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Jimmy McGrath kam erst wieder zu sich, als er die Tür zu seinem Zimmer aufschloß. Er wußte nicht, wie er nach Hause gekommen war, und auch jetzt bewegte er sich noch wie im Traum.

 

Er sollte einen Menschen ermorden, und zwar kaltblütig und mit voller Überlegung. Einen Mann, der ihm vertraute!

 

Verzweifelt ließ er sich auf einen Stuhl fallen, stützte den Kopf in die Hände und grübelte. Die Situation kam ihm völlig unwahrscheinlich vor – aber so sehr er sich auch bemühte, Klarheit in seine Gedanken zu bringen, ließ sich doch an der Tatsache nicht rütteln, daß er vielleicht bald ein Mörder war. Sollte er Shaun warnen? Das wäre einfach genug gewesen. Aber was dann? Tony Perelli würde es doch herausbekommen, und dann gab es nur eine Strafe.

 

Aber es war nicht die Furcht vor Strafe, die Jimmy zurückhielt, sondern das Gefühl, daß er Tony Perelli verpflichtet war. Er wußte gut genug, daß er sich völlig in seine Hand gegeben hatte, und wenn sich auch alles in ihm gegen eine solche Tat aufbäumte, sah er sich doch zu absolutem Gehorsam gezwungen.

 

So weit war es also jetzt mit ihm gekommen. Nun, wenn es ihm gelang, Shaun O’Donnell zu töten, würden Feeneys Leute ein schwarzes Kreuz hinter seinen Namen machen. Er lachte gequält bei diesem Gedanken; auch das flößte ihm keine Furcht mehr ein. Wenn er Shaun tötete, hatte auch er den Tod verdient.

 

Es klopfte an seiner Tür; er sprang auf, ging in die kleine Diele und öffnete.

 

Draußen stand O’Hara. Er trug einen neuen grauen Anzug; den Hut hatte er aus der Stirn geschoben; im Mund hing seine Zigarre.

 

»Beschäftigt?« fragte er.

 

Jimmy öffnete die Tür ganz und ließ ihn herein.

 

»Was, hier wohnen Sie?« Er sah sich kopfschüttelnd, in dem einfachen Raum um. »Nein, das ist wirklich nichts für einen Mann, der zu Perellis Organisation gehört. Na, ich denke, daß Ihnen Tony bald eine schönere Wohnung einrichten wird.«

 

Nachlässig setzte er sich auf den Tisch und betrachtete Jimmy neugierig. »Fertig für heute abend?«

 

Jimmy nickte. Er wollte gleichgültig erscheinen und riß sich zusammen.

 

»Natürlich, ich bin bereit.«

 

»Wenn Sie nachher zu unserer Garage gehen und in den kleinen Sportwagen steigen, dann kümmern Sie sich nicht um den Mann, der auf dem Boden sitzt – das bin nur ich. Feeneys Spitzel haben verdammt scharfe Augen. Die Burschen sind natürlich da, wenn der Wagen aus der Garage fährt, und wenn ich dann neben Ihnen säße, wäre die Geschichte schon verraten.«

 

Con O’Hara war auf seine Art ein kluger Mann, der die Lage genau überschaute. Das kommende Abenteuer bedeutete nichts Besonderes für ihn, er betrachtete es als Arbeit, die erledigt werden mußte wie jede andere.

 

Nachdenklich sah er Jimmy an. Es war nicht das erstemal, daß er einen Anfänger zu begleiten hatte.

 

»Machen Sie sich keine Sorgen«, meinte er schließlich gutmütig, nahm die Zigarre aus dem Mund und blies den Rauch zur Decke. »Denken Sie nur an die vielen Kollegen, die Shaun O’Donnell schon auf dem Gewissen hat!«

 

Jimmy machte eine ungeduldige Bewegung.

 

»Ich möchte möglichst wenig über die Sache nachdenken.«

 

»Ganz recht, möglichst wenig nachdenken!« stimmte Con bei.

