17

 

»Ich dachte, Sie schliefen noch. Ich habe Ihnen frischen Kaffee gebracht. Bitte denken Sie aber in Zukunft daran, daß Sie Ihre Kabine nachts verschließen müssen.«

 

»Ich war so müde«, entschuldigte sie sich, als sie das Tablett an der Tür in Empfang nahm. »Wo sind wir jetzt?«

 

»Irgendwo auf See. Ich war niemals ein großer Mathematiker, und Navigation ist für mich ein Buch mit sieben Siegeln. Soweit ich es beurteilen kann, fahren wir nach Südwesten, mit Kurs auf die Kanarischen Inseln. Aber beeilen Sie sich jetzt bitte und ziehen Sie sich an. Mr. Orford möchte Sie gern sprechen.«

 

Seine Stimme klang heute merkwürdig schüchtern und verlegen. Mr. Orford erwähnte er hastig und abgerissen, und er war schon verschwunden, ehe er den Satz noch ganz beendet hatte.

 

Penelope war sehr verwundert – von dieser Seite hatte sie ihn noch nicht kennengelernt.

 

Als sie das Deck entlangging, fand sie Mr. Orford in seinem Lieblingsstuhl unter einem Sonnenschirm sitzen, den man für ihn aufgespannt hatte. Er sah nicht sehr vergnügt aus, und sie glaubte, noch mehr Falten in seinem Gesicht zu entdecken. Seine Augen lagen tief, und seine großen Hände, die er gewöhnlich über dem Bauch faltete, waren unruhig.

 

»Guten Morgen. Nehmen Sie bitte Platz.«

 

Sie war neugierig, was er ihr wohl zu sagen hätte.

 

»Miss Pitt«, begann er nach einem nervösen Räuspern, »man rechnet bei allen Organisationen wegen der menschlichen Schwächen und Irrtümer mit zehn Prozent Fehlern. Ich kann wohl eine Reise von London nach Konstantinopel, nach Belgrad, nach Jaffa, nach Cincinnati oder sonstwohin organisieren, bei der alles bis auf die Minute klappen wird. Aber wenn ich eine Reise von London nach Gibraltar zu arrangieren habe und der Mann, der diese Reise unternimmt, in Cordoba unterbricht, um sich die Kathedrale anzusehen, und dabei ein hübsches junges Mädchen trifft, sie zum Essen einlädt und dadurch den Zug versäumt, dann ist natürlich alle Disposition umsonst …« Er biß wütend das Ende einer Zigarre ab und steckte sie an, bevor er weitersprach. »Miss Pitt, durch Ihr Dazwischentreten ist die Ausführung meines Planes sehr gefährdet, ja, fast unmöglich geworden.«

 

»Durch mein Dazwischentreten?«

 

»Ja. Wir wären nicht nach Vigo gegangen, wenn Sie nicht Kleider notwendig gehabt hätten, und Sie hätten keine Kleider gebraucht, wenn Sie nicht an Bord gekommen wären. Dadurch ist alles in die Binsen gegangen.«

 

»Das tut mir sehr leid, Mr. Orford. Aber ich kenne ja Ihren Plan nicht und weiß nicht, warum Sie über den Atlantischen Ozean fahren. Sicher haben Sie einen guten und triftigen Grund dazu, und ich fühle, daß ich in gewisser Weise dafür verantwortlich bin, daß Sie Ihre Pläne ändern mußten. Wenn ich Ihnen irgendwie helfen kann –«

 

»Das können Sie wirklich«, sagte er und schaute auf die See hinaus. »Sie könnten John heiraten.«

 

Penelope erhob sich halb von ihrem Stuhl, aber seine große Hand legte sich auf ihre Schulter.

 

»Warten Sie. Ich habe von Natur aus viel Sinn für Familie, obgleich ich niemals verheiratet war. Ich bin sehr menschenfreundlich und könnte es niemals übers Herz bringen, Sie oder eine andere Frau absichtlich oder wissentlich zu beleidigen. Aber wenn Sie meiner Anregung folgen, können Sie vieles gutmachen, ohne selbst zu Schaden zu kommen.«

 

»Ich soll John heiraten? Aber das ist doch unmöglich! Ich kenne ihn doch gar nicht! Natürlich ist er kein Matrose, sondern eine bedeutende Persönlichkeit, die viel mit Ihrer Organisation zu tun hat. Er ist mir sogar sympathisch, ich habe ihn gern – aber heiraten…«

 

»Die meisten Menschen haben ja noch nicht einmal die Leute gern, die sie heiraten«, meinte Mr. Orford nachdenklich. Er traute sich aber immer noch nicht, sie anzusehen. »Und diese Heirat würde – wird – nun ja, es würde keine Ehe im gewöhnlichen Sinne werden. Sie könnten mir und John damit den größten Dienst tun, den ein Mensch einem andern erweisen kann. Der Captain hat die Autorität, die Trauung zu vollziehen. Sie können ja die kirchliche Feier später nachholen, wenn Sie Gelegenheit dazu haben.«

 

»Aber ich möchte ja gar nicht heiraten«, protestierte Penelope.

