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Keith Keller hatte keine weiteren Pläne, wie er Lord Arranways erklärte. Bis zur Ankunft seiner Braut, die jetzt bald nach England kommen sollte, da die Hochzeit hier stattfinden würde – »Sie sind natürlich unsere Gäste bei der Trauung und dem anschließenden Essen«, versäumte er nicht einzuflechten –, würde er London besichtigen und inzwischen in einem Hotel wohnen. Aber davon wollte der Lord nichts hören.

 

»Mein lieber Junge, das wäre doch wirklich nicht sehr gastfreundlich, wenn ich Sie nicht auf ein paar Wochen nach ›Arranways Hall‹ einladen würde«, meinte er großartig. »Dann werde ich Ihnen einmal den Plan für die Eisenbahn zeigen, den ich seinerzeit dem Vizekönig von Indien vorgelegt habe. Wenn er durchgeführt worden wäre …«

 

Mr. Keller hörte andächtig zu.

 

Bald nach ihrer Ankunft in ›Arranways Hall‹ ging Dick zum Gasthaus hinunter, um seine alte Bekanntschaft mit dem Wirt zu erneuern. Er war erstaunt, wie sehr sich das Gebäude zu seinem Vorteil verändert hatte.

 

»Das sieht ja mehr wie ein Kurhotel aus«, zog er den Wirt auf.

 

John Lorney lächelte zufrieden.

 

»Wir haben auch wirklich gute Gäste hier, obwohl der ›Alte‹ wieder in der Gegend ist.«

 

»Hat man ihn denn noch nicht gefangen?«

 

»Ach, keine Spur, und ich glaube, das bringt auch niemand fertig.«

 

Er sah sich in der Gaststube um und sprach dann leise weiter.

 

»Meiner Meinung nach gibt es überhaupt keinen ›Alten‹. Dieser Einbrecher bringt die gestohlenen Sachen aus einem Grund zurück, den wir nicht verstehen. Er muß ein Mann sein, der hier in der Gegend wohnt oder gewohnt hat und alle Wege genau kennt. Dreimal hat er schon versucht, hier im Gasthaus einzubrechen, wenigstens ist er dreimal draußen auf dem Rasen gesehen worden. Und sicher hat er nicht die Absicht gehabt, ein Zimmer zu mieten.«

 

»Wann hat man ihn denn zuletzt gesehen?«

 

»Seit Ihrer Abreise ist er nicht mehr bemerkt worden.«

 

Dick starrte ihn an.

 

»Hat er denn den Pursons nicht die gestohlenen Sachen zurückgebracht?«

 

Lorney bejahte.

 

»Das war in der Nacht vor Ihrer Abfahrt.«

 

»Aber meine Schwester hat doch einen Brief bekommen, und zwar in Ägypten, in dem die Pursons ihr schrieben, daß der ›Alte‹ die Silbersachen wieder zurückgebracht hat?«

 

»Nun, Briefe nach Ägypten sind ziemlich lange unterwegs. Nach Ihrer Abreise hat er sich jedenfalls nicht mehr blicken lassen.« Der Wirt nahm ein Tuch und fuhr damit über den schon spiegelblanken Schanktisch.

 

»Es ist ein junger Mann mit Ihnen zurückgekommen, den ich früher nicht hier gesehen habe«, meinte er.

 

»Ach, Sie meinen Mr. Keller?«

 

»Er sieht gut aus. Ich sah ihn, wie er mit Mylady heute morgen nach Hadley fuhr.«

 

»Ja, das ist Mr. Keller«, stimmte Dick zu.

 

»Diese Geschichten von dem ›Alten‹ fallen einem wirklich auf die Nerven. Man kann hier Personal kaum länger als eine Woche halten«, beklagte sich Lorney. »Die Leute fürchten sich ja zu Tode.«

 

In dem Augenblick kam eine kräftige Frau durch die Gaststube. Sie hatte Eimer und Besen in der Hand und nickte Dick freundlich zu.

 

»Na, das ist doch aber eine Kraft, die Sie noch nicht verloren haben?« erkundigte sich Dick.

 

»Ja, die bleibt mir.« Der Wirt lachte.

 

»Was ist sie denn eigentlich?«

 

»Putzfrau, aber sie muß auch sonst noch allerhand tun. Ich ärgere mich oft über sie, und manchmal kündige ich ihr zweimal in der Woche. Aber sie nimmt das nicht tragisch und bleibt. Ein paarmal saß ich schon ohne Personal da und hätte zumachen können, wenn nicht Mrs. Harris gewesen wäre.«

 

Lorney hörte ein Geräusch, kam hinter dem Schanktisch hervor, ging rasch durch den Raum und trat hinaus in die Diele. Durch die Tür konnte Dick sehen, daß ein junges Mädchen angekommen war. Lorney trug ihren Koffer und sprach dauernd auf sie ein. Sie gingen die Treppe hinauf und verschwanden im Gang.

