13

 

Mit der langsam niederfallenden Dunkelheit des düsteren Wintertages wuchsen Beryl Martins Befürchtungen immer mehr.

 

Unentwegt dachte sie an das Gesicht Franks, an den furchtbaren Entschluß, den sie in seinen Augen gelesen hatte.

 

Sie schob die Vorhänge zur Seite und schaute in den dichten Nebel hinaus. Wie leicht mußte es in einer solchen Nacht sein, ein verzweifeltes Vorhaben auszuführen … Sie wanderte von Zimmer zu Zimmer – hin und her – hin und her …

 

Als die Unruhe schließlich unerträglich wurde, zog sie sich kurzentschlossen an und rannte, ohne auf die Fragen ihrer Mutter zu antworten, aus dem Haus.

 

Ein Taxi brachte sie in für ihre Ungeduld viel zu langsamer Fahrt nach Braymore House.

 

Dort kam ihr die Nutzlosigkeit ihres Beginnens erst so richtig zum Bewußtsein. Grau und im Nebel kaum erkennbar lag die Fassade des Hauses vor ihr. Kaum anzunehmen, daß sie Frank wirklich abfassen konnte, wenn er hier war.

 

Dennoch stand sie wie festgebannt auf dem menschenleeren Gehsteig und beobachtete die Fenster, hinter denen sie Loubas Wohnung vermutete.

 

Plötzlich berührte eine Hand ihren Arm, und sie unterdrückte einen Aufschrei.

 

»Oh …! Wer sind Sie?« stieß sie erschrocken hervor und atmete erst wieder freier auf, als sie sah, daß kein Polizist neben ihr stand.

 

»Sie warten schon so lange – sicher frieren Sie«, sagte eine sanfte Stimme an ihrer Seite, und sie bemerkte einen kleinen Mann mit hagerem, gutmütigem Gesicht im Schein der nächsten Straßenlaterne.

 

»Woher wissen Sie, daß ich warte?« rief sie.

 

»Weil ich auch warte«, erwiderte er.

 

»Sie …? Worauf?«

 

»Sie beobachten doch auch Loubas Fenster, nicht wahr?«

 

»Wie … nein … Ich beobachte überhaupt kein Fenster. Ich … ich …?« Sie war ganz verwirrt.

 

Wer konnte das nur sein? Polizei? Nein, ausgeschlossen.

 

»Warum sind Sie hier?« fragte sie mutig. »Erwarten Sie, daß etwas passiert?«

 

»Oh, ich weiß nicht. In der letzten Zeit bin ich in sehr guter Stimmung. Ich habe lange, sehr lange warten müssen, doch jetzt, glaube ich, ist die Wartezeit vorüber.«

 

»Wie lange warten Sie schon«

 

»Jahre … viele Jahre.«

 

»Jahre? Ich meine, wie lange warten Sie schon hier draußen?«

 

»Nun, seitdem es dunkel wurde.«

 

»Und sahen Sie jemand hineingehen?« flüsterte sie atemlos.

 

»Sie meinen durch das Fenster?« Er lächelte. »Gewiß, ich habe jemand gesehen … Auch früher wurde dieses Fenster schon einmal benutzt. Ich entsinne mich, vor Jahren …«

 

»Wer stieg durch das Fenster?«

 

»Ein Mann … ein Mann, auf den ich große Hoffnung setze … Er ist auch wieder herausgekommen, und ich weiß nicht genau –«

 

»Wie lange ist das her? Seit wann ist er wieder draußen?«

 

»Oh, schon eine ganze Weile.« Er betrachtete aufmerksam ihr ängstliches Gesicht. »Es war nicht der, an den Sie denken.«

 

»Was meinen Sie? Woher wissen Sie das?« rief sie.

 

»Sind nicht Sie die junge Dame, die Louba zur Heirat zwingen wollte?«

 

»Das wissen Sie?« Sie konnte vor Staunen nicht weiterreden.

 

»Ich schaute gestern abend durch das Fenster«, entgegnete er ruhig. »Ich hörte zwar kein Wort … aber ich kenne Louba gut genug. Ich sah die Papiere und Ihr Gesicht …«, schloß er nachdenklich.

 

»Wer sind Sie?«

 

»Mein Name ist Weldrake. Ich bin niemand von Bedeutung … aber ich hatte einmal einen Sohn. Er sah nicht so aus wie ich – er war ein großer, strammer Junge –«

 

»Worauf hoffen Sie?« unterbrach sie ihn.

 

»Ich versprach meinem Jungen, daß er gerächt würde. Ich versprach ihm, nicht zu Hause zu bleiben, bis dies geschehen sei. Und so warte ich, warte schon sehr lange … In jedem Jahr bekommt Louba neue Feinde. Es kann jetzt nicht mehr lange dauern. Vielleicht, daß er schon morgen früh …«

 

Beryl schauderte unwillkürlich. Der Mann war ihr unheimlich. Was wußte er nur von Frank? In welchem Verdacht hatte er ihn?

 

»Ich glaube, es ist besser, ich gehe«, sagte sie und versuchte krampfhaft, ihrer Stimme einen tapferen Klang zu geben.

 

Der kleine Mann sah ihr mit einem seltsamen Lächeln nach, als sie eilig die Straße überquerte, drehte sich dann selbst auf dem Absatz um und verschwand im Nebel.

 

Beryl war nur bis zur nächsten Ecke gegangen. Angestrengt beobachtete sie von dort aus weiter das düstere Haus. Durchdrungen von dem brennenden Wunsch, zu wissen, was in Loubas Wohnung vorging … Hätte sie es gewußt, wäre sie entsetzt davongerannt.

