. Spinner allein an Bord der ›Polyantha‹ und kehrte erst nach zwei Stunden zurück. Penelope stand an der Reling und sah erregt auf das Boot. Die Pulse in ihren Schläfen hämmerten, als sie sah, daß Spinner eine gelbe Wolljacke über dem Arm trug. Ob die Quittung noch in der Tasche war? Sie schaute sich nach Mr. Orford um, konnte ihn aber nicht entdecken. Auch Whiplow war nicht oben an Deck. Arthur und Cynthia standen an der Reling und schauten auf das Fallreep hinunter. Sie schienen etwas bestürzt zu sein.

 

»Warum sind wir eigentlich nicht alle auf die ›Polyantha‹ gegangen?« fragte Cynthia nervös. »Warum ist er allein –«

 

»Frage ihn doch selbst«, erwiderte El Slico lakonisch, als Mr. Spinner jetzt die Treppe heraufkam.

 

»Wo ist denn Ihr Freund?« fragte er Arthur. Es lag ein unangenehmer Ton in seiner Stimme.

 

»Meinen Sie Whiplow? Der ist unten, soviel ich weiß. Aber er ist durchaus kein Freund von mir, Inspektor.«

 

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, ging Spinner nach unten, um den Mann zu suchen.

 

*

 

Hinter der verschlossenen Tür von Mr. Orfords Kabine fand eine Unterhaltung statt.

 

»Ich kenne zwar die Gesetze nicht so genau, Whiplow«, erklärte Mr. Orford, »aber ich vermute, daß die Leute auch auf Indizienbeweise hin verurteilt werden können. Und was machen Ihnen denn ein paar Jahre Gefängnis aus, wenn Sie nachher ein großes Vermögen haben?«

 

»Aber wer garantiert mir dafür, daß Sie Ihr Versprechen auch halten und mich nachher auszahlen?« fragte Whiplow etwas zaghaft.

 

»Sie müssen mir eben trauen«, meinte Mr. Orford. »Das ist keine große Forderung, die ich an Sie stelle. Ich habe so viel Beweismaterial in der Hand, daß ich Sie an den Galgen bringen könnte. Nun, mein Junge –«, er legte ihm die Hand auf die Schulter, »wollen Sie nicht vernünftig werden, bevor ich die Sache dem Gericht übergebe?«

 

Whiplow starrte düster auf den Fußboden.

 

Mr. Orford spielte nun seinen letzten Trumpf aus, aber das wußte der andere nicht.

 

»Spinner weiß über Sie Bescheid. Wir haben außerdem die Quittung über das Geld, das Sie für Ihren Verrat bekommen haben. Die Dorbans werden das Schiff gefesselt verlassen. Wollen Sie auch für Lebenszeit eingesperrt werden, oder wollen Sie nun endlich vernünftig werden?«

 

»Ich habe noch niemals jemanden verraten«, erwiderte Mr. Whiplow nervös. »Und es gibt doch keine direkten Beweise gegen mich. Wie weiß ich denn, daß Sie mir nachher die Summe zahlen werden?«

 

Mr. Orford hatte ihn fast überzeugt, als draußen an die Tür geklopft wurde. Mit erstaunlicher Ruhe öffnete er die Tür. Inspektor Spinner stand vor ihm und hielt ein Blatt Papier in der Hand. Es war die Quittung, die er in der Wolljacke gefunden hatte.

 

»Ich glaube, das fehlte Ihnen noch«, sagte er.

 

Aber bevor Orford etwas erwidern konnte, stieß ihn Whiplow beiseite und starrte auf das zerknitterte Papier.

 

»Das ist der Beweis«, sagte er niedergeschmettert.

 

Mr. Orford aber seufzte tief und ließ sich schwer aufs Sofa niederfallen.

 

Kapitel 22

 

22

 

Mr. James Xenocrates Orford saß an seinem Schreibtisch und schaute in den Hyde Park hinaus.

 

Der Nachmittag war angenehm kühl, und alle Fenster standen offen, denn an diesem Nachmittag spielte die Kapelle, und die tiefe Baßmelodie des Bombardons klang in großen Zwischenräumen zu ihm hinüber.

 

Er hatte einen etwas stürmischen Monat hinter sich. Besonders der zehnte Tag auf der ›Polyantha‹ war sehr aufregend gewesen, denn er hatte eine Hochzeitsfeier organisieren müssen, die Penelope Pitt zur Gräfin Penelope von Rivertor machte. Es war eine sehr einfache Feier gewesen. Eine alte Seifenkiste, die mit der englischen Flagge zugedeckt war, hatte als Altar gedient.

 

Captain Willit hatte siebenmal den richtigen Text verloren und hatte aus Versehen beerdigt, getauft und zwei junge Leute in den Priesterstand erhoben.

 

Später hatte Mr. Orford vor unzähligen Richtern, Beamten und sogar vor dem zuständigen Unterstaatssekretär unendlich viele Zeugenaussagen machen müssen. Und zum Schluß hatte er dann noch die Hochzeitsreise und die Flitterwochen organisiert.

 

Er saß und lauschte den Tönen der Kapelle, und er hörte nicht, daß seine Sekretärin hereintrat. Erst als sie dicht neben ihm stand und ihn ansprach, wurde er aufmerksam.

 

»Nun, was gibt es? Mr. Mills will mich sprechen? Führen Sie ihn bitte herein.«

 

Wenige Augenblicke später stand Robert Stamford Mills vor ihm.

 

»Hallo, Bobby!«

 

Bobby drückte Mr. Orford bewegt die Hand.

 

»Sie wollen wohl Ihre Rechnung bezahlen? Sie können Ihren Scheck dort mit dem Löscher trocknen. So, ich danke Ihnen auch vielmals.«

 

Er besah sich den Scheck nachdenklich.

 

»Das ist ja sehr großzügig. Aber schließlich haben wir ja Lord Rivertor gerettet, und er ist nun sehr glücklich. Was für eine prachtvolle Frau!«

 

Er seufzte schwer und sah verzweifelt auf das kleine Blatt Papier in seiner Hand.

 

»Es gibt Augenblicke, in denen ich mich ärgere, daß ich … so dick … und so alt bin …«

 

Aber trotzdem steckte er lächelnd den Scheck in seine Brieftasche.