Kapitel 5

 

5

 

»Liebe Kate, ich weiß mir kein größeres Vergnügen, als dich mit meinen vielen Fehlern zu verschonen! Wenn es mir nicht gelingt – rege dich nicht darüber auf. Ich bitte dich inständig!«

 

Abgestumpft und fast gleichgültig schaute sie ihn an. Sein hämisches Lächeln, sein frecher Blick, selbst die offene Verachtung in seinen Augen konnten sie längst nicht mehr aufregen.

 

Mit halboffenem Mund wartete sie auf die Fortsetzung seiner Rede. Der Spott in seinem Ton, seine gehobene Laune bedeuteten nichts Gutes. Das wußte sie aus bitterer Erfahrung.

 

»Ich habe das Mißgeschick, dir schon seit einiger Zeit zu mißfallen«, fuhr er endlich fort. »Das quält mich…, und ich will unbedingt dein Glück vor meinem eigenen berücksichtigen.«

 

Er zündete sich sorgfältig eine Zigarre an und warf das Streichholz in den dunklen Garten hinaus.

 

Im Zimmer war kein Licht. Sie standen sich in dem matten gelben Schein gegenüber, der durch die Glasscheibe der Tür fiel.

 

Sie war eben aus den hellerleuchteten Räumen geflohen, in denen Louba sein altes Geschäft betrieb – sich auf Kosten anderer Leute zu bereichern. In diesem kleinen Zimmer auf der Rückseite des Lokals saß sie abends gewöhnlich stundenlang.

 

»Hast du vorhin wirklich den jungen Amerikaner beim Spiel betrogen?« fragte sie.

 

»Sei nicht so zimperlich, liebste Kate«, versetzte er höhnisch. »Dein Verhalten war – zum mindesten unbesonnen und hätte zweifellos Folgen gehabt, wenn ich nicht so geschickt reagiert hätte. Im übrigen – sei lieber ruhig… Du bist mir nicht einmal im Geschäft eine Hilfe! Dabei habe ich dich aus lauter Rücksicht auf deine gute Erziehung nicht einmal gebeten, im Kabarett als Tänzerin aufzutreten. Ich habe nicht mehr und nicht weniger von dir verlangt, als daß du an den Spieltischen präsidierst und möglichst hübsch aussiehst.«

 

Gelangweilt zog er die Schultern in die Höhe.

 

»Vielleicht kannst du tatsächlich nichts dafür, daß du nicht mehr hübsch bist – aber das ist noch lange kein Grund, meine Kundschaft mit deinem unfreundlichen Gesicht anzuöden.«

 

»Nun, und weiter…?« fragte sie. Es war ihr klar, daß dies alles nur die Einleitung war.

 

»Da ich dich nicht mehr glücklich machen kann, habe ich beschlossen, dich an jemand abzutreten, der es bestimmt fertigbringt.«

 

»Abtreten… mich…?« Sie lehnte sich weit vor. Ihr weißes Gesicht zeichnete sich im Lichtschimmer, der durch die Tür fiel, scharf gegen die Dunkelheit des Zimmers ab.

 

Er hob die Hand.

 

»Nur keine Mißverständnisse, Kate! Ich spreche von einem Gatten für dich, und ich werde höchstpersönlich dafür sorgen, daß die Ehe glücklich wird.«

 

Sie griff sich an den Hals, konnte aber keine Worte hervorbringen.

 

»Keine Angst, keine Angst – ein alter Freund von dir … Charles Berry ist der Glückliche. Du liebst ihn doch, wie?« fragte Louba im sanftesten Tonfall und mit verstecktem Spott.

 

»Ich soll Charles Berry heiraten?« Sie rang nach Atem. »Niemals!«

 

»Doch, liebe Kate. Du heiratest ihn bestimmt – weil ich es will!«

 

»Und ich will es nicht!«

 

»Das sagst du mir, sozusagen deinem Vormund? Wie könnte ich je wieder nach England zurückkehren, wenn ich dich unbeschützt hier lassen müßte? Glaubst du, ich hätte kein Gewissen?«

 

Die Situation bereitete ihm ein köstliches Vergnügen. Aber bevor er fortfahren konnte, wurde die Tür hinter ihnen aufgerissen, und ein Mann stürzte herein.

 

»Louba, sind Sie hier?« fragte eine heisere Stimme.

 

»Ja. Wer sind Sie?«

 

»Vacilesco. – Verstecken Sie etwas für mich, Louba! Nur so lange, bis ich meine Verfolger los bin…«

 

Er brach ab und lauschte. Vom Gang her hörte man Schritte.

 

»Sie sind mir schon auf den Fersen! Hier, verstecken Sie dies – ich beteilige Sie am Erlös, Louba!«

 

Er drückte Louba etwas in die Hand, sprang auf das niedrige Fensterbrett, von dort in den Garten und rannte in Richtung der Gartenmauer davon.

 

Louba konnte den Gegenstand eben noch blitzschnell unter dem nächsten Kissen verstecken, als die Tür von neuem aufflog.

 

»Was ist denn schon wieder los? Wer seid Ihr?« herrschte er die Eindringlinge an und drehte den Lichtschalter.

 

Kate erblickte drei ziemlich finstere Gesellen, von denen der eine hastig hervorstieß:

 

»Hier kam jemand herein… Wo ist er?«

 

Louba zeigte wortlos nach dem Garten, und ohne auf weitere Erklärungen zu warten, schwangen sich die Männer durch das Fenster und waren gleich darauf in der Dunkelheit verschwunden.

 

»Du bleibst hier und gibst auf das Ding acht!« befahl Louba der zitternden Frau. Dann folgte er den Männern. Aus Teilhaberschaften hatte er sich noch nie viel gemacht …

 

Vorsichtig eilte er dem Laut der Schritte nach, die er deutlich vor sich auf dem kiesbestreuten Gartenweg hörte.

 

Kurz vor der hohen Mauer, die den parkartigen Garten des Hauses umgab, erreichten die Verfolger ihr Opfer. Louba kauerte sich in den Schatten eines Gebüsches.

 

Er sah die miteinander ringenden Gestalten, hörte das Schurren der Füße, das Keuchen … Dann plötzlich ein halberstickter Schrei und – Stille…

 

Scharf spähend unterschied er, wie die drei sich an dem am Boden liegenden Mann zu schaffen machten, nach kurzer Zeit aufstanden, einen Moment beratschlagten und dann in der dem Loubaschen Hause entgegengesetzten Richtung davonliefen.

 

Nach ein oder zwei Minuten schlich er zu der stillen, an der Erde liegenden Gestalt und untersuchte sie kurz.

 

Mit leisen Schritten kehrte er dann zum Haus zurück.

 

Kate saß noch so da, wie er sie verlassen hatte.

 

»Was ist passiert?« fragte sie schnell, durch die vielsagende Art, mit der er seine Hände und seine Kleider auf Blutflecken untersuchte, erschreckt.

 

»Ich fürchte, die Burschen haben Vacilesco erstochen. Aber das geht uns nichts an – verstehst du? Wir wissen von nichts!« entgegnete er drohend. »Daß du mir ja keinen Fehler machst, Kate!«

 

Er schloß die Fenster und zog die Vorhänge zu, bevor er seine Beute unter dem Kissen hervorholte und untersuchte.

 

Es war ein mit bunten Glasperlen aller Art verziertes Holzkästchen. In der Mitte einiger zu Ornamenten verschlungener Perlenreihen trug es jeweils ein paar Simili-Edelsteine.

 

Erwartungsvoll klappte er den Deckel auf und war enttäuscht, als er es leer fand.

 

»Vacilesco ist anscheinend zu spät damit fortgerannt«, brummte er zynisch. »Sonderbar…«

 

Das Kästchen war innen mit weißem Seidenstoff ausgeschlagen, nur der Boden war wie auf der Außenseite mit Glasperlen und farbigem Glas belegt. Als er seine Finger darübergleiten ließ, entdeckte er zufällig eine Feder, durch die der falsche Boden sich öffnen ließ.

 

Einen Moment grinste er vergnügt, aber schon der nächste Blick zeigte ihm, daß auch der Raum darunter leer war.

 

Stirnrunzelnd überlegte er eine Weile… Dann zuckte er gleichgültig mit den Schultern.

 

»Na, Vacilesco hat dafür gezahlt – nicht ich!«

 

Er stellte das Kästchen auf den Tisch und nahm sich eine Zigarre.

 

»Du wolltest mir vorhin etwas mitteilen«, sagte Kate und beobachtete ihn scharf. »Was soll das heißen: ich soll Charles Berry heiraten?«

 

»Genau das soll es heißen, und nichts anderes. Wir trennen uns, du und ich; aber zuerst verheirate ich dich. Der zweite Stock von Braymore House in London, wo du so angenehme Stunden verbracht hast, gehört noch mir – ich werde bald dorthin zurückkehren. Aus Gründen, die du nicht erraten kannst, ist es mir lieb, dich als Frau Berry hierzulassen.«

 

»Ist das dein Ernst…? Das ist doch selbst für dich fast zu schmutzig und gemein!« stieß sie hervor.

 

»Schmutzig? Gemein? So eine Undankbarkeit! Denk nur daran, wie ich dich hätte sitzenlassen können! Ja…«

 

Er brach plötzlich ab, als seine Augen zufällig auf das Kästchen fielen.

 

»Jetzt weiß ich es wieder!« rief er triumphierend. »Ich habe das Ding schon einmal gesehen. Ja, ja – es war…«

 

»Ich will nichts davon hören!« schrie sie. »Bleib bitte bei unserer Unterhaltung!«

 

»Oh, ich sah das Kästchen zu einer Zeit, an die du dich sehr gerne erinnerst«, spottete er. »Entsinnst du dich nicht, daß wir während unserer, ach so schönen, Flitterwochen einmal zusammen im Bazar waren und beobachteten, wie jemand einen unerhörten Preis für ein Kästchen zahlte…?«

 

»Sei ruhig!« Sie hielt verzweifelt die Hände vors Gesicht.

 

Er lachte.

 

»Wie schade, daß solche Zeiten nicht ewig dauern, Kate, wie?«

 

»Ich erinnere mich eben an einen Mann, der mich warnte«, erwiderte sie bitter. »An jenem Tag … ich schlug seine Warnung in den Wind.« Sie wandte ihr Gesicht ab.

 

»An jenem Tag? Ich wüßte nicht, wer damals mit dir gesprochen hätte… Aber das ist ja auch gleichgültig. Ich muß zurück zu meinen Gästen – meinen Opfern, wenn du das lieber hörst.«

 

Wieder fiel sein Blick auf das Kästchen.

 

»Ich will es als Andenken an dich aufheben, o geliebte Kate … als Andenken an unsere bezaubernde Idylle.«

 

Er ging grinsend zur Tür, konnte sich aber einen letzten Hieb nicht versagen.

 

»Du brauchst natürlich kein solches Andenken! Das Kompliment kann ich mir schon machen, daß du mich bestimmt nie vergißt.« Lachend schlug er die Tür hinter sich zu.

 

Kapitel 6

 

6

 

»Erkennen Sie mich nicht mehr, Miller?«

 

Die Jahre waren nicht spurlos an Charles Berry vorübergegangen, aber trotzdem war Miller gleich über ihn im Bilde. Er hatte noch eine ganz persönliche Erinnerung an Mr. Berry, weil er einmal von Louba angefahren worden war, als er etwas über den Zweck von Berrys Besuchen hatte herausbekommen wollen.

 

»Wie geht es Ihnen, Miller?« fuhr Berry fort und streckte ihm leutselig die Hand entgegen.

 

»Danke, Sir. Und Ihnen?« fragte Miller zurück.

 

Es war offenkundig, daß sich Berry auf freundschaftlichen Fuß mit ihm stellen wollte.

 

Sie hatten sich eben vor Braymore House getroffen. Es war ein kalter, feuchter Abend.

 

»Bin gerade nach England zurückgekehrt«, sagte Berry. »Haben Sie etwas Besonderes vor?«

 

»Ich bringe Herrn Louba die Nachmittagspost in den Elect Club.«

 

»Hm – ist er dort?«

 

»Ja. Wollen Sie ihn sprechen?«

 

»Deswegen bin ich nach England zurückgekommen. Wahrscheinlich werde ich ihm aus verschiedenen Gründen die Hölle heiß machen. Hören Sie mal, wollen wir nicht ein Gläschen zusammen trinken – oder haben Sie’s eilig?«

 

»Auf fünf Minuten kommt es mir nicht an.«

 

Sie gingen nebeneinander her. Der naßkalte Wind pfiff ihnen um die Ohren.

 

»Was haben Sie gegen Herrn Louba?« fragte Miller neugierig.

 

»Höchst einfach – er zahlt mir nicht, was er mir schuldet. Wie steht es nach Ihrer Meinung mit seinen Finanzen? Ist etwas faul?«

 

»Wie kommen Sie darauf?«

 

»Wissen Sie etwas?«

 

Sie schauten einander unsicher an.

 

»Reden wir nicht lange darum herum«, sagte Berry. »Es ist das vernünftigste, wir schenken einander gleich reinen Wein ein. Louba ist im Rückstand mit seinen Zahlungen an mich, und ich frage mich, ob ihm das Geld ausgeht. Wie steht es bei Ihnen?«

 

»Meinen Lohn hat er auch noch nicht bezahlt«, brummte Miller.

 

»Oho…!«

 

Berry begann zu grübeln. Dann wandte er plötzlich den Kopf und machte Miller auf einen kleinen Mann aufmerksam, der ihnen schon seit einiger Zeit gefolgt war.

 

»Kennen Sie den Burschen da?« fragte er. »Er kommt mir irgendwie bekannt vor…«

 

»Wie er heißt, weiß ich nicht, ich habe ihn hier schon öfters herumlungern sehen.«

 

An der Ecke war ein kleines Restaurant, und als sie es sich an einem der Tische bequem gemacht hatten, wurde Berry vertraulich.

 

»Offen gesagt – ich habe schon mit Louba gesprochen«, erklärte er.

 

»Was, seit Ihrer Rückkehr?«

 

»Ja. Sie waren gerade nicht da. Louba sagte mir, er sei pleite und wolle versuchen, aus dem Land zu verschwinden und dazu so viel Geld wie nur möglich zusammenzukratzen.«

 

Miller pfiff leise durch die Zähne.

 

»Feine Kiste! Und wie steht’s mit meinem Lohn?«

 

Berry zuckte die Schultern.

 

»Erwarten Sie nicht, daß Louba sich darum kümmert!«

 

»Ich verstehe«, nickte Miller. »Er will mich hereinlegen…«

 

Berry lachte.

 

»Warum sollte er Sie besser behandeln als andere, Miller?« meinte er und sah dann plötzlich auf.

 

Der kleine Mann, den sie auf der Straße beobachtet hatten, betrat das Lokal und nahm an einem Nachbartisch Platz. Berrys unhöfliches Anstarren beantwortete er mit einem arglosen Blinzeln.

 

»Was will der Bursche nur?« murmelte Berry. Obwohl der Mann völlig harmlos aussah, war er ihm unbehaglich.

 

»Nach all den Jahren, die ich ihm gedient habe!« funkte Miller dazwischen, dessen Gedanken immer noch bei Louba und seinem persönlichen Groll gegen ihn waren. »Aber ich hatte schon die ganze Zeit über Verdacht…«

 

»Warum?«

 

»Ich weiß, daß seine Geschäfte ziemlich schlecht gehen und daß er eine Menge Geld verloren hat. Außerdem entdeckte ich vor einigen Tagen beim Aufräumen einen Paß… Ausgestellt auf einen falschen Namen, aber mit seiner Fotografie darauf.«

 

»Aha! Er will sich also tatsächlich aus dem Staub machen.«

 

Berry stürzte sein Glas hinunter und setzte es heftig auf den Tisch.

 

Miller folgte seinem Beispiel, und Berry bestellte für jeden noch einen Doppelten.

 

Je mehr sie tranken, desto schändlicher fühlte sich Miller behandelt, und Berry pflichtete ihm eifrig bei. Er war sehr zufrieden mit dem augenblicklichen Geisteszustand des Dieners. Als er einmal zufällig aufsah, entdeckte er, daß ihnen der kleine Mann mit geradezu unverfrorener Neugierde zuhörte.