 

Er gab Jimmy noch einige Instruktionen, diktierte ihm einen genauen Zeitplan und ging dann wieder fort, um Tony Perelli über den Erfolg seines Besuches zu unterrichten.

 

Tony war aber nicht zu Hause; wahrscheinlich fuhr er irgendwo mit Minn Lee spazieren. Er benützte dazu einen gepanzerten Wagen; selbstverständlich hielt er keine bestimmten Zeiten für seine Spazierfahrten ein und fuhr auch immer wieder woanders hin.

 

In der Wohnung war wie gewöhnlich Angelo Verona, der Frachtlisten und andere Schriftstücke durchsah, die aus Kanada gekommen waren. Als rechte Hand Tony Perellis wurde er von allen als sein Nachfolger angesehen. Merkwürdigerweise stammte er nicht aus Sizilien; seinen eigentlichen Namen kannte niemand. Er war klug, geschäftstüchtig und besaß großes Organisationstalent.

 

Feeneys und O’Donnells Leute respektierten und fürchteten ihn. Shaun pflegte zu sagen, daß Angelo das gefährlichste Mitglied von Perellis Bande sei; zu dieser Meinung trug die Tatsache bei, daß Angelo ein ausgezeichneter Pistolenschütze war, ein Experte für Maschinengewehre und eine Autorität auf dem Gebiet des Alkoholschmuggels.

 

Der Respekt, den Shaun O’Donnell vor Angelo hatte, war übrigens nicht gegenseitig. Angelo konnte keine Iren leiden, und aus diesem Grund war ihm auch Con O’Hara unsympathisch.

 

»Ist der Chef zu Hause?« fragte Con, ließ sich in dem bequemsten Sessel nieder und steckte sich eine neue Zigarre an.

 

Angelo sah von seiner Arbeit auf und schüttelte den Kopf.

 

»Ich war eben bei Jimmy McGrath«, erklärte Con. »Aus dem wird niemals ein richtiger Kerl – nicht in einer Million Jahren.«

 

»So, meinen Sie?« erkundigte sich Verona höflich.

 

In diesem Augenblick trat Tony ein. Er nickte Con nachlässig zu, ging zu Angelo und unterhielt sich mit ihm auf italienisch.

 

Con, der diese Sprache nicht verstand, fühlte sich zurückgesetzt.

 

»Könnt ihr euch nicht vernünftig unterhalten?« fragte er.

 

Perelli drehte sich um und sah ihn scharf an.

 

»Wer hat Sie eigentlich aufgefordert, in meine Wohnung zu kommen?«

 

»Ich wollte mit Ihnen über Jimmy sprechen«, erwiderte Con ärgerlich. »Wäre mir lieber, ich könnte den Auftrag ohne ihn erledigen. Der Junge sieht so aus, als ob er beim ersten Schuß umkippte.«

 

Perelli ging langsam zu ihm hinüber, blieb vor ihm stehen und stützte die Hände in die Hüften.

 

»Habe ich gefragt, was Sie möchten? Diesmal ist Jimmy an der Reihe. Sie gehen nur mit, um ihm zu helfen, falls er nervös wird und Shaun Zeit hat, sein Schießeisen zu ziehen. Es handelt sich nicht darum, daß Sie ihn mitnehmen – er nimmt Sie mit. Vergessen Sie das nicht, Con O’Hara!«

 

Das Gesicht des Iren verfinsterte sich noch mehr.

 

»Hab‘ schon verstanden«, knurrte er.

 

Er versuchte noch eine Zeitlang, mit Perelli eine freundlichere Unterhaltung in Gang zu bringen, als ihm das aber nicht gelang, ging er beleidigt fort.

 

Nachdem sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, sahen sich beide schweigend an.

 

»Es ist nicht recht, daß du dem Jungen diesen Auftrag gibst«, sagte Angelo schließlich. »Wenn er Erfahrungen sammeln soll, so gib ihm eine weniger wichtige Aufgabe.«

 

Tony schüttelte den Kopf.

