12

 

Minn Lee war sehr schweigsam, als die Besucher gegangen waren. Sie saß an ihrem großen Stickrahmen und stichelte eifrig. Offenbar nahm diese Arbeit ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Tony lag auf der Couch, hatte eine Zigarre im Mundwinkel und las Zeitung.

 

»Sie ist schön«, sagte Minn Lee plötzlich. »Sehr schön.«

 

Er legte das Blatt weg, richtete sich auf und schaute zu ihr hinüber.

 

»Ja, sie ist einfach fabelhaft«, meinte er.

 

Es trat wieder eine lange Pause ein.

 

»Gehst du heute abend in die Oper?« fragte Minn Lee dann.

 

Er schüttelte den Kopf.

 

»Sie geben die ›Götterdämmerung‹. Keine Lust dazu.«

 

Sie sah ihn aufmerksam an.

 

»Willst du dann nicht heute abend einmal bei mir bleiben? Ich sehe dich in letzter Zeit so selten!«

 

Er stand auf, trat zu ihr und betrachtete sie nachdenklich. Ihre zurückhaltende Art machte ihn plötzlich rasend.

 

»Weißt du, wovor ich mich fürchte?« fragte sie sanft.

 

»Wovor sich jede Frau fürchtet – vor einer anderen Frau«, entgegnete er rücksichtslos.

 

In ganz kurzer Zeit hatte sich seine Haltung ihr gegenüber vollständig geändert. Sie hätte so etwas nie für möglich gehalten – seitdem sie ihn kannte, hatte er niemals auch nur angedeutet, daß es einmal ein Ende ihrer Beziehungen geben könnte. Doch sie war Asiatin und wußte, daß es sinnlos ist, nach der Ursache irgendwelcher Dinge zu forschen, die man doch nicht ändern kann.

 

»Dann interessierst du dich also für eine andere Frau?«

 

Er sah sie halb belustigt an.

 

»Warum soll ich dir etwas sagen, was du selbst weißt?«

 

»Tony, ich bin sehr lange bei dir gewesen – können wir nicht von Chicago weggehen? Vielleicht hast du mich dann wieder lieb.«

 

Er sah sie merkwürdig an.

 

»Natürlich kannst du gehen. Nach New York – wohin du willst.«

 

»Ich sagte – wir.«

 

Er erhob sich brüsk.

 

»Wir ist nicht gleichbedeutend mit ich. Ich dachte immer, daß du das weißt, und ich habe es dir deshalb nie gesagt: Du bist für mich eine sehr schöne und vergnügliche Sache. Kann ich etwas dafür, daß ich ab und zu Dinge finde, die mir noch mehr Spaß machen?«

 

Er gab ihr einen flüchtigen Kuß, und sie lächelte.

 

»Wer kommt heute abend?« fragte sie mit erzwungener Fröhlichkeit.

 

»Oh, du wirst schon sehen – eine reizende Gesellschaft.«

 

»Sind auch Damen dabei? Sie etwa auch?«

 

Er nickte.

 

»Warum kann sie nicht fortbleiben? Sie hat doch ihren Mann.« Minn Lees Stimme zitterte.

 

»Du hast den Mann doch gesehen. Würdest du gerne dauernd mit ihm allein sein?«

 

»Jimmy sagt…«

 

Er drehte sich um.

 

»Oh, Jimmy? Hast du den Studenten eigentlich gern? Gefällt er dir?«

 

»Ja, er ist wirklich nett. Er kommt mir immer wie ein großer Junge vor.«

 

Der Tonfall ihrer Stimme erregte plötzlich seine Aufmerksamkeit.

 

»So? Und du behandelst ihn wohl auch so?« Er riß sie an sich. »Kleine Jungen küßt man schließlich auch …«

 

Selbst jetzt, bei dieser Frau, die er an und für sich loswerden wollte, packte ihn der Ärger bei dem Gedanken, daß jemand anders seine, des großen Bandenchefs Perelli, Rechte mißachtet haben könnte. Noch war sie sein Eigentum, und er war nicht bereit, sie einem anderen zu geben.

 

Er stieß sie weg und hielt sie auf Armeslänge von sich entfernt. Forschend und argwöhnisch betrachtete er sie.

 

Jimmy?

 

Er war eigentlich nicht böse auf den Jungen, und doch hatte er ein sonderbares Gefühl, das er nicht ergründen konnte.

 

»Warum siehst du mich so an?« fragte er.

 

In diesem Augenblick klingelte es, und er ließ sie langsam los.

 

Es war Con O’Hara mit Jimmy. Tony warf dem jungen Mann einen schnellen Blick zu – Jimmy sah blaß, nervös und erschüttert aus. Die Sache hatte ihm anscheinend mehr zu schaffen gemacht, als Perelli vermutet hatte. Es war zwar klar, daß Jimmy bei seinem ersten Unternehmen die Nerven verlieren würde, aber daß er sich immer noch nicht gefangen hatte, beunruhigte Perelli etwas.

 

»Hallo, Jimmy!«

 

Der junge Mann nickte ihm zu.

 

»Ich habe ihn auf der Straße aufgegabelt«, erklärte O’Hara und machte eine bezeichnende Handbewegung zu seiner Stirn.