 

»Freundchen«, sagte Berry vernehmlich. »Erzählen wir uns etwas, was Sie interessiert?«

 

»Entschuldigen Sie vielmals«, entgegnete der kleine Mann. »Aber ich hörte zufällig, daß Sie von Herrn Louba sprachen.«

 

»Freund von Ihnen?«

 

»Um Gottes willen, nein, nein! Aber ich interessiere mich sehr für ihn.«

 

»Ach, warum denn?«

 

Der kleine Mann zog seinen Stuhl an ihren Tisch.

 

»Ich habe festgestellt, daß da Costa eine Wohnung im Braymore House hat, die über der Loubas liegt.«

 

»Das stimmt«, erklärte Miller. »Aber deswegen ist er noch lange kein Freund Loubas.«

 

»Ich weiß, ich weiß«, gab der kleine Mann zurück. »Deshalb hoffe ich ja auch so stark…«

 

»Was haben Sie eigentlich mit Louba zu tun?« fragte nun Berry.

 

»Oh, nicht viel«, erwiderte der kleine Mann sanft. »Ich traf ihn vor Jahren – es ist schon lange her. Ich habe inzwischen nie die Hoffnung verloren, daß… Besonders hoffe ich auf da Costa. Sie hatten wieder Streit miteinander. Daß sie Konkurrenten sind, wissen Sie ja. Da Costa vergißt nicht so leicht!«

 

»Was, zum Teufel, hat denn das alles mit uns zu tun?«

 

»Oh, verzeihen Sie, vielleicht gar nichts. Ich interessiere mich eben für alles, was Louba betrifft. Es hilft mir… Nicht, daß ich je die Hoffnung verlöre«, flüsterte er und stand auf. »Ich habe davon seit Jahren gezehrt. Und ich kann warten…«

 

Er machte eine linkische Verbeugung und ging.

 

Berry tippte sich an die Stirn und wandte sich wieder an Miller.

 

»Total verrückt«, sagte er. »Aber nun hören Sie mal, Miller – können wir nicht verhindern, daß dieser Louba sein ganzes Geld zusammenrafft und sich aus dem Staub macht?«

 

»Ich wüßte nicht wie!«

 

»Hm – wir können nicht verhindern, daß er ausreißt, aber wir könnten uns wenigstens vorher einen Teil seiner Beute sichern. Sie sind doch mit ihm in derselben Wohnung…«

 

Miller setzte sein Glas so hastig ab, daß ein Teil des Whiskys auf die marmorne Tischplatte überschwappte.

 

»Was soll das heißen? Halten Sie mich für einen Dieb?«

 

»Dann würde ich mich überhaupt nicht mit Ihnen unterhalten«, antwortete Berry mit etwas übertriebener Großspurigkeit.

 

»Was soll dann diese Andeutung, daß ich in derselben Wohnung mit Louba bin?«

 

»Nun, Sie könnten immerhin dafür sorgen, daß er nicht allein von dem Geld profitiert, das er von anderen ergaunert hat«, erklärte Berry mit gespielter Entrüstung. »Diesem Kerl das Geld wegzunehmen, das ihm überhaupt nicht gehört, ist geradezu eine gute Tat! Ich sage Ihnen, ich würde mir nichts daraus machen, einen Schurken wie Louba auch einmal hereinzulegen.«

 

»Hm, in der Theorie sieht das ganz gut aus«, brummte Miller. »Da stimme ich Ihnen bei. Aber wenn es zur Praxis kommt…« Er schüttelte den Kopf. »Ich will das Risiko nicht übernehmen, einem Richter den Unterschied zwischen Recht und Unrecht klarzumachen.«

 

»Nur keine Sorge, das eigentliche Risiko übernehme ich schon selbst«, versprach Berry. »Sie haben nichts zu tun, als die Augen offenzuhalten – sofort wenn eine größere Summe im Haus ist, sagen Sie es mir. Das Ding drehe ich dann allein, wenn nur Sie die Gelegenheit ausbaldowern. Und wir teilen fifty-fifty, als ob Sie genausoviel Risiko übernommen hätten. Na, was halten Sie davon?«

 

Miller sagte eine ganze Weile überhaupt nichts. Eigentlich war er viel zu furchtsam, um den Vorschlag überhaupt ernsthaft zu diskutieren. – Aber er fuhr fort zu trinken, und je mehr er trank, desto mehr verdüsterte sich sein Gesicht, denn die Ungerechtigkeit seines Herrn wuchs in seinen Augen kongenial zu der Menge des vertilgten Whiskys.

 

Charles Berry verlor nicht die Geduld und ließ ein frisches Glas nach dem anderen auffahren.

 

Kapitel 7

 

7

 

»Was wünschen Sie, Mr. Louba?«

 

»Könnte ich Sie kurz sprechen, Miss Martin? Ich möchte Ihnen gerne etwas Wichtiges sagen.«

 

Miss Beryl Martin, die an dem von Menschen dicht umdrängten Spieltisch stand, nickte mit dem Kopf und ging mit Louba zu einer Fensternische.

 

»Spielen Sie heute abend nicht?« murmelte er.

 

Sie schüttelte mit ziemlich gedrücktem Gesichtsausdruck den Kopf.

 

»Mister Louba, würden Sie mir jetzt einmal genau sagen, wieviel ich Ihnen eigentlich noch schulde. Ich muß jetzt unbedingt aufhören zu spielen. Das, was ich verloren habe, kann ich doch nie mehr zurückgewinnen, und ich muß jetzt irgendwie wenigstens die Schulden bei Ihnen loswerden. Sie sagen mir dauernd, daß es gar nicht so viel ist – wollen Sie mir nicht reinen Wein einschenken?«

 

»Genau über diesen Punkt wollte ich gerade mit Ihnen sprechen«, entgegnete er. »Hier können wir schlecht miteinander reden… Kommen Sie.«

 

Sie folgte ihm in ein kleines Zimmer im Parterre, dessen Fenster zum Hof hinaus lagen.

 

Das Haus, in dem sie sich befanden, gehörte Sir Harry Marshley, aber Louba schien sich darin völlig ungeniert zu bewegen.

 

»Glauben Sie mir, Miss Martin, ich erwähne diese Angelegenheit nicht gerne«, sagte Louba. »Und bevor ich Ihnen ernstlich Sorgen mache, würde ich lieber selber einen Verlust in Kauf nehmen… Aber ich hoffe auf etwas anderes.«

 

Vor seinem kühnen Blick wich sie instinktiv zurück.

 

»Ich möchte natürlich keinesfalls, daß Sie einen Verlust erleiden, Mister Louba«, antwortete sie hastig. »Sie haben doch sämtliche Schuldscheine, die ich unterschrieben habe, in Händen?«

 

»Ich glaube schon«, erwiderte er anscheinend gleichgültig.

 

»Bitte sagen Sie mir jetzt klipp und klar, wieviel alles zusammen beträgt!«

 

»Fünfzigtausend Pfund.«

 

»Was…?«

 

Sie war so erschrocken, daß sie kaum sprechen konnte.

 

»Das kann doch nicht sein…!! Fünfzigtausend …!« stammelte sie mit kreidebleichem Gesicht.

 

»Es ist so. Soll ich Ihnen die Schuldscheine zeigen? Aber regen Sie sich doch nicht so auf!«

 

»Aber soviel bekomme ich im Leben nicht zusammen! Und meine Mutter hat nichts außer einer Rente – es würde sie umbringen, wenn sie wüßte, daß ich solche Unsummen verspielt habe.«

 

Er zog achselzuckend ein Bündel Schuldscheine mit ihrer Unterschrift hervor und gab es ihr zum Durchblättern.

 

»Miss Martin, ich hätte diese Zettel alle verbrannt, wenn meine eigene finanzielle Lage etwas besser wäre«, murmelte er. »Aber ich habe selbst schwere Verluste erlitten und sehe mich gezwungen, alle meine Außenstände einzutreiben.«

 

»Das heißt – Sie können nicht warten?«

 

»Ich fürchte – nein. Da ich London verlassen will, brauche ich vorher selbst Geld, um meine Verpflichtungen zu regeln.«

 

»Natürlich, das Geld steht Ihnen ja zu. Aber ich…«

 

Sie biß sich auf die Lippen.

 

»Oh, auf einen oder zwei Tage kommt es nicht an«, versetzte er ruhig.

 

»Ich weiß ja gar keinen Weg, wie ich bezahlen soll!« rief sie verzweifelt. »In so kurzer Zeit ist es mir ganz unmöglich…«

 

»Und dabei könnten Sie mich ganz leicht bezahlen«, unterbrach er sie und zog seinen Stuhl näher zu ihr heran. »Hundertfach, wenn Sie nur wollen.«

 

»Was meinen Sie damit?« sagte sie und lehnte sich ängstlich so weit zurück, wie es ihre Stuhllehne erlaubte.

 

Er ergriff plötzlich ihre Hand, die sie ihm sofort wieder entzog.

 

»Wenn Sie meine Frau wären, Beryl, gäbe es keine Schulden mehr für Sie. Und ich selbst würde bald wieder reich sein. Hätte ich Sie an meiner Seite, es gäbe wahrhaftig nichts, was ich nicht tun könnte… Verstehen Sie mich, Beryl? Verstehen Sie, was ich Ihnen anbiete?«

 

»Aber ich bin verlobt – das wissen Sie doch!« rief sie erschrocken und zeigte ihm den Ring an ihrer linken Hand.

 

Er zog die Lippen geringschätzig hoch.

 

»Der arme Teufel! Ich werde Sie schon lehren, ihn zu vergessen.«

 

»Aber ich will ihn gar nicht vergessen, Mr. Louba. Ich werde ihn heiraten.«

 

»Kaum, kaum«, entgegnete er nachlässig.

 

»Mr. Louba, ich verbitte mir Ihr Benehmen. Diese Angelegenheit hat mit meinen Schulden überhaupt nichts zu tun.«

 

»Hm, ich glaube, Sie täuschen sich sehr: wenn Sie meine Frau werden, dann sind Ihre Schulden ohne weiteres meine Schulden, und ich verbrenne die Schuldscheine an unserem Hochzeitstag – der stattfindet, noch bevor ich London verlasse. Wenn Sie dagegen darauf bestehen, diesen Leamington zu heiraten… Nun, seine zukünftige Frau bedeutet mir nicht das Geringste, und ich müßte dann auf prompter Zahlung bestehen. Es tut mir leid, aber da Sie selbst nicht genügend Geld haben, wäre ich in diesem Fall gezwungen, Ihre Frau Mutter aufzusuchen.«

 

»Um Gottes willen…! Eine solche Nachricht könnte sie nie verwinden!«

 

»Es liegt an Ihnen…« Er sah sie vielsagend an.

 

Sie drehte angeekelt den Kopf weg. Ihr Widerwille gegen ihn wurde immer stärker.

 

In diesem Moment fuhr sie plötzlich aus ihrem Stuhl hoch.

 

»Wer ist das?« rief sie erschrocken.

 

»Wer? Wo?«

 

»Jemand war am Fenster und preßte sein Gesicht an die Scheibe …«

 

Er sprang auf und schaute zum Fenster hinaus.

 

»Kein Mensch zu sehen«, erklärte er dann.

 

Sie hatte sich von ihrem Schrecken wieder erholt. »Vielleicht war es einer der Diener – er schaute durch die Lücke im Vorhang herein. Sicher war es nur ein Zufall.«

 

»Möglich. Trotzdem kann ich Menschen nicht leiden, die durch Fensterscheiben in anderer Leute Zimmer schauen.«

 

Er zog die Vorhänge ganz zu, so daß keine Öffnung mehr zwischen ihnen blieb.

 

»Hatte der Bursche etwa einen Schnurrbart und ein ziemlich rotes Gesicht?«

 

»Ich glaube nicht. Aber ich kann es nicht genau sagen.«

 

»Schade – hätte gerne gewußt, wer sich so für mich interessiert«, bemerkte er finster.

 

Es entstand eine kurze Pause, in der er nachdenklich zu Boden starrte, bis Beryl die unterbrochene Unterhaltung wieder aufnahm.

 

»Ein bis zwei Wochen Aufschub können Sie mir doch sicher gewähren?« fragte sie bittend.

 

»Unmöglich. Ich gehe morgen früh zu Ihrer Mutter. Außerdem, was würden Ihnen da auch Tage nützen? Woher wollen Sie denn das Geld bekommen?«

 

»Ich … könnte es eventuell besorgen«, murmelte sie.

 

»Meinen Sie etwa von Leamington? Wollen Sie ihm Ihre Liebe dadurch beweisen, daß Sie ihn ruinieren? Sie glauben doch nicht im Ernst, daß er fünfzigtausend Pfund auftreiben kann.«

 

Sie ballte ihre Hände.

 

»Sie haben recht«, murmelte sie.

 

»Warum sollten Sie sich auch an ihn wenden? Glauben Sie nicht, daß ich Sie glücklicher machen kann als er?«

 

Er hatte ihre Hände gepackt und brachte sein dunkles Gesicht nahe an das ihrige.

 

»Es sieht nur so aus, als ob ich grausam wäre, Beryl«, flüsterte er ihr zu. »Dabei will ich Sie doch nur glücklich machen …«

 

»Wenn Sie das wirklich wollten, dann würden Sie mich nicht so drängen!« rief sie heftig. »Es ist Ihnen ja schon zuviel, wenn ich Sie bitte, noch auf das Geld zu warten.«

 

»Ohne das Geld könnte ich auskommen, Beryl, das ist richtig – aber nicht ohne Sie!«

 

»Sie müssen, denn ich denke nicht daran, Sie zu heiraten!«

 

»Dann kann ich Ihnen auch keinen weiteren Zahlungsaufschub geben«, erwiderte er kalt.

 

»Und Sie … Sie geben vor, Sie wollten mich glücklich machen!«

 

»Und Sie geben vor, Ihre Mutter zu lieben …? Und wollen sie nicht einmal vor einem solchen Schrecken bewahren.«

 

Sie saß da wie gelähmt und starte auf den Teppich.

 

»Schließlich ist alles Ihr eigener Fehler«, bemerkte er nach einiger Zeit lässig. »Wollen Sie nun auch noch Ihre Mutter tödlich erschrecken oder diesen Leamington ruinieren? Schließlich waren Sie es ja allein, die diese Torheit begangen hat – Sie sollten auch diejenige sein, die dafür bezahlt.«

 

»Ja«, sagte sie plötzlich fast tonlos und stand auf. »Ich müßte dafür zahlen – und ich werde dafür zahlen.«

 

Sie hob die Hand, um ihn fortzuschieben, als er triumphierend auf sie zutrat.

 

»Du wirst mir noch dankbar sein … Eines Tages, wenn du das Glück kennengelernt hast, das du bei mir finden wirst.«

 

Sie gab keine Antwort, sondern wich nur noch weiter vor ihm zurück.

 

»Ich muß jetzt gehen«, sagte sie mit kraftloser Stimme.

 

Kapitel 8

 

8

 

Geduldig wartete Frank Leamington vor dem Tor des Marshleyschen Hauses auf seine Braut, Miss Beryl Martin.

 

Sir Harry kam eben herausgeschlendert – ein kahlköpfiger, vertrockneter Mensch, der leicht schielte.

 

»Hallo, Leamington, immer noch da? Haben Sie sich gut amüsiert?«

 

»Natürlich, ausgezeichnet.«

 

»Warum spielen Sie eigentlich nie? Meine Frau sagt mir, daß Sie sich niemals im Spielsaal sehen lassen. Beryl ist doch dort ständiger Gast!«

 

Frank hielt mit Mühe die Worte zurück, die ihm auf der Zunge lagen, und er erwiderte nur:

 

»Ich könnte es mir gar nicht leisten, so hoch zu spielen – und bei Beryl steht es meiner Meinung nach eigentlich genauso.«

 

Sir Harry rümpfte hämisch seine ziemlich rote Nase.

 

»Beryl muß ja schließlich am besten wissen, was sie tut«, sagte er. »Außerdem hat ihr Vater ihr einiges hinterlassen, mein Lieber.«

 

»Er hinterließ ihr sehr wenig«, entgegnete Frank mit Nachdruck.

 

Sir Harry zuckte lediglich gleichgültig seine mageren Schultern.

 

In diesem Augenblick sah Frank Beryl aus der Haustür kommen. Neben ihr ging ein großer, eleganter Mann, der sie so vertraulich am Arm gefaßt hielt, daß Frank wütend wurde.