 

»Er gehört immer noch nicht richtig zu uns – und solange er sich nicht auf Schritt und Tritt in acht nehmen muß und weiß, daß Feeneys Leute nur auf ihn warten, kann ich ihm nicht ganz vertrauen.«

 

*

 

Tony fuhr häufig in die Stadt, um in verschiedenen Schwarzbrennereien und Lokalen persönlich nach dem Rechten zu sehen. Für gewöhnlich tat er dies abends, und so waren die Stunden zwischen sechs und neun für Minn Lee sehr langweilig. Jimmys Besuch brachte ihr eine angenehme Zerstreuung.

 

Er war in der letzten Zeit seltener gekommen, obwohl sie ihn merken ließ, daß sie ihn gern hatte. Tatsächlich war er ihr sehr sympathisch; schon deswegen, weil er aus einem Milieu stammte, das sie fast vergessen hatte, seitdem sie die Universität verlassen hatte.

 

»Nett von Ihnen, Jimmy, daß Sie mich wieder einmal besuchen«, begrüßte sie ihn freundlich. »Ich dachte schon, Sie hätten etwas gegen mich …«, erschrocken brach sie ab, als sie den sonderbaren Ausdruck in seinen Zügen sah.

 

»Geht es Ihnen nicht gut?«

 

»Doch, doch – ich wollte nur ein wenig mit Ihnen plaudern …«

 

Sie lächelte und zeigte auf einen Stuhl.

 

»Machen Sie es sich bequem, Jimmy. Tony kommt erst um zehn wieder nach Hause.«

 

Er holte tief Atem. Um zehn Uhr würde sich viel ereignet haben.

 

Es fiel ihm schwer, einen Anfang zu finden, aber schließlich sprach er doch.

 

»Ich wollte Ihnen nur etwas sagen … Kann sein, daß mir etwas zustößt, und dann sollten Sie wissen, daß ich Sie sehr gern gehabt habe. Das klingt so banal – aber es ist so, Sie haben mir sehr viel bedeutet!«

 

»Was meinen Sie damit, daß Ihnen etwas zustoßen könnte, Jimmy?« fragte sie nach einiger Zeit ruhig und zwang sich zu einem Lächeln.

 

»Nun, Sie wissen ja, was das Leben in Perellis Nähe bedeutet …«

 

»Aber warum sollte Ihnen denn etwas passieren, Jimmy?« Sie verbarg mühsam einen Schrecken, der so groß war, daß sie selbst darüber staunte. »Ist heute abend irgend etwas los …?«

 

Er wollte ihr schon antworten, besann sich dann aber und schüttelte den Kopf.

 

»Nein, nein. Reden wir nicht weiter davon … Ich bin nur ein wenig nervös.«

 

Er stand auf.

 

»Sie wollen schon wieder gehen?« fragte sie verwundert.

 

Er nickte und sah ihr einen Moment lang in die Augen. Dann trat er schnell auf sie zu, nahm ihre Hand und drückte sie an seine Lippen. In der, nächsten Sekunde hatte sich die Tür hinter ihm geschlossen.

 

*

 

Die Garage lag nicht weit entfernt. Er ging zu Fuß dorthin, öffnete mit einem Schlüssel, trat ein und flüsterte Cons Namen.

 

»Leise, Sie Idiot«, zischte eine Stimme.

 

In dem offenen Sportwagen kauerte bereits O’Hara, der eine alte Plane über sich gezogen hatte.

 

Ohne ein weiteres Wort setzte sich Jimmy ans Steuer, fuhr den Wagen aus der Garage, bog nach links ein und erreichte fünf Minuten später die Michigan Avenue.

 

Ein Wagen überholte ihn, hielt sich einen Augenblick auf gleicher Höhe, und einer der Insassen leuchtete ihm mit einer Taschenlampe ins Gesicht.