 

»Ich möchte mit Ihnen sprechen, Tony«, sagte Jimmy leise. Minn Lee hatte er nur mit einem schwachen Lächeln begrüßt.

 

»Laß uns allein, Liebling.« Tony gab ihr einen kleinen Schubs in Richtung der Tür.

 

Sie drehte sich um und sah Jimmy eindringlich an.

 

»Kommen Sie noch kurz zu mir, bevor Sie gehen?«

 

»Bestimmt.«

 

Warum wollte sie ihn sprechen, bevor er ging? Was hatte sie ihm zu sagen? Tony wurde immer nachdenklicher.

 

»Setzen Sie sich«, begann er, nachdem Minn Lee draußen war.

 

Aber Jimmy ging ruhelos auf und ab.

 

»Danke – ich mache mir lieber ein wenig Bewegung.«

 

Tony lächelte.

 

»Dieser Teppich hat mich zehntausend Dollar gekostet – aber bitte, tun Sie sich keinen Zwang an!«

 

»Ich habe gestern abend die ganze Sache verkorkst …«

 

Tony packte ihn am Arm und führte ihn auf den Balkon.

 

»Das macht nichts, mein Junge. Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf über diese Geschichte – wir alle haben am Anfang Fehler gemacht.«

 

Er wartete auf Antwort. Jimmy hatte sich wieder von ihm freigemacht und ging wie vorher unentwegt auf und ab. Die Hände hatte er in die Hosentaschen gesteckt, den Kopf tief gesenkt.

 

»Sie wissen, daß ich Shaun recht gern hatte«, sagte er zögernd. »Als ich die Pistole auf ihn richtete, sah er mich an – das kann ich nicht vergessen …«

 

Tony versuchte ihn zu beruhigen.

 

»Sicher, sicher – so ist das eben. Aber das geht vorüber.«

 

»Ich konnte nicht schlafen … Ich hatte die ganze Nacht sein Gesicht vor Augen – es war entsetzlich. Und auch jetzt …« Er starrte ins Leere, als ob er dort Shaun sehe.

 

»Er ist noch nicht abgehärtet, noch viel zu weich«, mischte sich O’Hara von der Balkontür her ein.

 

»Halten Sie den Mund«, fuhr ihn Tony scharf an.

 

Er trat wieder auf Jimmy zu, klopfte ihm freundschaftlich auf den Rücken und ermutigte ihn geradezu kameradschaftlich.

 

»Ich mache Ihnen nicht den geringsten Vorwurf, Jimmy. Vielleicht kann ich mir sogar ein wenig vorstellen, was Sie fühlen. Glauben Sie mir, wenn es auf mich ankäme, würden solche Sachen überhaupt nicht mehr vorkommen – ich würde das Alkoholgeschäft betreiben, ohne einer Fliege etwas zuleide zu tun. Es hat wirklich keinen Sinn, die Leute dauernd niederzuknallen … Aber die anderen lassen einen ja nicht in Frieden.«

 

»Das ist doch ganz klar«, sagte Con wieder. »Wenn Sie ihn nicht umgelegt hätten, hätten Sie eben selbst dran glauben müssen.«

 

Perelli war gerade besonders geduldig.

 

»Con, wie oft habe ich Ihnen schon gesagt, daß ich Leute nicht leiden kann, die zuviel reden. Kennen Sie übrigens Kommissar Kelly?«

 

»Lassen Sie mich bloß mit den Polypen in Ruhe – die haben doch überhaupt nichts zu melden. Mit Kelly werde ich schon noch reden.«

 

Tony hörte eine Sirene auf der Straße, trat ans Geländer und schaute hinunter.

 

»Sie werden gleich Gelegenheit dazu haben«, sagte er. »Vor der Haustür steht sein Wagen.« Er wandte sich rasch an Jimmy. »Hören Sie, jetzt müssen Sie sich zusammenreißen, Jimmy. Lassen Sie sich um Himmels willen nicht durch diesen Kelly aus dem Konzept bringen – sagen Sie so wenig wie möglich!«

 

Jimmy sah ihn entsetzt an.

 

»Will er mich etwa verhören? Weiß er denn, daß ich es getan habe?«

 

»Er weiß es nicht, wenn Sie es ihm nicht verraten. Lassen Sie sich bloß nicht von ihm bluffen!«

 

»Ich werde schon mit ihm sprechen«, erklärte Con selbstbewußt.

 

Perelli kniff die Augen zusammen.

 

»So? Sie sind ja sehr waghalsig. Aber ich möchte Ihnen trotzdem den Rat geben, den Mund zu halten und nicht zu frech zu werden. Der Mann ist nicht ohne.«

 

Es klopfte, und Kommissar Kelly schlenderte in den Raum. Er war ein breitschultriger Mann, mit harten, undurchdringlichen Zügen, und er brachte eine eigentümlich fremde, fast drohende Atmosphäre mit sich.

 

Er vertrat das Gesetz. Er vertrat eine Sache, die manche Leute nicht wahrhaben wollten, die aber trotzdem bestand verkörpert in der Person dieses Mannes.