 

Am Fuß der Treppe machten sie halt und unterhielten sich einen Augenblick leise miteinander. Dann verabschiedete sich das Mädchen mit einem Nicken und kam eilig auf Frank zu.

 

»Es tut mir so leid, daß du warten mußtest«, sagte sie schnell.

 

Sie sah sehr erschöpft aus. Er verstaute sie besorgt in seinem Wagen, setzte sich neben sie und begann erst dann zu reden.

 

»Beryl«, sprudelte er heraus, »ich mache mir solche Sorgen. Ganz bestimmt will ich dir keine Vorhaltungen machen, aber dieses verwünschte Kartenspiel richtet dich noch zugrunde, Liebling. Du weißt doch, daß das Haus dieses Marshley weiter nichts als eine Spielhölle ist. Marshley ist ja völlig pleite und weiter nichts als ein Aushängeschild … Hinter der ganzen Sache steht niemand anders als Louba!«

 

»Ich weiß – ich weiß, Frank«, sagte sie.

 

Er wollte ihre Hand nehmen, aber sie entzog sie ihm sanft.

 

»Frank, ich muß es dir ja doch sagen – nimm dies zurück.«

 

Er fühlte etwas auf seiner Handfläche, und noch bevor er es richtig angeschaut hatte, wußte er schon, daß es ihr Verlobungsring war.

 

»Beryl!«

 

»Es tut mir leid … wirklich leid. Ach, frag mich nicht, Frank – ich werde Emil Louba heiraten. Nein, nein, frag nicht warum … Lieber, guter Frank, bitte.«

 

Er saß wie gelähmt da, völlig unfähig, einen Gedanken zu fassen.

 

»Dieser – Kerl!« stieß er endlich hervor. »Du bist verrückt, Beryl!« Du darfst es nicht tun! Bei Gott, eher bringe ich uns um. Darum also hat man dich hierhergelockt – Louba will dich haben. Vorher mußte er dich aber ganz gefügig machen. Ich kann mir alles denken – er hat dich im Spiel betrogen, und jetzt stellt er dich vor die Alternative: entweder heiraten oder zahlen.«

 

»Ich muß doch an Mutter denken«, flüsterte sie mit kaum hörbarer Stimme. »Frank, Frank, ich war ja so dumm!«

 

Sie verbarg das Gesicht in den Händen und weinte hilflos. Er konnte nur untätig und verzweifelt danebensitzen.

 

Nach einer Weile richtete sie sich auf.

 

»Fahr mich nach Hause«, sagte sie schwach. »Sprich nicht mehr darüber … Es hat ja alles keinen Sinn mehr.«

 

Schweigend und mit verbissenem Gesicht fuhr er los und hielt nach kurzer Zeit vor der Tür des Häuschens auf dem Edwards Square, wo sie mit ihrer kranken Mutter wohnte.

 

»Gute Nacht, Frank«, sagte sie und küßte ihn.

 

Bevor er sie festhalten konnte, war sie schon aus seinen Armen geglitten und im Hauseingang verschwunden.

 

Einen Augenblick starrte er die Tür an, dann startete er entschlossen den Wagen.

 

Nach einer halben Stunde hielt er vor einer dunklen Fassade – Braymore House. Er kannte den Grundriß dieses Gebäudes wie seine Hosentasche. Als erfolgreicher Architekt war er beim Bau dieses Blocks sehr teurer Mietwohnungen beteiligt gewesen. Das Gebäude hatte sechs Stockwerke, und die nach den städtischen Vorschriften angebrachte Feuertreppe wirkte nicht gerade verschönernd.

 

Der ganze Komplex lag im Dunkeln. Nur im zweiten Stock zog sich ein breiter weißer Lichtstreifen hin.

 

Er wußte, das war Loubas Wohnung. Jetzt bei dem Levantiner einzudringen war unmöglich, denn die große Eingangstür war um diese Zeit schon fest verschlossen.

 

Er überlegte einen Augenblick. Dann ging er durch das Hoftor in den Garten hinter dem Haus und erreichte auf einem Seitenpfad die eiserne Leiter, die zur Plattform der Feuertreppe führte. Sorgfältig untersuchte er die Aufstiegsmöglichkeiten.

 

Nachdem er seine Erkundigungen beendet hatte, ging er zu seinem Wagen zurück.

 

Morgen wollte er sich das Gebäude noch einmal genau bei Tag ansehen.

 

Dünner Nebel stieg vom Regents Park auf, als er seine eigene Wohnung in Gate Gardens erreichte. Um so besser, dachte er.

 

Kapitel 9

 

9

 

Sehr zufrieden mit den Ereignissen dieses Abends kehrte Louba nach Braymore House zurück. Es war das erste Mal, daß er allen Ernstes daran dachte, eine Frau zu heiraten. Aber Beryl Martin war es wert – ganz abgesehen von dem guten Geschäft, das er sich von dieser Ehe erhoffte.

 

»Ich brauche Sie nicht mehr, Miller«, sagte er aufgeräumt, als er in die Wohnung kam. Er zündete sich eine Zigarre an und lehnte sich an den Kamin, wo er paffend die Situation überdachte.

 

Mit seinen Finanzen war es eine Zeitlang nicht zum besten gestanden, aber die Krise schien jetzt überwunden zu sein.

 

Nach einer Weile wurde er sich der Stille in dem halbdunklen Raum bewußt. Er hatte plötzlich ein unbestimmtes Gefühl der Unsicherheit und schaute unruhig im Zimmer umher. Stirnrunzelnd entsann er sich Beryls Behauptung, daß sie in Marshleys Haus ein Gesicht vor dem Fenster gesehen habe.

 

Ärgerlich über seine eigene Nervosität ging er mit ein paar langen Schritten zu dem hinter ihm liegenden Fenster, dessen bis zum Boden reichende Vorhänge er beiseite schob, um sich zu vergewissern, daß das Fenster geschlossen war.

 

Mit einem unartikulierten Laut prallte er zurück – hinter dem Vorhang stand ein Mann.

 

»Da Costa!«

 

»Na, und?« fragte da Costa zurück und fuhr mit der Hand vielsagend nach der hinteren Hosentasche.

 

»Nicht schlecht, nicht schlecht«, rief Louba schnell gefaßt und bedeutete ihm durch eine Bewegung, die Waffe stecken zu lassen.

 

»Dürfte ich Sie höflichst fragen, was Sie hier in meiner Behausung suchen?«

 

»Oh, ich wollte nur warten, bis Sie ins Bett gehen, Louba.«

 

»Und was dann?« fragte Louba so scharf, daß da Costa zu lachen begann.

 

»Keine Angst. Ich hatte nicht die Absicht, Sie zu ermorden.«

 

»Aha! Sie wollten also nur stehlen?«

 

»Um genau zu sein – momentan wollte ich warten, bis Sie sich schlafen gelegt hatten, und mich dann durchs Fenster auf den Heimweg machen.«

 

»Sie sind mir der richtige Dieb. Ich weiß längst, daß Sie um meine Wohnung herumspionieren, und diesmal scheinen Sie meine Abwesenheit gut ausgenützt zu haben.«

 

Da Costa zuckte die Schultern.

 

»Ich hatte in Ihrem Zimmer geschäftlich zu tun«, meinte er. »Warum stören Sie mich eigentlich?«

 

Louba packte ihn heftig beim Arm und riß ihn herum, bis das Licht voll in sein Gesicht fiel.

 

»Du hast gefunden, was du hier suchtest«, knurrte er, »sonst wärst du nicht so frech und unverschämt!«

 

»Und wenn ich dir etwas weggenommen hätte, würdest du es doch nie bei mir finden«, lachte da Costa.

 

Louba schüttelte ihn.

 

»Was hast du genommen? Los – ‚raus damit!«

 

»Gibst du mir vielleicht das wieder, was du mir während eines langen Zeitraums auf die verschiedenste Weise abgeknöpft hast?« fragte da Costa zurück. Plötzlich lächelte er. »Natürlich mußt du es mir wieder geben – es bleibt dir gar nichts anderes übrig!«

 

Louba betrachtete ihn düster von oben bis unten.

 

»Du kommst aus diesem Zimmer nicht heraus, bevor du nicht hergibst, was du geklaut hast«, sagte er.

 

»Wie du meinst«, stimmte da Costa ganz gemütlich zu. »Bitte – durchsuche mich.« Er hob einladend beide Arme hoch.

 

Mißtrauisch sah ihn Louba an und ließ dann mit einer Geschicklichkeit, die langjährige Übung bewies, seine Hände durch die Taschen des anderen gleiten.

 

Da Costa verfolgte die vergeblichen Bemühungen seines Rivalen mit heller Freude. Louba nahm seine Sache genau, aber schließlich mußte er doch einsehen, daß selbst in den Schuhen da Costas nichts versteckt war.

 

»Entweder du rückst jetzt mit der Sprache heraus, oder ich ziehe andere Saiten auf«, drohte Louba wütend und sprang unvermittelt auf da Costa los.

 

Er packte ihn am Kragen, stieß ihn zurück, so daß sein Oberkörper auf der Brüstung des offenen Fensters lag, und drückte ihm unbarmherzig den Hals zusammen.

 

»Also … wie steht es?« murmelte Louba. »Was hast du weggenommen – oder soll ich dich hinunterwerfen?«

 

»Laß los«, keuchte da Costa, »nichts habe ich genommen laß los, laß los, oder …« Durch eine geschickte Wendung bekam er seinen Hals frei, duckte sich zusammen und versetzte Louba mit dem Kopf einen solchen Stoß vor den Magen, daß dieser rückwärts taumelte, über einen Stuhl stürzte und polternd mit dem Kopf am Boden aufschlug.

 

»So«, sagte da Costa atemlos, »merk dir das! Wenn du noch einmal handgreiflich wirst, dann hat dein letztes Stündchen geschlagen.«

 

Louba raffte sich mühsam auf.

 

»Du Hund …!«

 

»Und wenn ich auch noch nicht habe, was ich hier suche«, unterbrach ihn da Costa, »so weiß ich jetzt wenigstens, wo ich danach schauen muß.«

 

»Ich werde die Polizei anrufen«, knirschte Louba und griff nach dem Telefonhörer.

 

»Ruf sie nur«, spottete da Costa. »Fragt sich nur, für wen von uns beiden das unangenehmer wäre. Die Polizei könnte zum Beispiel fragen, wo du das Etwas herhast, das ich suche, Louba. Denk drüber nach. Gute Nacht.«

 

Er drehte sich um, kletterte gewandt durchs Fenster und stieg kaltblütig auf den eisernen Stufen der Feuerleiter zu seiner eigenen Wohnung hinauf, die ja direkt über der Loubas lag.

 

Louba runzelte die Stirn. Was hatte der Kerl nur in seinem Zimmer gesucht? Er prüfte sorgfältig alles nach – seinen Schreibtisch, seine Wertgegenstände, aber nichts fehlte.

 

In einer alten Truhe hatte er verschiedene Andenken und Raritäten von relativ geringem Wert. Als er den Deckel öffnete, sah er sofort, daß da Costa hier herumgewühlt hatte.

 

Ganz oben lag aufgeklappt das glasperlenverzierte Kästchen, das ihm seinerzeit in Kates Gegenwart in die Hände gefallen war. Er berührte die Feder am Boden des Kästchens und betrachtete den leeren Raum darunter.

 

Plötzlich begann er übers ganze Gesicht zu grinsen. War es möglich, daß da Costa glaubte, er, Louba, hätte einen solchen Gegenstand in Händen, ohne das einfache Geheimnis der verborgenen Feder entdeckt zu haben? Glaubte da Costa wirklich, daß der Schatz, den das Kästchen wahrscheinlich einmal enthalten hatte, immer noch darin war?

 

Diese gute Gelegenheit konnte er sich nicht entgehen lassen, da Costa zu ärgern.

 

Er legte das Kästchen wieder in die Truhe zurück. In den falschen Boden aber steckte er einen Zettel, auf den er eine Bemerkung für da Costa kritzelte:

 

Hätte ich gewußt, was Sie wollten, dann hätte ich Sie höflichst um die Annahme eines solch kleinen Beweises meiner Hochachtung für Sie gebeten.

 

»So ein Dummkopf«, murmelte er dann vor sich hin, als er in sein Schlafzimmer ging. »Nicht nötig, das Fenster zu schließen, wenn das alles ist, was er will!«

 

Kapitel 3

 

3

 

Das Zimmer unterschied sich sehr wesentlich von einer Mietwohnung, wie sie im Londoner Westend üblich ist.

 

Orient-Teppiche und stickereiverzierte Seidenstoffe lagen verstreut umher, arabische Sitzkissen aus Leder gab es im Überfluß. Neben einer breiten Ottomane stand ein Nargileh, dessen blaßblauer Rauch sich langsam zur Decke emporkräuselte. Die süßlich duftenden Rauchringe einer parfümierten Zigarette, die ein auf dem Fußboden kauerndes Mädchen zwischen den Fingern hielt, vermischten sich damit.

 

Die einzige Beleuchtung spendete eine grotesk getriebene Bronzelaterne, die an Ketten von der Decke herabhing. Ihr melancholisches, düsteres Licht fiel auf die glänzend schwarzen Haare eines Mannes, der neben der Wasserpfeife hockte. Seine westeuropäische Kleidung wurde durch einen bestickten Kaftan verdeckt. Für das Mädchen, dessen Träume von dem Zauber des Ostens durch die bizarren Effekte um sie herum in Erfüllung gegangen schienen, war er eine Gestalt von echtester Romantik. Sein gebrochenes Englisch paßte zu ihm und erhöhte den Reiz noch erheblich.

 

»Sie scheinen Kairo schon zu kennen?« bemerkte er eben.

 

»Nein, nur das wenige, was mir Jimmy von der Stadt erzählt hat. Er wußte immer so interessante Dinge.«

 

»Aber jetzt sind sie nicht mehr interessant?« fragte Louba.

 

Sie schnitt eine reizende kleine Grimasse.

 

»Er sprach bald nur noch über Mord und Totschlag und seinen Polizeidienst – kein Wort mehr von Romantik und Kairo und Bagdad. Lassen wir ihn aus dem Spiel! Wenn ich hier in diesem Zimmer bin, möchte ich vergessen, daß um uns herum London und England liegt. Ich möchte die langweiligen Spießbürger und ihre faden Vergnügungen vergessen und wenigstens für ein paar Stunden in einem Traum leben.«

 

»Es ist nett von Ihnen, zu erklären, daß ich schöne Träume für Sie mache. Sie bedauern doch unsere Zusammenkünfte nicht? Oder sind Ihnen die kleinen Unannehmlichkeiten, die Sie dabei in Kauf nehmen müssen, zuviel?«

 

»Mir ist alles egal, wenn ich nur ab und zu ein wenig hierher flüchten kann.«

 

»Schade, daß Sie dazu jedesmal entfliehen müssen«, murmelte er. »Wäre es nicht viel schöner, wenn Sie die ganze Zeit im Orient leben könnten? Wenn Sie sich nicht durch ein Zimmer mit orientalischen Teppichen und Schnitzereien täuschen lassen müßten, sondern mitten im geheimsten Herzen des Orients selbst wären? Eingetaucht in die Tiefen seiner jahrhundertealten Geheimnisse …«

 

»Bitte, nicht …! Sie machen mich ganz unglücklich! Das werde ich ja doch nie erleben – und möchte es so gerne.«

 

»Warum sollen Sie es nicht erleben, Kate? Nur die Fesseln der spießigen Gesellschaft, die Sie selbst verachten, halten Sie zurück!«

 

»Wer kommt?« unterbrach sie ihn erschrocken und hielt die Zigarette steif von sich weg.

 

Die Klingel hatte geläutet, und er wandte den Kopf.

 

»Ich erwarte niemand«, sagte er. »Miller wird schon aufpassen.«

 

Sein Diener Miller öffnete gerade zwei Herren, die er nicht gut von sich aus abweisen konnte, die Tür. Er bat sie, einen Moment zu warten, während er sie anmeldete.

 

»Wer ist da?« rief Louba, als der Diener an der Tür klopfte.

 

Das Mädchen sprang entsetzt auf, als es die Namen hörte.

 

»Papa und Jimmy! Um Gottes willen – lassen Sie mich weg! Wie komme ich hinaus?«

 

»Die Treppen können Sie nicht mehr benützen. Bleibt nur das Fenster. Vielleicht ist es besser, ich empfange die Herren erst gar nicht«, beruhigte sie Louba.