 

Dick trank sein Glas aus und wartete, bis Lorney wieder erschien.

 

»Wer ist denn diese nette junge Dame?« erkundigte er sich neugierig.

 

»Besuch.«

 

»Scheint sehr gut mit Ihnen bekannt zu sein.«

 

»Ihr Vater war ein Freund von mir«, erklärte Lorney. »Voriges Jahr war sie eine Woche lang hier. Miss Jeans besucht ein Pensionat in der Schweiz.«

 

Er sah zur Treppe, als ob er erwartete, sie wiederzusehen.

 

»Ihr Vater hat mir vor Jahren sehr geholfen, und es macht mir Spaß, daß ich mich um sie kümmern kann. Sie hat keine Eltern mehr.«

 

Dick sah ihn überrascht an. Diese Seite hatte er in dem Charakter des sonst verschlossenen Mannes noch nicht kennengelernt.

 

»Mr. Lorney!«

 

Die beiden sahen auf. Anna Jeans lehnte sich über das Geländer.

 

»Kann ich herunterkommen?«

 

»Aber selbstverständlich!«

 

Der Wirt ging ihr entgegen.

 

»Darf ich vorstellen – Mr. Richard Mayford.«

 

Sie sah ihn überrascht an. Dann lächelte sie.

 

»Aus Ottawa«, sagte sie.

 

Dick zog verwundert die Augenbrauen hoch.

 

»Woher wissen Sie denn das?«

 

»Ich bin dort zur Schule gegangen, und alle Leute kannten die Mayfords. Sie sind doch der Schwager von Lord Arranways?«

 

Fünf Minuten später gingen die zwei auf dem Rasen draußen auf und ab und tauschten Erinnerungen an Ottawa aus, obwohl keiner von beiden noch viel darüber wußte.

 

Mr. Lorney beobachtete sie von der Gaststube aus lächelnd, was bei ihm eine Seltenheit war.

 

Mary kannte Miss Jeans nicht und interessierte sich auch kaum für das junge Mädchen, als Dick ihr von seiner Begegnung erzählte.

 

»So, ist sie wirklich so charmant? Na ja, kanadische Mädchen sind meistens nett. – Was macht sie denn hier?«

 

Dick erzählte seiner Schwester, was er von Anna wußte, und zwar in einem so begeisterten Ton, daß Mary ihn von der Seite ansah.

 

»Aber Dick, du schwärmst ja! Das ist man bei dir wirklich nicht gewohnt. – Solltest du dich in sie verliebt haben?« meinte sie leichthin.

 

Sie war an dem Tag in bester Laune, denn die französische Polizei hatte ihr verlorenes Brillantarmband bei einem Juwelier in Nizza gefunden. Sie erzählte beim Abendessen davon.

 

»Es wird dreihundert Pfund kosten, es wieder einzulösen«, äußerte der Lord. Er sah Keith an und fuhr dann fort: »Ich möchte Ihnen einen Rat geben, junger Mann«, sagte er wohlwollend.

 

Kellers Gesicht glich einer Maske.

 

»Sicher ist es ein guter Rat, wenn Sie ihn mir geben.«

 

»Lassen Sie das Wetten bei den Rennen. Ihr Vater mag so reich sein, wie er will, die Buchmacher werden Ihnen den letzten Groschen aus der Tasche ziehen. Lassen Sie sich nicht durch das Glück von Mr. Lorney verleiten. Der hat zwar eine Menge gewonnen, aber, wer weiß, mit wie vielen Buchmachern er unter einer Decke steckt.«

 

»Was hältst du denn plötzlich für Moralpredigten?« fragte Mary.

 

»Ich traf Mr. Dane von der Berliner Gesandtschaft. Der sagte mir, daß er Mr. Keller dort auf einem Rennen getroffen hätte. – Wie ein betrunkener Matrose soll er gewettet haben. Verzeihen Sie den starken Ausdruck, aber ich zitiere nur, was Mr. Dane sagte.«

 

Keith Keller lächelte.

 

»Na ja, ich werde mit den Jahren schon vernünftiger werden. Zur Zeit hat mein Vater noch Geld genug.«

 

Dick sah den schnellen Blick, den Mary dem jungen Mann zuwarf, und fühlte eine gewisse Nervosität in sich aufsteigen.