 

»Nun, was habe ich gesagt, Jimmy?« Con O’Hara hatte die Plane ein wenig gelüftet und den Vorgang beobachtet. »Sie halten Ausschau nach mir.«

 

»Warum denn gerade nach Ihnen?« Es war das erste Wort, das Jimmy an seinen Begleiter richtete, seitdem sie weggefahren waren.

 

»Nach mir oder nach sonst jemand«, entgegnete Con ungeduldig. »Wenn ich offen an Ihrer Seite gesessen hätte, wäre das der Abschied von Chicago und dem Leben gewesen.«

 

Als sie die Randbezirke der Stadt erreichten, wurden sie noch einmal kontrolliert. Ein zweiter Wagen kam langsam mit aufgeblendeten Scheinwerfern auf sie zu. Jimmy schloß einen Augenblick die Augen.

 

»Jetzt wären wir bald soweit«, flüsterte Con. »Immer ruhig Blut, Jimmy.«

 

Sie kamen zu der verabredeten Stelle, einer verlassenen kleinen Nebenstraße. Das Eckgrundstück war nicht bebaut, und von einem einfachen Bretterzaun umgeben. Jimmy hielt zwanzig Meter weiter. Sein Herz schlug so wild, daß er kaum atmen konnte. Er zog die Pistole aus der Tasche und entsicherte; dann legte er die Waffe neben sich auf den Sitz.

 

Niemand war zu sehen, nur einige Wagen fuhren stadteinwärts.

 

»Können Sie etwas sehen?« fragte Con unter seiner Plane.

 

»Nichts.«

 

Jimmy schaute nach rückwärts. Eine Frau kam auf sie zu, die einen schweren Korb trug. Offenbar war sie eine Hausangestellte. Gleich darauf ging sie vorüber. Und dann sah Jimmy eine Gestalt, die sich im Schatten der Häuser schnell näherte. Kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn, als er Shaun erkannte.

 

Obwohl seine Beine den Dienst zu versagen drohten, stieg er aus. Seine Rechte umklammerte hinter seinem Rücken die Waffe.

 

»Na, Jimmy, was gibt’s?« Shaun O’Donnell kam auf ihn zu. »Ich habe nur ein paar Minuten für Sie übrig, mein Junge. Es gibt Schwierigkeiten in der Stadt, und …«

 

Jimmy flimmerte es vor den Augen. Ohne einen klaren Gedanken zu fassen, ohne überhaupt zu wissen, was er tat, riß er plötzlich die Pistole hoch und feuerte. Als der erste Schuß vorbeiging, drückte er noch einmal ab. Shaun O’Donnell griff in die Tasche nach seinem Revolver und taumelte zur Seite.

 

»Sie …!«

 

Drei Schüsse donnerten in schneller Folge an Jimmys Ohr vorbei. Con O’Hara zielte kühn, ruhig und sicher. Shaun brach zusammen. Irgendwo hörte man den schrillen Pfiff eines Polizisten.

 

»Schnell zurück!« rief Con und zerrte Jimmy zum Wagen.

 

Er warf sich hinter das Steuer, Jimmy kauerte neben ihm. Er könnte sich nicht mehr rühren und war immer noch keines Gedankens fähig.

 

Shaun O’Donnell war tot – und er hatte ihn auf dem Gewissen. Er stöhnte verzweifelt.

 

Der Wagen nahm mit kreischenden Reifen die Kurven. Con O’Hara war früher Berufsfahrer gewesen und hatte an Rennen teilgenommen.

 

»Ich habe ihn erwischt«, sagte er. »Sie haben natürlich vorbeigeknallt – na, ich mache Ihnen keinen Vorwurf daraus. Meine Erfahrung und meine Nerven hat nicht jeder. Wenn ich einmal jemanden aufs Korn nehme, dann ist’s vorbei! Nehmen Sie doch einen Schluck aus der Flasche …«

 

Jimmy starrte durch die Windschutzscheibe. So oder so – auch er war zum Mörder geworden.