 

»Das geht nicht! Jimmy schöpft sofort Verdacht. Wie kann man durch das Fenster entkommen?«

 

»Über die Feuerleiter. Allerdings wird die Alarmvorrichtung läuten … Wenn Sie unten ankommen, müssen Sie schnell um die Hinterfront des Hauses herumlaufen, damit Sie niemand sieht. Keine Angst, es wird schon gutgehen.«

 

Er hatte das Fenster aufgeklinkt und zog wie besessen daran, um es zu öffnen. Alle Kraftanwendung nützte nichts, und er rannte zur Tür, vor der Miller wartete.

 

»Was ist mit dem Fenster los, Miller?« rief er hinaus.

 

»Der Riegel, Sir, der Riegel am unteren Rahmen!«

 

Louba lief zurück zu dem Fenster, vor dem schluchzend das Mädchen stand.

 

»Ist es nicht doch besser, wenn ich die Herren wegschicke?« flüsterte Louba und riß sich dabei die Finger blutig bei dem vergeblichen Versuch, den verklemmten Riegel zu lockern.

 

»Nein, nein!« Das Mädchen war völlig kopflos vor Aufregung. »Jimmy sah, wie wir einmal ein paar Worte miteinander wechselten – er wird etwas erraten. Ich muß fort, und wenn wir das Fenster einschlagen müssen!«

 

Endlich gelang es ihm, den Riegel hochzuziehen und das Fenster aufzustoßen. Ohne ein Wort des Abschieds stieg sie hastig auf den Sims und kletterte in wilder Eile die Feuerleiter hinunter. Die letzten Sprossen übersprang sie, nur einen kurzen Moment schrillte die zur Sicherung gegen Einbrecher dort angebrachte Alarmklingel, dann stand sie auf der Erde und verschwand gleich darauf in der nebligen Dunkelheit des Londoner Abends.

 

»Miller, lassen Sie die Leute herein«, rief Louba und öffnete die Tür.

 

Hastig wickelte er sich ein Taschentuch um den verletzten Finger und ging dann den Gästen entgegen.

 

»Entschuldigen Sie, daß ich Sie so lange warten ließ! Ich war ein wenig eingeschlafen …, aber ich freue mich sehr, Sie zu sehen – treten Sie doch näher.«

 

Die Besucher schienen etwas anderes erwartet zu haben, und nach ganz kurzer Zeit verabschiedeten sie sich wieder ziemlich verlegen.

 

Gleich nachdem die Tür zugefallen war, verflog die Höflichkeit auf Loubas Gesicht und machte einem mürrischen Ausdruck Platz. »Miller!«

 

»Jawohl, Sir«, der Diener erschien sofort.

 

»Warum war der Fensterriegel so verklemmt? Ich habe mir einen Nagel abgebrochen, bevor ich ihn verschieben konnte.«

 

»Ich hatte ihn mit dem Hammer festgeschlagen, Sir. Im Hinblick auf die Feuertreppe vor dem Fenster erschien mir das sicherer.«

 

»Mußten Sie das so machen, daß ich fast das ganze Gebäude aus dem Fundament heben mußte, um das Fenster öffnen zu können?« fragte Louba ärgerlich.

 

»An einem nebligen Abend wie heute kann man die Wohnung nicht fest genug verschließen, Sir«, entgegnete Miller mit einem schwachen Versuch, die Sache auf die leichte Schulter zu nehmen. Die schlechte Laune seines Herrn wurde dadurch nicht besser.

 

»Was soll denn das heißen?« rief Louba mißtrauisch.

 

»Nichts Besonderes«, erwiderte der Diener mit dem unschuldigsten Gesicht der Welt. »Ich meinte nur, daß Sie sich vor Einbrechern schützen sollten.«

 

Louba knurrte ungeduldig und ging ins Zimmer zurück.

 

Er blickte aus dem Fenster, verfolgte mit den Augen die schwachen Konturen der Feuertreppe. Allerdings, auf diesem Weg konnte man leicht einbrechen …

 

Langsam schloß er die Fensterflügel, zog die Vorhänge ganz dicht zu und ging dann zur Zimmermitte – dort blieb er stehen und kaute nachdenklich an einem Finger.

 

Er war ein vielgehaßter Mann. Es gab Leute … Ach was! Verächtlich zuckte er mit den Schultern.

 

Kapitel 30

 

30

 

Es dauerte genau eine Stunde, bis Inspektor Trainor Greenwich erreichte. Zweifel an der Identität des Toten konnte es nicht geben, nachdem er Fred, den Hauswirt, ausgefragt und den Raum, den Charlie und seine Frau bewohnt hatten, untersucht hatte.

 

»Lassen Sie eine Beschreibung der Frau an alle Polizeidienststellen durchgeben und ins Fahndungsblatt setzen«, befahl er seinem Sergeanten, während er mindestens zum zehntenmal das Geständnis studierte, das in Berrys Tasche gefunden wurde. »Es besteht gar kein Zweifel, daß dies die Handschrift des Mannes selbst ist«, fügte er hinzu. »Die Tatsache, daß die Unterschrift fehlt, wäre mit dem Zustand der Aufregung, die einem Selbstmord voranzugehen pflegt, erklärlich. Die Frage ist nur – handelt es sich überhaupt um einen Selbstmord?«

 

Der Inspektor aus Greenwich, dem seine letzten Sätze galten, ließ sich nicht herbei, eine Ansicht zu äußern.

 

»Die Schüsse wurden aus einiger Entfernung abgefeuert, das ist klar«, fuhr Trainor fort. »Wahrscheinlich wurden sie aus einer Pistole mit Schalldämpfer abgegeben, denn kein Mensch in der Nachbarschaft hat etwas gehört. Und dann ist auch noch die Frau da …«

 

Fred konnte wenig aussagen, was von Wert gewesen wäre. Der völlig undurchsichtige Nebel machte es sehr unwahrscheinlich, daß sich noch weitere Zeugen finden würden, die die beiden hatten weggehen sehen. Trainor kam zu einem eigenen Schluß, noch bevor er zurückgekehrt war.

 

Er selbst glaubte ganz und gar nicht daran, daß Berry mit seiner Frau fortgegangen war, um sie zu töten. Diese Annahme des Wirts hatte nichts für sich. Natürlich bestand die Möglichkeit – aber was hätte es in einem solchen Fall für einen Wert gehabt, sich selbst ein Geständnis in die Tasche zu stecken? Allerdings konnte das Geständnis lediglich eine Irreführung sein. Alles hing jetzt davon ab, ob der Fingerabdruck, den man an der linken oberen Ecke des Schriftstücks gefunden hatte, mit dem Abdruck, den man dem Toten abgenommen hatte, übereinstimmte.

 

Jeglicher Zweifel über diesen Punkt wurde eine halbe Stunde, nachdem er wieder in Scotland Yard eingetroffen war, behoben. Die Daumenabdrücke waren identisch.

 

*

 

Unterdessen hatte aber ein ernsthafteres Problem Trainor zu beschäftigen begonnen. Bei seiner Rückkehr ins Präsidium hatte sich der Inspektor nämlich sofort in das Zimmer seines Vorgesetzten begeben, aber feststellen müssen, daß Hurley Brown nicht da war – er war den ganzen Abend nicht dagewesen. Auch vom Club, den er antelefonierte, erhielt er die Auskunft, daß der Captain nicht gesehen worden war.

 

Jetzt machte er sich Sorgen und fuhr zur Wohnung Hurley Browns. Hier erfuhr er nur, daß Brown auch nicht zu Hause war. Er war nur eine Viertelstunde lang in seiner Wohnung gewesen und dann mit einem Handkoffer fortgegangen. Seine Haushälterin hatte ihn gefragt, ob er am Abend wieder zurück sei. Er hatte geantwortet: »Höchstwahrscheinlich.«

 

»Würden Sie Mr. Brown bitte sagen, er soll mich sofort anrufen, wenn er nach Hause kommt«, prägte der Inspektor der Haushälterin ein.

 

Mittlerweile war es fast Mitternacht geworden. Trainor hatte sich hin und her überlegt, wie er den Captain erreichen könne, und dabei fiel ihm plötzlich Dr. Warden ein. Ein Taxi brachte ihn nach der Devonshire Street.

 

Das Haus Nummer 863 in der Devonshire Street war Dr. John Wardens Eigentum, obgleich er selbst nur zwei Stockwerke davon innehatte und das unterste noch mit einem anderen Arzt teilte, der aber nicht im Haus wohnte. Nachdem er ungefähr fünf Minuten lang geläutet hatte, hörte Trainor Schritte im Korridor, und der Doktor öffnete die Tür einen Spalt. Er war anscheinend gerade aufgestanden, denn er trug einen Morgenrock und Pyjama.

 

»Wer ist da?« fragte er.

 

»Inspektor Trainor, Herr Doktor. Ich suche Captain Hurley Brown.«

 

»Kommen Sie doch herein, Trainor«, sagte der Doktor nach einem Augenblick und öffnete die Tür ganz.

 

»Ich muß mit Captain Brown sprechen und ihm die neueste Entwicklung in der Louba-Sache mitteilen«, sagte Trainor. »Es wäre sehr wichtig, daß ich ihn noch heute abend treffe. Es tut mir leid, Sie gestört zu haben, Doktor, aber mir fiel ein, daß Sie ein Freund von ihm sind und daß er vielleicht hier sein könnte.«

 

Der Doktor schüttelte den Kopf.

 

»Es ist viel wahrscheinlicher, daß er sich im Nebel verirrt hat«, meinte er. »Er war tatsächlich eine Stunde hier, was ziemlich ungewöhnlich ist, denn er hat mich schon seit Monaten nicht mehr abends besucht.«

 

»Um welche Zeit war das?« fragte Trainor rasch.

 

»Wieviel Uhr haben wir jetzt?« Der Doktor schaute nach der Uhr auf dem Kamin. »Es muß gleich nach zehn Uhr gewesen sein.«

 

»War er irgendwie verstört – sagen wir, aufgeregt?«

 

»Nein«, sagte der Doktor und zog die Brauen hoch. »Warum sollte er verstört gewesen sein?«

 

»Weil … ich weiß nicht. Dieser Fall kostet mich meine letzten Nerven, Doktor. Ich wünschte wirklich, ich hätte nichts damit zu tun.«

 

Er erzählte kurz die Vorgänge des Abends.

 

»Charlie erschossen?« fragte der Doktor. »Das ist allerdings eine wichtige Neuigkeit. Vielleicht hat Captain Brown etwas davon gehört und ist nach Greenwich gefahren.«

 

»Hat er einen Koffer hiergelassen?«

 

»Nein«, versetzte der Doktor. »Er hatte gar keinen Koffer bei sich, als ich ihn sah. Er sagte mir, daß er morgen früh mit Ihnen sprechen wolle. – Sie erzählten etwas von einem Geständnis, Inspektor. Was wird das für unsern Freund Leamington bedeuten?«

 

»Das kann ich Ihnen nicht sagen, Herr Doktor«, meinte der andere. »Es hängt ganz davon ab, wie die Staatsanwaltschaft die Sache auffaßt. Es ist angesichts der Umstände sogar möglich, daß sie beim nächsten Termin gar keine Beweisanträge gegen Leamington stellt und daß er daraufhin aus der Haft entlassen wird. Dieser Berry war meiner Meinung nach der einzige Mensch, der den Mord begangen haben könnte, weil er die Gelegenheit dazu hatte.«

 

»Aber wie erklären Sie sich die Stimme am Telefon?« fragte Dr. Warden ruhig. »Um zehn Uhr ruft mich jemand im Club an und bittet mich, ihn am nächsten Morgen zu besuchen. Es ist Loubas Stimme, der Clubkellner hat sie sofort erkannt.«

 

»Es kann nicht Loubas Stimme gewesen sein«, sagte der andere mit Nachdruck. »Louba sprach gebrochen und mit Akzent, und diese Art von Sprache läßt sich am leichtesten nachmachen. Ich gebe zu, daß ich in dieser Beziehung vollständig im dunklen tappe, denn wenn Charlie den Mord begangen hat, dann müssen wir annehmen, daß er nach dem Verlassen der Wohnung noch einmal zurückgekehrt ist und den Mord viel später ausgeführt hat, nämlich direkt vor dem Eintreffen Leamingtons. Das setzt wiederum voraus, daß die Geschichte des letzteren echt ist. Ich kann mir die Sache nur so erklären« – er zählte die einzelnen Punkte an den Fingern auf –, »um sieben Uhr ist Louba noch am Leben, und wahrscheinlich sogar noch um sieben Uhr fünfzehn, denn Sie hörten ja keinen Aufschrei vor der Rückkehr Millers. Sie hätten zumindest das Aufschlagen des Körpers auf den Boden hören müssen. Ungefähr um sieben Uhr dreißig geht Miller weg, um mit seiner Braut zu sprechen. Um neun Uhr, soweit man es genau feststellen konnte, muß Leamington durch das offene Fenster über die Feuertreppe in die Wohnung eingedrungen sein und fand Louba tot auf seinem Bett. Ich denke, falls Louba von Charles Berry ermordet wurde, können wir bestimmt annehmen, daß die Tat zwischen Ihrem Weggehen und der Ankunft Leamingtons begangen wurde.

 

Miller war, nach seiner eigenen Aussage, nur eine Viertelstunde in der Wohnung, nachdem Sie gegangen waren. Louba wird um zehn Uhr dreißig gefunden; er liegt auf dem Bett, Kragen und Krawatte sind ihm ausgezogen worden – aus welchem Grund, weiß niemand, es sei denn, daß er sich gerade beim Ausziehen befunden hatte, als er getötet wurde. Und selbst wenn man dies annimmt, wäre es immer noch sehr unwahrscheinlich, daß er sich nicht im Schlafzimmer ausgezogen hätte; möglicherweise wollte er dieses bestickte Gewand aus der Truhe holen und anziehen. Aber auch das hätte er ja im Schlafzimmer tun können – außerdem hat da Costa zugegeben, daß er den Kaftan in der Eile zurückzulegen vergaß. Mit Ausnahme des Kästchens, das da Costa angeblich Louba weggenommen hat, wurden weder Wertsachen noch Geld gestohlen – ein weiterer merkwürdiger Umstand, falls Berry wirklich den Mord begangen hat. Ein Bündel Briefe, das, wie Leamington sagt, auf dem Tisch lag, ist dagegen verschwunden; die Asche eines Briefes wird auf dem Kaminrost gefunden, der Absender läßt sich nicht feststellen. Falls wir Berry für den Mörder halten, muß er meiner Meinung nach dreimal in die Wohnung eingedrungen sein. Das erstemal, als er mit Louba Streit hatte und Sie seine Stimme hörten; das zweitemal zwischen halb acht und halb neun Uhr, zu der Zeit, als Leamington vor der Leiche Loubas stand; und zum drittenmal während des Zeitraums, der zwischen dem Verlassen der Wohnung durch Leamington und der Ankunft von Mr. Brown lag. Wir wissen nur nicht, ob die Briefe …«

 

Plötzlich hielt er inne und runzelte die Stirn.

 

»Haben vielleicht Sie gesehen, Doktor«, fragte er, »daß Briefe auf dem Tisch lagen, als Sie hereinkamen?«

 

Warden schüttelte den Kopf.

 

»War eigentlich Miller bei Ihnen, als Sie das Zimmer betraten? Ich habe es ganz vergessen.«

 

»Ja, er führte uns doch hinein.«

 

»Dann kann natürlich auch Miller die Briefe weggenommen haben, und ein dritter Besuch braucht gar nicht stattgefunden zu haben.«

 

»Wenn Sie Miller sagen, meinen Sie doch Hurley Brown – nicht wahr?« sagte der Doktor.

 

Trainor widersprach dieser Auslegung nicht.

 

»Die ganze Sache ist mehr als merkwürdig«, war lediglich seine Antwort. »Ich wünschte wirklich, ich könnte Mr. Brown erreichen. Es würde sich dabei allerlei aufklären.«

 

*

 

Am Dienstag morgen hob sich zur großen Erleichterung ganz Londons endlich der Nebel, der schon seit einigen Tagen so dicht über der Stadt lag. Trainor war sehr früh auf den Beinen, sein erster Gang führte ihn zur Wohnung Hurley Browns. »Nein, Sir, er ist die ganze Nacht über nicht dagewesen, und ich habe auch keine Nachricht von ihm erhalten«, sagte die Haushälterin. »Ich mache mir schon Sorgen. Bei diesem Nebel, und wo so viele Leute ertrinken, und bei den vielen Verkehrsunfällen ist es leicht möglich, daß Mr. Brown im Krankenhaus liegt.«

 

Trainor konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.