 

Emil Louba lag ausgestreckt auf seinem Bett – tot! Und neben dem Bett stand Frank Leamington mit geballten Fäusten und schaute auf die Leiche.

 

Er hatte geschworen, Louba eher zu töten, als mit anzusehen, wie er Beryl heiratete; aber jetzt, nachdem der Verhaßte tot war, malte sich Entsetzen auf seinem Gesicht.

 

Dann riß er sich zusammen. Der Mann hatte unter allen Umständen den Tod verdient. Beryl war gerettet, und er wollte hier sein Geschäft beenden.

 

Er lauschte angestrengt … Kein Laut aus der übrigen Wohnung.

 

Die Schublade des Schreibtisches stand offen, und er begann fieberhaft nach den Schuldscheinen zu suchen. Nichts zu finden. Hastig durchwühlte er Schubfächer, Kästen, den Bücherschrank und Aktenordner. Auch dies war ergebnislos.

 

Die Stille in dem Zimmer war beklemmend. Er warf noch einen Blick auf die Leiche und lief dann, plötzlich von Panik ergriffen, zum Fenster. Geräuschlos stieg er die Feuerleiter hinunter.

 

Der Nebel war noch dichter geworden. Man konnte kaum mehr die Hand vor den Augen sehen, und Frank tastete sich vorsichtig durch den dunklen Hofeingang. Da berührte er auf einmal mit der vorgestreckten Hand eine Gestalt und schrak zurück.

 

»Wer ist da?« rief er.

 

»Frank!«

 

»Du, Beryl? Schnell – komm!«

 

Er packte ihre Hand und rannte mit ihr die Straße entlang.

 

»Was tust du hier, Beryl?« fragte er nach einer Weile und blieb keuchend stehen.

 

»Ich hatte so Angst, Frank. Dauernd fühlte ich, daß heute irgend etwas passiert … Ich mußte etwas unternehmen. Gerade wollte ich in Loubas Wohnung gehen. Ist er da? – Louba – ist er zu Hause?«

 

»Ja – er ist zu Hause.«

 

»Und du hast ihn gesehen, Frank? Du hast dich mit ihm gestritten? Du hast …« Sie wagte nicht, den Satz zu vollenden.

 

»Du mußt nach Hause, Beryl«, flüsterte er heiser. »Hat dich jemand gesehen?«

 

»Ich weiß nicht … ein kleiner Mann … Sag mir doch, was du getan hast, Frank.« Sie schluchzte und klammerte sich an seinem Mantel fest. »Sag es mir, ich muß es wissen, Frank!«

 

»Gar nichts habe ich gemacht, Beryl … Deine Schuldscheine konnte ich nicht finden. Wie hoch war die Summe? Er hatte die Scheine doch in seinem Besitz – du hast sie mit eigenen Augen gesehen?«

 

»Ja. Fünfzigtausend Pfund. Mach dir doch keine Sorgen um die Scheine oder um mich! Es geht um dich, Frank! Was ist vorgefallen?«

 

»Möglich, daß es nichts schadet, wenn man sie findet wenigstens soweit es dich betrifft. Niemand könnte dich bezichtigen … und er hat, soviel ich weiß, keine Erben.« Nachdenklich schaute er nach Braymore House zurück.

 

»Wie konntest du nach diesen Scheinen suchen, wenn er da war … oder ist er … ist er …« Sie konnte kaum mehr sprechen vor Aufregung.

 

Er sah sie ernst an.

 

»Beryl«, sagte er und beugte sich ganz nah zu ihr herunter. »Ich habe Louba gesehen … Stelle keine Fragen! Aber ich schwöre dir – ich habe ihm nichts getan. Glaub mir das, Beryl, und geh jetzt nach Hause.«

 

Sie glaubte ihm ja so gerne und wollte auch gar keine Fragen mehr stellen. Erschöpft lehnte sie sich an ihn.

 

»Willst du mich denn nicht nach Hause bringen?« fragte sie.

 

»Nein, Beryl. Entschuldige bitte. Ich …«

 

»Was willst du denn noch hier?«

 

»Ich muß noch mit einem Freund sprechen … Entschuldige …«

 

Er drehte sich unvermittelt um und rannte hastig davon.

 

An der nächsten Seitenstraße, in die er einbiegen wollte, zerrte jemand an seinem Ärmel. Entsetzt fuhr er zusammen.

 

Ein unscheinbarer kleiner Mann stand vor ihm und flüsterte:

 

»Wie geht es Louba?«

 

»Was, zum Teufel, wollen Sie?« knurrte Frank.

 

»Ich sah Sie in das Haus gehen – und wieder herauskommen. Ist Louba etwas zugestoßen?«

 

»Was reden Sie denn? Nein!« Frank rieselte es kalt über den Rücken. »Ich kenne Louba gar nicht.«

 

»Natürlich nicht, Sie haben ganz recht, nichts darüber zu sagen«, entgegnete der andere mit einer Bereitwilligkeit, die Franks überanstrengten Nerven drohender vorkam als alles andere. »Sie müssen wissen, er hat meinen einzigen Sohn umgebracht. Ich habe gewartet, daß er dafür büßt … Und ich glaube – ich kann endlich beruhigt nach Hause gehen.«

 

Das letzte sagte er mit einem so seltsamen Lächeln, daß Frank völlig den Kopf verlor. Er hatte nur noch den einen Wunsch, fort von diesem Mann, fort aus der Nähe von Loubas Wohnung zu kommen.

 

»Sie sind wahnsinnig!« stieß er mühsam hervor und rannte blindlings weiter durch den Nebel.