 

»Sind Sie vielleicht verlobt?«

 

»Nein«, sagte sie fast zornig. »Ich muß doch nicht verlobt sein, um diesem Plan zu widersprechen. Die ganze Geschichte ist doch absurd!«

 

»Das ist nun wieder der menschliche Faktor!« sagte er leise zu sich selbst. »Überlegen Sie es doch noch einmal.« Er rauchte eine Weile heftig. »Ich zahle Ihnen hunderttausend Dollar, wenn Sie John heiraten«, schlug er dann kühl und geschäftsmäßig vor.

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Und Sie werden ein Einkommen haben, wie Sie es sich niemals haben träumen lassen –«

 

»Das hat alles keinen Zweck, Mr. Orford«, erwiderte sie ruhig. »Geld hat keinen Einfluß auf meine Entschlüsse. Weiß John, daß Sie für ihn um meine Hand anhalten?«

 

Er nickte.

 

»John ist in gewisser Weise sehr scheu. Er selbst hat nicht die leiseste Hoffnung, daß Sie meinem Vorschlag zustimmen werden.«

 

»Ich hätte ihn für etwas vernünftiger gehalten«, sagte sie bitter, als sie sich erhob.

 

Er sah zu ihr auf.

 

»Miss Pitt, würden Sie John auch nicht heiraten, wenn Sie dadurch sein Leben retten könnten?« fragte er ruhig.

 

»Aber das ist doch eine rein hypothetische Frage –«

 

»Nein, glauben Sie mir. Ich hatte John allerdings versprochen, Ihnen dies nicht zu sagen. Wenn sich im nächsten Monat gewisse Dinge ereignen und er nicht verheiratet ist – ja, dann würde ich keine zehn Cent mehr für sein Leben geben.«

 

Sie starrte ihn an.

 

»Ist das Ihr Ernst?«

 

»Mein voller Ernst.« Mr. Orford stand auf, ging zur Reling und schaute auf das Meer hinaus. »Es ist möglich, daß Sie ihn nicht vor einer Gefängnisstrafe retten, das liegt nicht in Ihrer Macht. Bevor Sie an Bord kamen, hoffte ich, ihn retten zu können. Aber Sie können wenigstens sein Leben schützen. Zweimal wurde schon ein Mordanschlag auf ihn verübt.«

 

»Von wem?«

 

Er zeigte mit dem Kopf nach unten.

 

»Dorbans?« fragte sie atemlos.

 

»Zweimal versuchten sie, ihn beiseite zu schaffen«, erwiderte er grimmig, »und sie werden vielleicht noch Erfolg haben.«

 

»Ich weiß nicht, was das alles zu bedeuten hat«, rief sie verzweifelt. »Das klingt so schrecklich, daß ich es kaum glauben kann –«

 

»Sie müßten doch eigentlich Mrs. Dorban kennengelernt haben. Sie ist zu allem fähig.«

 

Penelope schauderte.

 

»Ich werde Sie jetzt nicht mehr belästigen, Miss Pitt. Wir müssen eben sehen, alles so gut wie möglich zu arrangieren.« Er warf seine Zigarre ins Meer. »Ich bin schon so weit gekommen, daß ich mich über den Fehlschlag meiner Organisation nicht mehr aufrege. Früher war ich der Ingenieur, jetzt bin ich Zuschauer und Fatalist geworden.«

 

Er blieb an der Reling stehen, stützte die Ellenbogen auf das Geländer und schaute düster in das Wasser. Sie stand unentschlossen neben ihm, ihre Gedanken wirbelten durcheinander, und ihr Herz schlug wild.

 

»Wenn ich nun meine Einwilligung gäbe, Mr. Orford – was würde das für mich bedeuten?« fragte sie heiser.

 

»Ich will Sie nicht drängen.«

 

»Aber bitte, sagen Sie mir doch, in welche Lage ich dadurch kommen würde?«

 

»Sie würden nur Ihren Namen ändern – im übrigen wären Sie so frei, wie Sie jetzt sind, sogar noch unabhängiger, denn Sie würden über viel Geld verfügen. Ich weiß, daß das Ihre Entscheidung nicht beeinflußt, aber ich möchte Ihnen doch den Rat geben, das Geld nicht zu verachten. Es ist ein wesentlicher Faktor in dieser bösen Welt, und es birgt eine große Macht in sich. Es erlaubt Ihnen, sich ganz Ihren Liebhabereien zu widmen.« Das sagte er mit einem so strahlenden Lächeln, daß sie lachen mußte.

 

»Nun gut – ich will es mir überlegen.« Sie runzelte die Stirn. »Nein, ich will es nicht mehr überlegen – ich will Sie meine Entscheidung gleich wissen lassen. Wenn Sie mir in allem Ernst sagen, daß ich Johns Leben dadurch retten kann, werde ich ihn heiraten. Wer wird uns trauen?«

 

»Der Captain«, erwiderte Mr. Orford schnell. »Die Sache kann sehr bald geregelt werden.«

 

Plötzlich fuhr er zusammen und beugte sich hinunter. Dann legte er den Finger auf die Lippen und führte sie von dem Geländer fort. »Sie haben uns wahrscheinlich gehört!«

 

»Wer? Meinen Sie die Dorbans?«

 

Er nickte.

 

»Wir haben uns direkt über ihrem Kabinenfenster unterhalten! Ich fange an, alt zu werden.«