 

»In diesem Punkt kann ich Sie völlig beruhigen«, sagte er. »Es gibt kein Hospital, in dem ich nicht schon nachgefragt habe.«

 

»Vielleicht hat ihn irgendein Verbrecher erwischt«, meinte nun die ängstliche Haushälterin.

 

»Auch das glaube ich eigentlich nicht«, entgegnete der Inspektor.

 

Er nahm ein Auto und fuhr wieder nach der Devonshire Street. Dort mußte er geraume Zeit im Wartezimmer des Doktors sitzen, denn Dr. Warden untersuchte gerade einen Patienten. Als er ihn endlich sprechen konnte, war seine erste Frage: »Haben Sie etwas von Hurley Brown gehört, Inspektor?«

 

»Ich bin allmählich selbst schon ganz nervös«, erwiderte Trainor. »Der Chef hat auch schon nach ihm gefragt, aber alles, was wir wissen, läuft darauf hinaus, daß er die Nacht über nicht in seiner Wohnung war.«

 

»Was halten Sie davon?« fragte Warden.

 

»Meine Ansicht ist, daß wir ihn so schnell nicht wiedersehen werden.«

 

Warden blieb stumm. Er stand am Tisch und spielte gedankenverloren mit einem silbernen Brieföffner. Anscheinend war er völlig mit dem Problem des Verschwindens von Hurley Brown beschäftigt.

 

»Wir sprechen doch im Vertrauen miteinander«, sagte er endlich. »Würden Sie es als vertraulich behandeln, was ich Ihnen erzähle? Ich verspreche Ihnen, daß ich auch nichts von dem, was Sie mir mitteilen, weitersage. Sind Sie damit einverstanden?«

 

»Sogar sehr gerne«, sagte Trainor. »Ich bin mit Captain Brown immer gut ausgekommen. Er hat mir Chancen verschafft, wie ich sie sonst nie gehabt hätte. Tatsächlich hat er mich in Gott weiß wieviel Fällen unterstützt und hat hinter mir gestanden. Einmal, als mir etwas ganz furchtbar danebengeriet, war er der Mann, der mich aus der dicken Tinte herausholte. Ich gebe zu, daß ich mich trotzdem ein- oder zweimal in der letzten Zeit über ihn geärgert habe, aber jedesmal schämte ich mich nachher vor mir selber. In Wirklichkeit gibt es fast nichts auf der Welt, was ich nicht für ihn tun würde.«

 

»Ich glaube Ihnen gerne«, sagte der Doktor. »Und jetzt will auch ich Sie ins Vertrauen ziehen, Inspektor. Ich glaube, Ihr Zweifel ist nur zu berechtigt. London wird Hurley Brown nie wieder sehen. Aber fragen Sie mich bitte nicht, warum ich zu diesem Schluß gekommen bin. Ich halte es für besser, wenn man seine Vermutungen nicht immer gar zu genau begründet.«

 

Er nahm seine Pfeife vom Tisch, stopfte sie geistesabwesend und zündete sie ebenso mechanisch an, während er weitersprach.

 

»Haben Sie die Frau entdeckt?« fragte er.

 

»Wenn wir die Frau finden, Doktor, dann finden wir auch Hurley Brown – das ist meine Ansicht«, sagte der Detektiv.

 

Der Doktor schmauchte langsam und nachdenklich.

 

»Vielleicht haben Sie recht«, murmelte er. »Auch das ist natürlich vertraulich. Setzen Sie sich doch, Inspektor.«

 

Er begann im Zimmer auf und ab zu gehen. Die Hände in den Taschen, die kurze Stummelpfeife zwischen die Zähne geklemmt. Sein sonst so gleichmütiges Gesicht hatte einen gequälten Ausdruck.

 

»Ich möchte, daß Sie von Hurley Brown nur das Beste denken«, meinte er dann. »Denn er ist ein Mann, für den ich wirkliche Zuneigung empfinde. Er hat in seinem Leben sehr viel Sorgen gehabt, und er hätte sie mit einer Frau teilen können, wenn er nicht einen so ausgeprägten Sinn für Anständigkeit und Ehrenhaftigkeit besessen hätte. Ich sage, hätte teilen können. Das heißt, soweit Sorgen überhaupt eine Substanz besitzen, die teilbar ist.«

 

»Kennen Sie ihn eigentlich schon lange, Doktor?«

 

»Lange Jahre«, entgegnete Dr. Warden. »Ich kenne ihn schon seit seiner Jugendzeit.« Er murmelte vor sich hin: »Der beste Kerl, der je gelebt hat …« Dann wandte er sich wieder an Trainor: »Seine Lebensgeschichte kann ich Ihnen nicht erzählen – manche Abschnitte daraus werden wohl niemals bekanntwerden. Ganz bestimmt weiß ich aber, daß Hurley Brown niemals in seinem Leben etwas Unehrenhaftes begangen hat. Ich spreche jetzt genauso, als ob er schon tot wäre! Und dabei weiß ich, daß er es nicht ist. Denken Sie immer daran, Inspektor, daß Hurley Brown einer unehrenhaften Tat in keiner Weise fähig ist.«

 

»Würden Sie das – Töten eines Mannes eine unehrenhafte Tat nennen?« fragte Trainor.

 

Der Doktor wurde rot im Gesicht.

 

»Ich höre Sie das nicht gerne sagen. Soweit ich ihn kenne und ich kenne ihn besser als jeder andere lebende Mensch –, hat er niemals jemandem nach dem Leben getrachtet.«

 

*

 

Während des ganzen Tages traf weder eine Nachricht noch sonst irgendein Lebenszeichen von dem vermißten Beamten ein. Der Chef der Kriminalabteilung und sein Stab hielten eine Besprechung ab, nach der an alle Polizeidienststellen die Instruktion erging, daß Nachforschungen angestellt und die Beamten darauf aufmerksam gemacht werden sollten, sofort Meldung zu erstatten, falls sie den Vermißten irgendwo sichteten. Noch am gleichen Abend wurde die Instruktion widerrufen. Der Chef hatte ein Schreiben erhalten, das zwar auch keine direkten Erklärungen enthielt, aber wenigstens anderweitig Klarheit in die Situation brachte.

 

Kapitel 31

 

31

 

In den Zeitungen stand folgende Notiz:

 

 

Wie wir erfahren, hat Captain Hurley Brown, ein bekannter und erfolgreicher höherer Beamter von Scotland Yard, dem Chef der Kriminalpolizei seine Entlassung eingereicht, und zwar aus gesundheitlichen Gründen. Dadurch wird das Gerücht dementiert, das gestern abend in Fleet Street kursierte. Captain Hurley Brown wäre danach von einer Verbrecherbande ermordet worden, die vor einigen Jahren durch seine Tätigkeit hatte festgenommen werden können. Wie wir weiter erfahren, soll Mr. James B. Lettle, stellvertretender Polizeidirektor von Birmingham, aufgefordert werden, den freigewordenen Posten zu übernehmen.

 

 

Dr. Warden las es beim Frühstück und sah in einem anderen Teil der Zeitung eine Spalte, die in gewissem Sinn eine Ergänzung zu dieser Nachricht bildete. Der Bericht führte aus, daß die Staatsanwaltschaft angesichts des Geständnisses, welches man in der Tasche des Toten, am Leinpfad des Deptforder Flusses gefunden hatte, die Anklage gegen Frank Leamington und zwei weitere unter Mordverdacht inhaftierte Personen fallengelassen habe und daß die Betroffenen freigelassen würden.

 

Obwohl Weldrake und da Costa in ein strenges Kreuzverhör genommen worden waren, konnte man sie nicht in Widersprüche verwickeln, nachdem sie erst einmal die Notwendigkeit völliger Offenheit eingesehen hatten. Die genaueste Untersuchung ihrer Kleidungsstücke hatte keine Spuren von Blutflecken zutage gefördert, obgleich es feststand, daß sich der Mörder stark mit Blut besudelt haben mußte. Das Aufschneiden des Perlenkästchens und die Entdeckung der darunter befindlichen Juwelen hätten ein genügend plausibles Motiv abgegeben, daß da Costa die Tat begangen hatte. Aber man hatte keinen größeren Beweis gegen ihn in der Hand als etwa gegen Weldrake, der ja auch einen tiefen Groll gegen Louba hegte. Gegen alle beide zusammen waren aber noch weit weniger Beweise beizubringen als gegen Frank Leamington.

 

Dr. Warden las den Artikel noch einmal genau durch, und sein Gesicht wurde traurig. Hurley Brown war also zurückgetreten – hatte den Beruf, den er so liebte, aufgegeben. Er stellte mit einem Seufzer seine Tasse auf den Tisch und starrte abwesend auf das Papier. Würde das Glück, das Hurley Brown nun zuteil geworden war, wirklich die Entschädigung für ihn bedeuten, die er brauchte?

 

Warden überdachte nochmals die Ereignisse der letzten Woche. Jede Einzelheit stand klar vor ihm. Er entsann sich, wie er lächelnd mit Hurley Brown gesprochen hatte, als dieser so wütende Ausdrücke über Louba gebrauchte. Er fand, daß Hurley Brown ein wenig zu rachsüchtig war. Warden persönlich hatte Louba nicht gehaßt. Der Mann war für ihn ein ausgesprochener Sonderfall. Er hatte sich eigentlich nie durch ihn abgestoßen gefühlt.

 

Während er von seinem Stuhl aufstand, hörte er das Läuten der Klingel.

 

Das Mädchen kam herein.

 

»Wollen Sie Mr. Miller empfangen, Herr Doktor?«

 

»Miller – Loubas Diener? Er soll hereinkommen.«

 

Miller war aufgeregt, als er eintrat.

 

»Ich möchte mich entschuldigen, Herr Doktor, daß ich komme, aber, wie Sie sich denken können, muß ich mich jetzt nach einer andern Stellung umsehen. Ich hätte Sie gerne gefragt, ob nach Ihrer Meinung für einen Mann wie mich in Südamerika Aussichten bestehen?«

 

Der Doktor fuhr erschrocken vom Sitz auf.

 

»Südamerika? Das Allerschlechteste, was Sie sich aussuchen konnten«, sagte er. »Warum gehen Sie nicht auf den Kontinent? Oder warum wollen Sie England überhaupt verlassen? Sie haben doch keinen besonderen Grund dafür, wie?«

 

Miller war es offensichtlich unbehaglich zumute.

 

»Nein, Herr Doktor, keinen besonderen Grund. Das einzige ist – nun, nach dieser Mordsache wird mich niemand als Diener haben wollen.«

 

»Ich nahm an, Sie würden nach Bath gehen und dort eine Art Pension betreiben? Ist etwas vorgefallen, daß Sie Ihre Pläne ändern müssen, Miller?«

 

»Nichts, Herr Doktor.« Er zögerte. »Nur – ich möchte gerne aus diesem Land heraus. Ich würde das Ausland vorziehen.«

 

»Na, dann versuchen Sie’s doch auf dem Kontinent, oder in einer britischen Kolonie, wenn Sie genug Geld haben.«

 

Der Doktor machte ihm ausführlich die Verhältnisse in Kanada und Südafrika klar, aber er merkte es Miller an, daß er sich nicht überzeugen lassen wollte. Nachdem er weg war, wunderte sich der Doktor darüber, daß er überhaupt vorgesprochen hatte. Erst als er nach Bow Street gerufen wurde, um seine Bürgschaft für Frank Leamingtons Haftentlassung zu hinterlegen, erfuhr er, was los war. Inspektor Trainor erwartete ihn draußen auf der Straße und erzählte, was sich ereignet hatte. Loubas Nachlaß war Treuhändern übergeben worden. Der tote Finanzmann hatte eine genaue Aufstellung aller seiner Geldgeschäfte hinterlassen, und es stellte sich heraus, daß er einen Tag vor seiner Ermordung von einer Bank einen größeren Betrag in Franken abgehoben hatte, und dieses Geld war nirgends in der Wohnung zu finden. Außerdem hatte Miller am Montag geheiratet.

 

»Ich möchte mir von ihm gerne erklären lassen, wie er dazu kam, sich in Cooks Reisebüro gestern einen Tausendfrankenschein wechseln zu lassen«, sagte der Detektiv. Jetzt verstand Dr. Warden alles.

 

Er ging die Stufen zum Polizeirevier hinauf. Beryl Martin begrüßte ihn freudig.

 

»Wie nett von Ihnen, Herr Doktor! Mr. Trainor war der Ansicht, Sie würden nichts dagegen haben, die notwendigen Garantien zu übernehmen.«

 

»Natürlich nicht!« sagte Dr. Warden herzlich. »Das bedeutet wohl, daß die Anklage gegen Frank Leamington fallengelassen wird?«

 

Trainor nickte. »Der Staatsanwalt will sich zwar noch etwas Zeit lassen, um den Fall nochmals eingehend zu studieren, aber er möchte nicht, daß Mr. Leamington eine Minute länger als notwendig in Haft bleibt.«

 

Dr. Wardens Bürgschaft wurde angenommen. Warden ließ das Brautpaar allein und zog den Inspektor beiseite.

 

»Haben Sie etwas von Brown gehört?«

 

»Nicht das geringste. Sie sahen wohl die Zeitungsnotiz. Er hat seine Entlassung eingereicht, und heute morgen ließ er durch einen Boten seine Papiere abholen. Er weigert sich, weitere Erklärungen abzugeben. Angeblich gibt er den Posten auf Anraten seines Arztes auf. Haben Sie ihm den Rat gegeben, Doktor?«

 

Dr. Warden gab nicht sofort Antwort. Dann sagte er:

 

»Ich war zwar sein Freund, aber nicht sein Arzt. Die Verantwortung für das Befinden meiner Freunde übernehme ich nicht gerne.«

 

»Haben Sie eine Ahnung, wo er steckt?«

 

»Ich habe ihn seit damals nicht mehr gesehen, und er hat sich auch nicht mit mir in Verbindung gesetzt«, sagte Warden. »Hat Louba eigentlich ein großes Vermögen hinterlassen?«

 

Der andere schüttelte den Kopf.

 

»Im Gegenteil, er war hoffnungslos bankrott. Die Beamten, die seine Verhältnisse prüften, behaupten, daß er ins Gefängnis gekommen wäre, weil er seine Steuererklärungen fälschte und sich unter Vorspiegelung falscher Tatsachen Kredite verschaffte. Tatsächlich stand er am Rand des Ruins.«

 

Dr. Warden starrte ihn ungläubig an.

 

»Stimmt das wirklich?«

 

»Ganz gewiß. Da Costa hat die Wahrheit gesagt, als er dies zu Protokoll gab. Louba schuldete nach allen Seiten Geld. Sogar Miller hat seinen Lohn monatelang nicht erhalten, und Loubas ganzes Eigentum war bis zum letzten Knopf verpfändet. Allerdings wissen wir, daß er an seinem Todestag eine große Summe von der Bank abhob und sich in Tausendfrankenscheinen auszahlen ließ. Dieses Geld ist spurlos verschwunden. Ferner wissen wir auch, daß Miller gestern fünf der Scheine wechselte – und deswegen möchte ich ihn außerordentlich gerne einiges fragen.«

 

Nachdem er diese überraschende Mitteilung gehört hatte, schloß sich John Warden den beiden jungen Leuten an. Frank dankte ihm, so herzlich er nur konnte.

 

»Inspektor Trainor sagte mir, daß Sie sich seit meiner Verhaftung fast ununterbrochen für mich eingesetzt haben, Doktor. Er teilte mir auch mit, daß Sie sogar mit dem Justizminister gesprochen hätten.«

 

Dr. Warden wurde rot.

 

»Na, ich kann doch nicht müßig dabeistehen und einem solchen Justizirrtum zusehen«, sagte er.

 

*

 

Um zehn Uhr abends klingelte es bei Dr. Warden; und seine Haushälterin meldete ihm zwei Besucher. Der Doktor glaubte, daß es sich um einen eiligen Krankheitsfall handelte und ging sofort in sein Sprechzimmer hinunter. Dort saß ein Mann auf der äußersten Ecke eines Stuhles, ein unrasierter, bleicher Mensch, dem das Elend in den Augen geschrieben stand. Eine blasse hübsche Frau hatte ihren Stuhl dicht neben seinen gerückt und hielt seine Hand umklammert. Beim Nähertreten erkannte Dr. Warden Miller.

 

»Ich bin gekommen, um mich der Polizei zu stellen, Herr Doktor«, sagte er mit heiserer Stimme. »Meine Frau ist der Ansicht, ich sollte es tun. Ich habe Mr. Louba bestohlen, aber bei Gott, ich habe niemals auch nur einen Schlag gegen ihn geführt.«

 

Ein telefonischer Anruf brachte Trainor und seinen Assistenten in einer Viertelstunde in die Wohnung Wardens.

 

»Hier ist das Geld, Herr Inspektor«, sagte Miller niedergeschlagen. »Wahrscheinlich muß ich jetzt ins Gefängnis …, aber lieber das, als meiner Frau solchen Kummer bereiten.«

 

Dann erzählte Miller seine Geschichte.

 

»Was ich Ihnen jetzt sage, ist die Wahrheit. Es stimmt – ich habe zu Anfang sehr viel gelogen, aber es tut mir jetzt leid. Wenn so etwas passiert wie der Mord an Mr. Louba, dann ist es vielleicht verständlich, daß man davon ganz durcheinandergebracht wird. Vierzehn Jahre lang bin ich bei Mr. Louba angestellt gewesen. Er stellte mich ein, als er noch in einer ganz kleinen Wohnung in der Jermyn Street lebte – lange Zeit bevor er das Vermögen gemacht hatte, das er angeblich bei seinem Tod besaß. Sechs Monate im Jahr war er stets in London, die anderen sechs Monate irgendwo auf dem Kontinent. Mr. Warden wird sich der Wohnung in der Jermyn Street noch entsinnen, denn er besuchte uns dort ja öfters. Nach einigen Jahren kam Mr. Louba für immer nach England und baute hier zusammen mit einigen anderen reichen Leuten Braymore House – dort schlug er dann seinen ständigen Wohnsitz auf, und dort traf ich auch Charlie Berry zum erstenmal.

 

Ich kannte seinen Namen nicht und wußte auch nicht, was er für einen Beruf hatte, denn ich sah ihn sehr selten und traf ihn auch nie außerhalb der Wohnung. Auf jeden Fall weiß ich aber, daß er ein häufiger Besucher war, wenn man ihn auch nicht direkt einen Freund von Mr. Louba nennen konnte. Sein Benehmen war, soweit ich es beurteilen kann, eher das eines Angestellten als das eines Freundes. Louba pflegte ihn übrigens immer allein zu empfangen und machte ihm auch selbst die Tür auf, wenn er ging. Wahrscheinlich hat er Charlie verboten, mir über den Zweck seiner Besuche etwas zu sagen, denn als ich einmal versuchte, ihn darüber auszuhorchen, erklärte mir Charlie, ich solle mich um meine eigenen Angelegenheiten kümmern. Am nächsten Tag machte mir Mr. Louba Vorhaltungen, weil ich meine Nase in die Sachen anderer Leute steckte. Er war sehr zornig, und ich hörte danach auf, neugierig zu sein; ich wollte kein Risiko eingehen.

 

Vor ungefähr neun oder zehn Jahren sah ich Charlie das letztemal. Ich glaube, es war einen Tag, nachdem ich mit Mr. Louba eine Auseinandersetzung wegen einer Dame gehabt hatte, die nicht fortkonnte, weil das Fenster zur Feuerleiter verklemmt war. Charlie war angezogen, als ob er die Welt auf den Kopf stellen wollte – man hätte ihn fast für einen Gentleman halten können. Das fiel mir auf, denn für gewöhnlich war Charlie mit seiner Kleidung nicht besonders wählerisch. Ich hatte im Gegenteil schon oft bemerkt, daß er geradezu schäbig aussah. Von dem Tag an bis zum Mittwoch vor dem Mord habe ich ihn dann nicht mehr gesehen. Über Mr. Loubas Privatangelegenheiten wußte ich stets sehr gut Bescheid – besser jedenfalls, als Louba annahm. Besonders was seine Geschäfte betraf, war ich immer gut informiert. Ich wußte beispielsweise, daß seine Unternehmungen nicht allzu erfolgreich verliefen. Immer größere Geldforderungen liefen ein, und eines Tages sah ich ihn vor einem Stapel Schiffsfahrplänen sitzen, und neben ihm lag ein Paß auf den Namen ›Goudelas‹ mit seiner Fotografie darin. Natürlich fing ich an, mir allerhand zusammenzureimen.

 

Ich weiß auch, daß er jede Woche Geld an verschiedene Leute absandte – er nannte sie mir gegenüber einmal seine Pensionäre. Auch diese Sendungen stellte er ein – die Rechnungen häuften sich in der Wohnung schon zu kleinen Bergen. Wochenlang erhielt ich meinen Lohn nicht, und da wurde mir denn doch ein wenig mulmig zumute. Wie ich schon sagte, traf ich dann am Mittwoch vor dem Mord Charlie. Er stand vor Braymore House. Es muß ungefähr acht Uhr gewesen sein, und ich war gerade unterwegs, um Mr. Louba die Nachmittagspost in den Elect Club zu bringen. Ich erkannte Charlie nicht wieder, bis er mich ansprach, wußte aber sofort, mit wem ich es zu tun hatte, als ich sein Gesicht sah. Er erzählte mir, daß er gerade aus dem Ausland zurückkomme und Louba sprechen wolle. Ich war natürlich schon wegen meiner Beobachtungen daran interessiert, möglichst viel über meinen Arbeitgeber zu erfahren. Wir gingen in eine Bar – dort war es auch, wo uns der kleine Herr, Mr. Weldrake, ansprach. Charlie sagte, daß es anscheinend schlecht um Louba stünde, und falls er kein ehrliches Spiel mit ihm treibe, wolle er ihm etwas einbrocken.

 

Wir tranken mehrere Gläser, und Charlie gelang es schließlich, mich davon zu überzeugen, daß man etwas unternehmen müsse, bevor Louba vollends erledigt sei. Meine Aufgabe bestand nun darin, Mr. Louba zu überwachen und festzustellen, ob er einmal eine größere Summe von der Bank abhob. Das war verhältnismäßig leicht, denn Mr. Louba verwahrte sein Scheckbuch in der rechten oberen Schublade seines Schreibtischs. Sobald sich ein größerer Geldbetrag im Haus befand, sollte ich Charlie ins Hotel telegrafieren: ›Florence ist angekommen.‹

 

Am Samstagmorgen ging Louba aus und kam kurz vor der Essenszeit wieder zurück. Das Mittagessen ließen wir uns immer aus dem Restaurant im Erdgeschoß heraufschicken. Um halb drei ging er wieder weg, und ich begann sein Zimmer zu untersuchen. Als erstes fand ich sein Scheckbuch. Er hatte zwölftausend Pfund abgehoben, und auf den Abschnitten stand ›Franken‹. Das Datum lautete auf Freitag, und ich konnte leicht erraten, daß er der Bank an diesem Tag die Schecks gegeben hatte, um ihr Zeit zu lassen, ausländische Währung dafür zu beschaffen.

 

Ich suchte nun fieberhaft nach den Scheinen und fand sie auch schließlich. Sie waren in der Schublade des kleinen Schreibsekretärs am Fenster. Nach meiner Schätzung mögen es ungefähr siebenhunderttausend Franken gewesen sein. Die Schublade hatte keinen Schlüssel. Sie war nur zu öffnen, wenn man zwei kleine Knöpfe zu beiden Seiten des Griffes gegeneinanderpreßte. Ich hätte das Geld ja nun sofort an mich nehmen können, aber dann wäre der Verdacht gleich auf mich gefallen, falls Mr. Louba nach seiner Rückkehr nachschaute.

 

Der Plan, den wir uns ausgedacht hatten, war folgender: Sobald Charlie mein Telegramm erhalten hatte, sollte er Louba aufsuchen; schon an der Tür würde ich ihm mitteilen, wo das Geld versteckt war. Er sollte es dann entweder sofort an sich nehmen, oder, wenn das nicht möglich war, später nochmals zurückkommen – und zwar über die Feuerleiter. Das Fenster würde ich schon vorher öffnen. Wir hatten uns auch über die Alarmklingel unterhalten, die aber nur funktioniert, wenn man die Leiter an der Feuertreppe herunterzieht. Ich sagte Charlie, daß im Garten eine Malerleiter stand, mit deren Hilfe man die Treppe hinaufkonnte, ohne die Alarmklingel in Tätigkeit zu setzen. Anschließend sollte ich Charlie in der Bar treffen, wo wir das Geld dann teilen wollten. Das gefiel mir eigentlich gar nicht, denn ich konnte mir an meinen fünf Fingern abzählen, daß er mich übers Ohr hauen würde. Dieser Gedanke bewog mich dann, selbst zu handeln.

 

Ich sandte also das Telegramm ab, und bald darauf kam Mr. Louba nach Hause. Er war gut gelaunt und erlaubte mir, abends auszugehen. Ich hatte meine Braut gebeten, mich in der Nähe von Braymore House zu erwarten, weil ich doch ein Alibi brauchte, falls das Geld etwa vermißt würde. Es hat mich zuvor allerhand Mühe gekostet, sie zum Kommen zu bewegen, da sie eigentlich nicht frei hatte.

 

Eine halbe Stunde, bevor Charlie erschien, war ich im Wohnzimmer; Mr. Louba nahm gerade ein Bad. Ich hatte ihn zuvor durch das Schlüsselloch beobachtet und gesehen, daß er direkt auf den Schreibsekretär zuging. Hier bot sich mir nun eine einmalige Gelegenheit. Ich wußte genau, daß ich von Charlie niemals meinen Anteil erhalten würde. Wenn ich das Geld jetzt wegnahm, konnte mir nichts mehr passieren, denn wenn der Verlust nach dem Weggang von Charlie entdeckt wurde, mußte ja der Verdacht auf ihn fallen. Ich suchte nach keinen Entschuldigungen für meine Person. Ich wollte stehlen – und das tat ich.

 

Nachdem ich die Schublade aufgezogen hatte, nahm ich eine Handvoll Banknoten heraus und stopfte sie in die Tasche. Um sicher zu sein, daß man das Geld nicht bei mir fand, nahm ich einen Umschlag, klebte eine Marke darauf und adressierte ihn an mich, und zwar an eine Adresse, wo ich die Möbel, die ich schon seit einem Jahr für unsere zukünftige Wohnung angeschafft hatte, aufbewahren ließ. Ich ging rasch zum Briefkasten und rannte dann zur Wohnung zurück. Ungefähr fünf Minuten, bevor Charlie ankam, war ich dort. Ich ließ ihn herein und flüsterte ihm zu, wo das Geld lag. Mr. Louba trat aus dem Zimmer und begrüßte Charlie, worauf ich weggehen wollte. Im selben Moment klingelte es, und Dr. Warden stand draußen. Fast wäre mir übel geworden, als ich ihn sah, denn ich wollte ja um jeden Preis schnell hinauskommen, da Charlie und Louba schon heftig miteinander stritten. Ich glaubte jetzt keinen Moment mehr daran, daß Charlie an das Geld herankommen konnte, ohne noch einmal zurückzukehren.

 

Nun, was daraufhin passierte, wissen Sie ja alles. Ich ging weg, sprach mit meiner Braut und unterhielt mich kurz mit dem Diener im ersten Stock. Danach ging ich wieder in die Wohnung. Nachdem Dr. Warden weg war, lauschte ich an der Tür. Man hörte nicht den geringsten Laut, aber das war nichts Außergewöhnliches, da Mr. Louba oft stundenlang in seinem Zimmer war, ohne nach mir zu rufen. Um zehn Uhr vierzig rührte sich noch immer nichts. Ich bekam Angst, daß etwas nicht stimmte, klopfte mehrmals an der Tür und öffnete sie dann. Sie wissen ja, was ich vorfand … Als ich Loubas Leiche entdeckte, war ich zuerst vor Furcht fast außer mir. Dann ging ich ins Wohnzimmer und öffnete die Schreibtischschublade – sie war leer. Ohne mich weiter zu besinnen, rief ich nun sofort Dr. Warden an.

 

Das, meine Herren, ist die ganze Geschichte, soweit ich daran beteiligt bin. Ich suchte Dr. Warden auf, um wegen einer Auswanderung nach Südamerika seinen Rat zu erbitten. Dadurch hoffte ich, der Polizei zu entgehen.«

 

Der Doktor versuchte die weinende junge Frau zu trösten, nachdem ihr Mann abgeführt worden war. Er drückte ihr einige Geldscheine in die Hand und ließ sie durch seine Haushälterin zu ihrer Mutter bringen.

 

Während der Zeit, da Miller seine Gefängnisstrafe verbüßen mußte, bemühte sich Dr. Warden um dessen Privatangelegenheiten. Er stellte fest, daß sich Miller in den Jahren seiner Dienstzeit einen ganz ansehnlichen Betrag zusammengespart hatte. Es hätte wahrscheinlich einen Kampf mit den Behörden um den Besitz dieses Geldes gegeben, wenn man nicht den Hauptteil des Emil Louba gestohlenen Betrags unter Charles Berrys Sachen gefunden hätte.

 

»Die Geschichte ist jetzt vollständig«, sagte Trainor, als er den Doktor eines Tages in Whitehall traf. »Weldrake und da Costa wurden beide auf ihre eigene Kaution hin freigelassen, und die Sache mit Miller lenkt jeden Verdacht von ihnen und Leamington ab.«

 

»Sind Sie dessen sicher?« fragte Dr. Warden rasch.

 

»Nun, nach dem Gesetz unbedingt. Und ich glaube auch nicht, daß ein Funke Zweifel daran bestehen kann, daß Charles Berry der Mörder war. Das einzig Geheimnisvolle ist und bleibt die Frau – wo mag sie hingekommen sein?«

 

John Warden zuckte die Schultern.

 

»Was geht es uns an?« fragte er und brachte das Gespräch auf andere Dinge.

 

Es war Herbst, und Frank Leamington und Beryl verbrachten ihre Flitterwochen am Corner See. Es war ein wunderschöner Tag, der See lag tiefblau vor den beiden.

 

Frank lehnte faul im Heck des Bootes und schaute zu Beryl hinüber, die sich fröhlich in die Ruder legte.

 

»Liebste, manchmal ist mir immer noch, als müßte ich plötzlich aufwachen und wieder die nackten Wände meiner Untersuchungszelle in Bow Street sehen«, sagte er.

 

Sie schauderte ein wenig.

 

»So darfst du doch nicht reden – hier, wo es so schön ist! Was stand denn in dem Brief, den dir der Portier gab, als wir das Hotel verließen?«

 

Er angelte ihn aus der Tasche. Der Briefumschlag war mit der Maschine geschrieben und augenscheinlich in London umadressiert worden.

 

»Den Poststempel kann ich nicht genau erkennen. Die Marke ist brasilianisch.«

 

Er riß den Brief auf und zog einen dicken Pack engbeschriebener Bogen heraus. Nachdem er die ersten Worte gelesen hatte, sprang er so heftig auf die Füße, daß das Boot mächtig zu schaukeln anfing.

 

»Was ist denn los?« fragte sie besorgt.

 

»Nichts … Warte, Beryl. Laß mich das hier erst zu Ende lesen.«

 

Sie blieb stumm sitzen und beobachtete sein gespanntes Gesicht, als er den wahren Bericht vom Tod Emil Loubas las.

 

Kapitel 32

 

32

 

»Mein lieber Leamington!

 

Vor einigen Monaten, kurz bevor ich meine Ferienreise antrat, einen Urlaub, von dem zurückzukehren ich weder wollte noch beabsichtigte, sagten Sie mir ganz im Vertrauen, daß Sie alles daransetzen würden, dem wirklichen Mörder Emil Loubas zu helfen. Sie kannten die Schlechtigkeit Loubas so genau, daß Sie sogar sagten, Sie würden nicht zögern, dem, der ihn tötete, die Hand zu reichen. Aus diesem Grund, weil ich Ihre Aufrichtigkeit und Ehrenhaftigkeit kenne und volles Vertrauen zu Ihrer Verschwiegenheit habe, möchte ich Ihnen jetzt den genauen Bericht geben, wie Louba wirklich starb.

 

Zuerst muß ich mich selbst kurz erwähnen. Ich wurde in dem Dorf Buckfast-on-the-Moore in der Grafschaft Devonshire geboren. Mein Vater war ein kleiner Grundbesitzer, ein Mann, der sich nebenbei als geschickter Tierarzt eines guten Rufes erfreute. Meine Mutter stammte aus Gloucestershire, und ich kann sie mir heute noch als Vorbild einer wirklichen Dame vorstellen.

 

Nach meinem Studium auf der Universität Cambridge praktizierte ich als junger Arzt beim St.-Bartholomew-Hospital. Während ich dort war, starben mein Vater und meine Mutter kurz hintereinander und hinterließen ihr Vermögen zu gleichen Teilen mir und meinem lieben Bruder Philipp.

 

Philipp interessierte sich sehr für die Landwirtschaft und bewirtschaftete unser Gut weiter. Er machte das so geschickt, daß das Grundstück bald einen erheblichen Gewinn für uns beide abwarf.

 

Nach einiger Zeit kaufte ich mir eine Praxis in Exeter und war schon im Alter von fünfunddreißig Jahren einer der besten Ärzte in dieser Stadt.

 

Noch während ich studierte, heiratete Philipp ein sehr hübsches und liebenswürdiges Mädchen. Schon damals hatte ich um meinen Bruder Sorge, da er lungenkrank war.

 

Philipps Frau war mir vom ersten Augenblick an sehr sympathisch; als die beiden ein reizendes Töchterchen erhielten, war ich selbst der glücklichste Mensch. Philipp nannte das Mädchen nach unserer Mutter Kathleen. Hätte ich doch damals schon gewußt, was für ein Schicksal die arme Kleine erwartete …

 

Elisabeth, die Frau Philipps, wurde nach der Geburt sehr krank und erholte sich nie mehr richtig. Kate war sieben Jahre alt, als ihre Mutter starb. Mein armer Bruder folgte ihr drei Monate später ins Grab, und ich nahm das verwaiste Kind in Obhut. Meine Praxis in Exeter gab ich auf und kaufte mir ein Haus in der Devonshire Street. In meinem Beruf hatte ich stets Glück, und auch in London füllte sich mein Sprechzimmer bald mit einer unaufhörlichen Kette von Patienten.

 

Das Gut war verkauft worden und hatte eine sehr große Summe eingebracht.

 

Kate blieb bis zu ihrem zehnten Lebensjahr bei mir, dann sandte ich sie in eine ausgezeichnete Schule nach Gloucestershire, wo sie sehr glücklich und zufrieden aufwuchs.

 

Die Zeit, die nun folgte, verlief sehr ruhig. Mit vierzehn Jahren schickte ich Kate in eine der besten Mädchenoberschulen Englands nach Cheltenham. Sie war restlos glücklich. Schon damals entdeckte ich in ihrem Charakter eine sehr romantische Ader, die mich aber nicht sehr beunruhigte – sie war ja ein junges Mädchen. Vor allem liebte sie den Orient und alles, was damit zusammenhing. In ihren Ferientagen, die wir sehr vergnügt miteinander verbrachten, pflegte sie von nichts anderem als von den Wundern des Orients, des neuen und des alten, zu schwärmen. Die Dichter des Ostens kannte sie alle – Hafiz zitierte sie aus dem Handgelenk. Das alles machte mir Spaß – was hätte ich mir auch dabei denken sollen!

 

Mit sechzehn Jahren war sie eine reizende junge Dame. Die meisten Ferien, selbst die Sommerferien, verbrachte sie bei mir in der Devonshire Street.

 

Bei einem solchen Schulurlaub lernte sie Hurley Brown kennen, einen jungen Offizier im West Sussex Regiment, den Sohn eines meiner Exeter-Kollegen, einen anständigen, ordentlichen Menschen, wie man wohl selten einen trifft. Er war auf Urlaub von seinem Regiment, das damals in Ägypten stationiert war. Auch er war ein Bewunderer des Orients, und sie lauschte entzückt seinen farbenfrohen Geschichten aus dem alten Ägypten, seinen Erzählungen von Städten und Menschen des Fernen Ostens.

 

Obgleich sie erst sechzehn Jahre alt war und er schon zehn Jahre älter, verliebte er sich sofort in sie. Was Kate betrifft, so schwärmte sie wohl nur ein wenig für ihn – wahrscheinlich hauptsächlich wegen der Geschichten, die er ihr so schön erzählte. Zu ihr und auch zu mir sagte er nichts von seiner Liebe. Als er von seinem Großvater etwas Geld erbte, kehrte er nach England zurück. Da gerade das Gut, das wir früher einmal besessen hatten, zum Kauf angeboten wurde, erstand er es und versuchte es auch zu bewirtschaften. In London gehörte ihm eine kleine Wohnung, und hier hielt er sich immer in den Monaten auf, in denen Kate zu ihrem Schulurlaub nach Hause kam.

 

Natürlich begann ich die Dinge zu erraten, es bedurfte dazu wirklich keiner Sehergabe. Tatsächlich war meine Meinung: Verlobung in zwei, Heirat in drei Jahren. Kate hatte Jim gern – vielleicht nur nicht auf die richtige Art. Einmal sagte sie zu mir: ›Ach, ich wünschte, Jim wäre ein Radscha oder ein Großwesir oder so etwas Ähnliches – er erzählt jetzt gar nicht mehr von Bagdad und Kairo, sondern will sich immer nur über das Verbrechertum im Orient, über den Polizeidienst dort und andere langweilige Sachen mit mir unterhalten.«

 

Ich gab Jim damals einen Wink, und ich glaube, er verlegte sich sofort wieder auf orientalische Volkskunde bei ihr.

 

Zu der Zeit, als Kate eben für immer aus Cheltenham zurück nach Hause gekommen war, traf ich Emil Louba. Dr. Clark, ein Kollege von mir, hatte ihn wegen seiner Malariaanfälle behandelt. Aus gesundheitlichen Gründen mußte Clark seine Praxis aufgeben, und auf seine Bitte hin führte ich die Behandlung Loubas weiter und konnte ihn auch heilen. Auf eine gewisse Art hatte ich diesen Louba damals ganz gern – ich hatte ihn in derselben unpersönlichen Art gern, wie etwa die Sahara oder den Tower. Er war ein Kraftmensch, körperlich wie geistig. Er hatte Sinn für Humor und war orientalisch genug, daß ich mich ein wenig mit ihm beschäftigen mußte.

 

Ich fand, daß er ein recht großzügiger, toleranter Mensch war – nur in einem Punkt nicht. Er haßte Soldaten, besonders englische Soldaten, und am meisten wieder die englischen Offiziere.

 

»Nichts als Parasiten«, pflegte er zu sagen. ›Sie haben nichts zu tun, als Geld auszugeben und Geld zu borgen, und wenn man es zurückverlangt, dann schicken sie ihre Soldaten und lassen einem das Haus überm Kopf anzünden.«

 

An dem Tag, an dem Kate aus der Schule zurückkehrte sie kam unverhofft und einen Tag früher, als ich erwartet hatte –, war Emil Louba gerade zum Abendessen bei mir. Das war der Tag, den ich bald verfluchen sollte.

 

Louba war glänzender Laune, und in einer solchen Stimmung konnte er geradezu bezaubernd sein. So groß und ungeschliffen er auch war, er hatte ein gewisses Etwas … Ich bemerkte – und war, Gott verzeih mir, wieder nur amüsiert –, daß Kate völlig von ihm fasziniert war. Mitten während des Essens wurde ich zu einem Patienten gerufen. Während meiner Abwesenheit, so kurz sie auch war, muß Louba völlig unvermittelt Kate eine Liebeserklärung gemacht haben. Als ich zurückkam, fielen mir ihre heißen Wangen und ihre leuchtenden Augen auf. Mit einer Verschlagenheit und Geschicklichkeit, gegen die ich nichts ausrichten konnte, hatte er es verstanden, das erste geheime Zusammentreffen mit ihr zu vereinbaren, und diese Zusammenkünfte sollten später eine solch furchtbare Folge haben.

 

James Hurley Brown kam erst am nächsten Tag. Er hatte sich von Kate getrennt, als sie fast noch ein Kind war; jetzt fand er eine Erwachsene vor. Ihre Einstellung zu ihm hatte sich verändert. Ich selbst merkte es, fand aber Gründe dafür, die in Wirklichkeit weit daneben trafen. Und dann kam für den armen Jim der Höhepunkt seines Unglücks. Als er sie bat, seine Frau zu werden, wurde er fast mit einer brutalen Entschiedenheit zurückgewiesen.

 

›Ich habe ja Jimmy sehr gern‹, erklärte mir Kate daraufhin einmal. ›Aber er ist ein so praktisch veranlagter Mensch, das genaue Gegenteil von – nun von mir und meinen Idealen.‹

 

Damals hegte ich noch nicht den mindesten Verdacht. Jimmy ging auf seine Farm zurück, und von seinen veränderten Absichten hörte ich erst, als er mir mitteilte, daß er das Anwesen verpachtet und sich um eine Offiziersstelle im malaiischen Polizeidienst beworben hätte.

 

Kate tat es leid, daß er ging. Aber sie blieb fest.

 

Eines Tages traf ich Emil Louba im Club. Er war bester Laune und fragte nach Kate, als ob er sie seit jenem Abend nie wiedergesehen hätte.

 

›Ein wundervolles Mädchen‹, sagte er begeistert. ›Sie wird bestimmt einen Mann einmal sehr glücklich machen. Ist sie eigentlich verlobt?‹

 

Der Wahrheit zuwider erklärte ich ihm, sie sei so gut wie verlobt mit einem Freund von mir, Mr. Hurley Brown. Ich bemerkte sofort eine Veränderung in seinen Zügen.

 

›Hurley Brown!‹ wiederholte er. ›Ist das derselbe Brown, der auf Malta war?‹

 

Ich sagte, das sei leicht möglich.

 

Merkwürdigerweise entsann ich mich dieser Unterhaltung später nicht, nicht einmal als Jimmy eines Tages nebenbei erwähnte, daß er einen alten Groll gegen Louba wegen irgendeines Vorfalles auf der Insel hege.

 

Jimmy kam, um sich zu verabschieden, und Kate legte eine fast grausame Unbekümmertheit an den Tag, obwohl sie später weinte, als er fort war.

 

Eines Tages traf ich Loubas alten Arzt, Dr. Clark. Er drückte den Wunsch aus, seinen ehemaligen Patienten zu besuchen, und wir ließen uns bei ihm in Braymore House melden. Miller war ein wenig verwirrt, als er uns sah. Er erklärte, sein Herr sei beschäftigt, aber er gebe unsere Karten ab.

 

Es dauerte eine ziemliche Weile, bis Louba uns vorließ. Das Zimmer war ein wenig in Unordnung. Über den Stühlen hingen seltene und schöne Gewebe des Orients. Eine goldene Wasserpfeife stand am Boden neben der Couch. Es sah aus, als hätten wir eine Gesellschaft gestört.

 

Wir verabschiedeten uns bald wieder und fanden unten den Portier in heller Aufregung. Jemand hatte die Feuertreppe benutzt und dadurch die Einbrecherklingel in Gang gesetzt. Der Portier war gerade in diesem Augenblick damit beschäftigt, Mieter im Fahrstuhl nach oben zu bringen, und als er wieder zurückkam, war nichts mehr zu sehen.

 

Ich kam nach Hause und fand Kate in ihrem Zimmer. Das war mir gerade recht, denn sie konnte mir bei einer Laboratoriumsarbeit helfen, die ich ohne meinen Assistenten ausführen wollte. Ich hatte einen gewissen Charles Berry angestellt, der sehr ehrgeizig, aber anscheinend nicht besonders ehrlich war. Verschiedene Male verschwanden wertvolle Laboratoriumsgeräte.

 

Ich war stets der Meinung gewesen, Kate hätte eine Abneigung gegen ihn, aber in letzter Zeit hatte ich eine Veränderung in ihrem Benehmen ihm gegenüber bemerkt. Sie war sehr höflich zu ihm, und einmal hörte ich sogar, daß sie sich flüsternd mit ihm unterhielt. Damals schenkte ich diesem Umstand aber keine besondere Beachtung.

 

Im allgemeinen frühstückte ich um neun Uhr, und als ich eines Morgens etwas früher als gewöhnlich herunterkam, erfuhr ich zu meiner Überraschung von der Haushälterin, daß Kate schon ausgegangen sei. Sie wolle sich mit einer Freundin treffen und einige Besorgungen machen. Zum Mittagessen würde sie wahrscheinlich noch nicht zurück sein. Auch das beunruhigte mich nicht weiter, da Kate immer etwas exzentrisch war und mich schon öfter hatte allein frühstücken lassen.

 

Als ich recht mitgenommen von den Anstrengungen des Tages nach Hause kam, war es fast sechs Uhr. Meine Haushälterin kam mir mit sorgenvollem Gesicht entgegen und begrüßte mich mit den Worten: ›Miss Kate ist noch nicht zurück, Herr Doktor.‹

 

›War sie den ganzen Tag nicht da?‹ fragte ich erstaunt.

 

›Nein, Herr Doktor. Heute nachmittag kam aber ein Brief für Sie – ich glaube, er ist von ihr.‹

 

Ich fand den Brief auf meinem Schreibtisch und erkannte sofort die Handschrift Kates. Der Stempel lautete: zehn Uhr fünfzehn, Dover.

 

Mit dem Gefühl eines nahenden Unheils öffnete ich das Kuvert und zog einen Briefbogen heraus. Es waren nur ein paar Zeilen:

 

 

Lieber Papa!

 

Schon lange liebe ich heimlich Charles Berry, aber ich wagte nie, es Dir einzugestehen. Ich wußte mir keinen anderen Weg – wir sind miteinander davongegangen und werden uns morgen trauen lassen. Versuche trotzdem, nur Gutes zu denken von Deiner Dich liebenden Tochter                                          Kate.

 

 

Als ich mich von meinem Entsetzen einigermaßen erholt hatte, setzte ich sofort alle Hebel in Bewegung, um den beiden auf die Spur zu kommen. Ich hoffte eigentlich dabei auf Erfolg und dachte auch, Kate ließe wieder etwas von sich hören. Aber kein Brief kam mehr. Ich stellte Privatdetektive an und ließ das Haus von Charles Berry bewachen, aber weder ich noch seine Mutter erhielten irgendwelche Nachrichten.

 

In allen englischen und ausländischen Zeitungen ließ ich Inserate erscheinen, worin ich die beiden beschwor, zurückzukehren und ihnen meine volle Verzeihung versprach – ergebnislos. Der einzige Mensch, der mir in dieser schrecklichen Zeit hätte beistehen können, war unterwegs nach dem malaiischen Archipel.

 

Sechs Monate später erhielt ich einen kurzen Brief von Kate. Sie schrieb, daß sie sehr glücklich sei, und bat mich, ich solle mir keine Gedanken um sie machen. Sie hoffe, mich eines Tages wiederzusehen. Der Brief war in Wien aufgegeben, doch die Wiener Polizei, mit der ich mich sofort in Verbindung setzte, war nicht in der Lage, sie zu finden.

 

In den Jahren, die nun folgten, klammerte ich mich verzweifelt an die einzige Hoffnung, die mir verblieben war – daß sie wirklich glücklich sei. Louba traf ich nicht. Wie ich hörte, war er in Ferien; außerdem wäre ich auch gar nicht auf den Gedanken gekommen, ihn ins Vertrauen zu ziehen. Erst kurz bevor Kates zweiter Brief ankam, sah ich Louba wieder und erzählte ihm seltsamerweise doch die ganze Sache. Eigentlich war er es, der die Geschichte aufs Tapet brachte, indem er mich fragte, wie es ihr ginge. Ich sagte ihm, sie sei verheiratet und wohne irgendwo auf dem Kontinent, und ich würde nach wie vor alles nur Menschermögliche aufbieten, um sie ausfindig zu machen. Es muß diese: Warnung gewesen sein, die das Schreiben Kates hervorrief – wie ich jetzt weiß, wurde es auf Loubas Befehl verfaßt.

 

An Hurley Brown schrieb ich nur, daß Kate verheiratet sei. Den Namen des Mannes teilte ich ihm mit und hoffte dabei im stillen, daß der arme Jimmy nicht wußte, mit was für einem Menschen Kate verheiratet war. In seinem Antwortschreiben schien er überrascht zu sein, aber alles mit philosophischer Ruhe hinzunehmen.

 

Jetzt weiß ich, was damals wirklich passierte. Louba hatte Kate mit ins Ausland genommen, zum Teil weil er in sie verliebt war, zum andern Teil um sich an dem Mann zu rächen, von dem er glaubte, daß er mit Kate verlobt sei. Mit den beiden war Charles Berry abgereist. Er war für Louba sozusagen eine Ausrede und ein Schutzschild, und als Emil Louba schließlich seines neuen Spielzeugs müde wurde, trat er es an Charles Berry ab, bestand aber auf einer Heiratszeremonie. Sie wurden vor dem britischen Konsul in Bukarest getraut, und Louba setzte ihnen eine kleine Monatsrente aus.

 

Ich möchte nicht von den schrecklichen Jahren sprechen, in denen Kate zuerst Tänzerin war, dann, als ihre Anziehungskraft nachließ, Kellnerin in einem schmutzigen Café in Bukarest. Mir ist es heute noch unverständlich, wie sie alle diese Erniedrigungen überleben konnte. Der einzige glückliche Umstand war, daß Charles Berry sie wenigstens mit seiner Liebe verschonte. Gut war auch, daß er sich sehr vor Louba fürchtete und sich deswegen ihr gegenüber doch etwas zurückhielt.

 

Loubas Geldanweisungen kamen regelmäßig bis etwa gegen Ende des letzten Jahres, dann blieben sie plötzlich aus. Nach einiger Zeit teilte Louba mit, er habe nun jahrelang bezahlt und denke gar nicht daran, dies weiterzuführen. Er rate Charles Berry, seine Frau etwas gewinnbringender auszubeuten, als er es bisher getan hätte.

 

Berry erschrak. Seine Frau war ihm von jeher nur eine Last gewesen, und er wußte auch nicht, wie er aus ihr, bei ihrem immer noch stolzen Charakter, irgendwie hätte Geld herausholen können.

 

Kurz entschlossen kam er nach London und brachte Kate gleich mit. Zu jener Zeit wußte er noch nichts davon, daß Kate regelmäßig an Louba geschrieben und ihn gebeten hatte, sie doch aus ihrem schrecklichen Dasein zu befreien. Im letzten dieser Briefe hatte sie auch die Deptforder Adresse mitgeteilt, die ihr Berry als Ziel angegeben hatte.

 

Kate schrieb diese Adresse als Absender an den Anfang des einen Briefes. Allein sie wohnten zunächst gar nicht in der Little Kirk Street, sondern zogen vorerst in ein kleines Hotel.

 

Kapitel 33

 

33

 

Berrys Absicht war, von Louba die Zusage zu erhalten, daß er die Rente weiterzahlen würde, oder aber eine größere Pauschalsumme von ihm zu bekommen. Louba erklärte ihm geradeheraus, daß er kein Geld mehr für ihn habe und wahrscheinlich selbst bald aus England flüchten werde – mit allem Geld, das er nur zusammenraffen könne.

 

Berry glaubte dies zuerst nicht, aber Loubas Diener Miller bestätigte ihm dann die Sache. Die beiden unterhielten sich miteinander mit dem Erfolg, der Ihnen ja bekannt ist.

 

Hurley Brown war inzwischen längst wieder nach England zurückgekehrt und hatte einen Posten in Scotland Yard angenommen. Ich erzählte ihm, was ich von der ganzen Sache wußte, aber er äußerte seine Meinung dazu nicht. Er erwähnte nur, Emil Louba wisse vielleicht Näheres über das Verschwinden der beiden – ein Verdacht, den ich sofort mit aller Entschiedenheit zurückwies. Wie schon gesagt, ich hatte Louba trotz seiner vielen Schwächen und trotz seiner schlechten Kinderstube eigentlich immer ganz gern gehabt.

 

Jimmy und ich sprachen nur selten von Kate – ja, wir schienen uns immer fremder zu werden. Jeder war so mit seinen eigenen Interessen beschäftigt, daß wir bald nur noch ›Hurley Brown‹ und ›Warden‹ füreinander waren. Trotzdem hatten wir unsere gegenseitige Zuneigung nie verloren.

 

Wie seltsam sind doch die Zufälle, die manchmal die ganze Zukunft eines Menschen bestimmen … Eine gleichgültige Redewendung Hurley Browns im Club erinnerte Louba daran, daß er sich nicht ganz wohl fühlte und daß er mich eigentlich konsultieren könne. Wir verabredeten einen Zeitpunkt … Doch ich greife vor.

 

Die ganzen Jahre über war mir Kate nie aus dem Sinn gekommen. Kein Tag verging, an dem ich nicht morgens, mittags und abends an sie dachte. Immerhin tröstete ich mich damit, daß ihr langes Schweigen wohl nur bedeutete, daß sie glücklich sei. Tatsächlich war die Wunde fast vernarbt.

 

Ich entsinne mich, daß ich an Kate dachte, als ich damals zu Louba fuhr. Ebenso überlegte ich mir den Grund des seltsamen gegenseitigen Hasses, den Hurley Brown und Louba sich entgegenbrachten. Ich wußte, daß Jimmy es fertiggebracht hatte, Louba aus Malta zu verjagen. Es war Tatsache, daß Loubas Haus in Brand gesteckt worden war, kurz nachdem ihm Hurley Brown gedroht hatte. Man nimmt an, daß der Brand durch die wütenden Soldaten einer Kompanie gelegt wurde, deren junger Offizier durch seine Spielschulden an Louba in den Tod getrieben worden war. Miller ließ mich ein, und ich sah sofort an seinem Gesichtsausdruck, daß etwas nicht in Ordnung war. Später gab er auch zu, daß er einen Diebstahl geplant hatte und nun der Meinung war, Charles Berry käme ihm zuvor. Als er mir sagte, er wolle sich schnell mit seiner Braut treffen und würde in einer Viertelstunde wieder zurück sein, war ich einverstanden und blieb auf dem Vorplatz.

 

Der Lärm im Wohnzimmer wurde immer größer. Ohne eigentlich lauschen zu wollen, war ich gezwungen, fast jedes Wort mit anzuhören. Plötzlich hörte ich, wie sich der Schlüssel im Schloß drehte, die Tür wurde aufgerissen, und Louba schrie in heller Wut:

 

›Hinaus mit Ihnen, und unterstehen Sie sich nicht, wieder herzukommen! Wenn ich Sie noch einmal sehe, dann verabreiche ich Ihnen einen Denkzettel, den Sie nicht vergessen werden – Mr. Charles Berry!‹

 

Charles Berry!

 

Ich sprang sofort auf.

 

›Was würden Sie für ein Gesicht machen, wenn ich zu dem alten Doktor ginge und ihm alles erzählte – was halten Sie davon?‹ hörte ich Berry sagen. Ich erkannte seine Stimme gleich wieder.

 

›Gehen Sie doch hin und sagen Sie es ihm! Aber sagen Sie ihm dann auch, was Sie gemacht haben! Erzählen Sie ihm nur, daß ich schon seit zehn Jahren den Unterhalt für Sie und Ihre Frau bezahle! Und jetzt marsch hinaus … Ihrer Frau können Sie noch sagen, daß Sie mir keine Briefe mehr schreiben soll. Wenn ich noch einmal dieses Gewinsel lesen muß, besuche ich sie – und dann kann sie was erleben!‹

 

Ich stand immer noch wie zu Stein erstarrt da und zitterte an allen Gliedern. Dann hörte ich Berry auf einem andern Weg das Zimmer verlassen. Mit Mühe bekam ich mich wieder in die Gewalt, ging durch die halboffene Wohnzimmertür und stand vor Louba.

 

Er blickte erschrocken auf, als ich eintrat, und wurde so weiß wie eine Kalkwand.

 

›Wann – wann kamen Sie herein, Doktor?‹

 

›Eben im Moment‹, erwiderte ich.

 

›Haben Sie etwas gehört? Haben Sie jemand fortgehen sehen?‹ fragte er weiter.

 

›Nein‹, entgegnete ich fest.

 

Ich hatte mich wieder völlig gefaßt, nur die Hände konnte ich nicht stillhalten.

 

›Gut!‹ meinte Louba mit einem Seufzer der Erleichterung. ›Ich hatte ganz vergessen, daß Sie kommen wollten, Doktor. Wollen Sie mich gleich untersuchen?‹

 

›Ziehen Sie das Hemd aus‹, erwiderte ich mechanisch und setzte mich an den kleinen Schreibsekretär, während er Kragen und Krawatte ablegte.

 

Ich kannte das Rezept auswendig, das ich ihm hatte geben wollen. Ganz automatisch nahm ich ein Blatt Papier und fing an zu schreiben – ohne richtig hinzusehen und zu wissen, was ich schrieb. Ich hatte schon einen Teil des Rezeptes fertig, als ich merkte, daß die Feder ja trocken war. Ich legte sie hin und nahm das Stethoskop aus der Tasche. Meine Hände zitterten immer noch, und ich versuchte mit aller Kraft, sie ruhig zu halten.

 

Dann sah ich plötzlich den Brief. Er lag auf dem Boden zu meinen Füßen, und ich bückte mich danach und hob ihn auf. Louba hatte mir den Rücken zugedreht und konnte mich nicht sehen. Der Brief war von Kate – ich erkannte sofort ihre Handschrift. Und in dem Dutzend Zeilen, die sich mir unauslöschlich eingeprägt haben, las ich die volle Wahrheit über die bodenlose Schlechtigkeit dieses Menschen. Ich las sie so genau heraus, als sei mir alles von einem Schwurgericht unter Eid erklärt worden. Ich erfuhr die Kniffe, die er angewandt hatte, um sie fortzulocken; ich erfuhr die Rolle, die er Charles Berry zugeteilt hatte. Und ich erfuhr auch, in was für einer Hölle sie an der Seite dieses Verbrechers lebte.

 

Louba hatte sich die ganze Zeit über mit seiner Krawatte abgemüht, warf sie jetzt auf den Boden und wandte sich mir zu. Als ich ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand, zögerte ich keine Sekunde – ich nahm den erstbesten Gegenstand, der mir in die Hand kam. Es war ein schwerer silberner Leuchter, und damit schlug ich ihn nieder. Ich war so schnell, daß ich schon zum zweitenmal zuschlug, bevor er noch auf den Boden fiel. Schon der erste Schlag muß aber tödlich gewesen sein.

 

Ich betrachtete den Leuchter. Er war mit Blut besudelt, und ich trug ihn hinaus ins Speisezimmer. Gott sei Dank hatte ich die Handschuhe anbehalten, brauchte also keine Angst wegen Fingerabdrücken zu haben. Dann ging ich zu Emil Louba zurück. Er war tot. Ich brauchte ihn gar nicht zu untersuchen, um das festzustellen. Im Bruchteil einer Sekunde war ich mir über die nächsten Schritte, die ich unternehmen mußte, klargeworden und ging in das Schlafzimmer hinüber. Dort machte ich das Fenster auf, das zur Feuerleiter führte, nahm seinen seidenen Morgenrock, zog ihn an und knöpfte ihn bis zum Hals hinauf zu.

 

Beim Öffnen des Fensters hatte ich eine der beiden Schrauben, die zur Befestigung der Riegel dienten, heruntergeworfen. Ich hob sie auf und warf sie zusammen mit der andern auf Loubas Bett – aus keinem anderen Grund, als um die Polizei irrezuführen. Als nächstes nahm ich Kates Brief, riß die Adresse ab und hielt an den Rest ein Streichholz. Dann warf ich das Blatt in den Kamin und wartete, bis es verbrannt war. Mühsam hob ich danach den Körper vom Boden auf, trug ihn in das Schlafzimmer und legte ihn aufs Bett. Als ich draußen im Korridor ein Geräusch zu hören glaubte, schlich ich in den Vorplatz hinaus und lauschte an der Tür. Dabei kamen Blutflecken von dem Morgenrock an die Türfüllung.

 

Nur vier Minuten von den fünfzehn, die Miller fortbleiben wollte, waren bis jetzt verstrichen. Ich zog den Morgenrock aus, ging ins Badezimmer, steckte dort meine Handschuhe in die Tasche, wusch meine Hände und trocknete sie an einem frischen Handtuch ab. Das Handtuch legte ich dann wieder zu den anderen in den Kasten. Dann betrachtete ich mich sorgfältig in einem großen Spiegel und untersuchte sogar meine Schuhe nach Blutflecken. Als ich mich überzeugt hatte, daß alles völlig in Ordnung war, ging ich wieder auf den Vorplatz und setzte mich dort hin. Ich zog ein Buch aus der Tasche und brachte es tatsächlich fertig zu lesen. Ich las auch, als Miller wieder nach Hause kam, und nachdem ich noch die Komödie gespielt hatte, an der Tür nach Louba zu rufen, machte ich mich auf den Weg zurück in meinen Club.

 

Sie werden fragen, was es für einen Sinn hatte, daß ich zum Beispiel das Fenster aufmachte. Nun, das ist doch klar. Ich wollte ganz einfach das Verbrechen Berry in die Schuhe schieben – nicht etwa weil ich mich fürchtete, die Konsequenzen selbst zu tragen, sondern weil ich seinen Tod wünschte. Als ich das Haus verließ, sah ich Sie, Frank Leamington, und ich hatte das scheußliche Gefühl, daß Sie irgendwie in dieses Verbrechen mit hineinstolpern würden. Eigentlich wollte ich deshalb umkehren und Sie warnen; aber das hätte gefährlich werden können, gefährlich für uns beide, und aus diesem Grund entschloß ich mich, sofort in den Club zu gehen. Mein Freund Clark hatte Gott sei Dank keine Zeit, und so verbrachte ich den größten Teil des Abends in Hurley Browns Gesellschaft.

 

Als ich Sie in das Rauchzimmer kommen und in dem Fahrplan blättern sah, erschrak ich noch einmal sehr. Ich wurde dadurch so aufgeregt, daß ich beschloß, wieder in Loubas Wohnung zurückzukehren. Miller war ja nicht zu Hause, und ich hatte eine gute Ausrede, wenn ich hineinging. Es war mir besonders darum zu tun, Spuren, die ich eventuell doch hinterlassen hatte, zu verwischen. Kennzeichnend für meine damalige Gemütsverfassung ist, daß ich aber das unvollendete Rezept nachher nicht bemerkte.

 

Über die Feuerleiter gelangte ich sehr leicht in die Wohnung. Miller war nicht da, und ich durchsuchte das Zimmer in Ruhe. Kates Briefe, die ich entdeckte, steckte ich ein. Und dann fiel mein Blick auf das Telefon, und ich hatte eine Idee. Ich rief mich selbst im Club an – Loubas Stimme war ja so leicht nachzuahmen. Das tat ich aus demselben Grund, aus dem ich betreffs der Zeit, zu der Louba starb, gelogen habe um das Verbrechen auf einen andern abzuwälzen.

 

Den Rest der Geschichte kennen Sie ja bis zu einem gewissen Punkt. Berrys Aufenthalt wurde ausfindig gemacht, aber die Polizei kam zu spät, um ihn noch in dem Hotel, in dem er gewohnt hatte, verhaften zu können. Das einzige Beweisstück, das ihr in die Hände fiel, war ein Brief Millers, in dem er Berry mitteilte, daß Louba eine größere Summe im Haus habe.

 

Ich war inzwischen schon auf der Deptforder Spur. Nachdem die Polizei mich nicht mehr brauchte, war ich dort hingefahren und hatte vorsichtig Nachforschungen angestellt. Das fiel mir in der damals besonders nebligen Nacht sehr leicht.

 

Als ich am folgenden Tag erfuhr, daß Berry und Kate aus dem Hotel ausgezogen waren, wußte ich sofort, wohin sie sich gewandt hatten. Danach beobachtete ich Nacht für Nacht das Haus in der Little Kirk Street in Deptford.

 

Am Montagmorgen, als ich in aller Frühe zur Stadt zurückkehrte und mein Arbeitszimmer betrat, fand ich dort zu meiner Überraschung Jim vor, der auf mich wartete.

 

›Wo waren Sie, Doktor?‹ fragte er mich in seiner bedächtigen Art.

 

›Ich war unterwegs – hatte einen Patienten zu besuchen‹, versetzte ich so gleichgültig wie möglich. Ohne Umschweife antwortete er mir darauf:

 

›Papa, du hast Emil Louba ermordet.‹