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Er nahm den Telephonhörer ab und sagte kurz: »Schicken Sie sofort die ersten beiden Beamten, die Sie im Hause finden, hierher und einen Boten. Aber schnell.« Das junge Mädchen beobachtete ihn mit Interesse. Jetzt lernte sie zum erstenmal den wirklichen Larry Holt kennen, den Mann, von dem der Kommissar gesagt hatte, daß er »nicht einmal im Schlaf die Spur verlor«. Der Eindringling hatte sich nicht die Mühe gemacht, das leichte Stemmeisen wieder mitzunehmen, das er gebraucht hatte. Larry nahm es vorsichtig mit einem Stück Papier auf und brachte es unter das Licht.

 

Ein kurzer wollener Faden hing an seinem rauhen Ende, und das bewies, daß man Handschuhe getragen hatte, um Fingerabdrucke zu vermeiden. Seine einzige Hoffnung war die Schale, deren Boden aus einer dicken Glasplatte bestand. Seitenwände und Handgriffe waren Korbgeflecht. Larry wußte, daß, falls die Handschuhe überhaupt ausgezogen worden waren, es bei dem Hantieren mit der Schale geschehen sein mußte. Und seine Annahme war richtig. Als er auf die polierte Rückfläche der goldenen Uhr hauchte, wurde ein Fingerabdruck deutlich sichtbar.

 

Inzwischen waren die beiden Polizisten eingetroffen.

 

»Ist in der daktylographischen Abteilung jemand in Dienst?« fragte Larry.

 

»Jawohl.«

 

»Bringen Sie die Uhr hin. Halten Sie sie an der Krone; kann man den Abdruck nicht mit Puder sichtbar machen, so muß er sofort photographiert und innerhalb der nächsten Stunde verglichen werden.«

 

Der Einbrecher hatte noch einen anderen Fehler gemacht. Larry hatte den Papierkorb unter dem Tische hervorgezogen und drei zusammengeknüllte Stückchen Papier, die obenauf lagen, herausgenommen. Die beiden ersten waren nichts Wichtigeres als Briefentwürfe in Dianas Handschrift. Das dritte dagegen zeigte einen Plan des Zimmers, von fachmännischer Hand in Tinte gezeichnet. Der Platz des Wandschrankes und die Position der Schreibtische waren genau angegeben.

 

»Der Zeichner hat angenommen, daß es hier drei Wandschränke gibt«, sagte Larry und wies auf die Skizze. »Einer soll links vom Kamin sein«, er blickte auf und zog seine Brauen überrascht in die Höhe. »Weiß der Himmel, das stimmt auch. – Und ein anderer hinter der Tür«, er blickte hin und nickte. »Die kennen das Zimmer viel besser als ich selbst, Miß Ward«, sagte er und studierte von neuem die Zeichnung. »Das hat ein Mann gezeichnet, der Fachkenntnisse hat. – Ich glaube, es wäre besser, wir hätten einen Geldschrank hier und eine Leibwache«, fügte er bitter hinzu.

 

Auf der Türschwelle tauchte plötzlich Sir John Hason auf, der gelegentlich abends in sein Büro kam, um ruhig und ungestört arbeiten zu können.

 

»Was ist denn vorgefallen, Larry?« fragte er.

 

»Ach, gar nichts«, sagte Larry leichthin. »Nur ein Einbrecher hat Scotland Yard einen Besuch abgestattet! Meinst du nicht, wir müßten nach der Polizei schicken?« Als Antwort auf diese impertinente Frage grinste Sir John, war aber sofort wieder ernst.

 

»Man hat doch nicht die Stuart-Beweisstücke gestohlen?«

 

»Das einzige Beweisstück, das wirklich von Wert war, ist verschwunden«, entgegnete Larry.

 

»Laß den Pförtner nach oben kommen«, entgegnete der Kommissar.

 

Aber auch dieser konnte keine zufriedenstellende Auskunft geben. Er hatte gedacht, es wäre Miß Ward gewesen, die an seiner Loge vorbeiging. Es war Gewohnheit im Yard, daß die Beamten beim Passieren der Portierloge ihre Zimmernummer angaben, wenn sie ihren Dienst begannen und dieselbe Gewohnheit galt auch für die Zeit außerhalb der Bürostunden. Der Besucher hatte »47« angegeben und war ohne weiteres hineingelassen worden.

 

»Sind denn Fremde heute hier gewesen?« fragte Larry.

 

»Nein«, entgegnete das junge Mädchen, fügte dann aber hinzu: »Heute nachmittag war ein Blinder hier. Sie entsinnen sich doch, daß Sie eines dieser Instrumente sehen wollten, die diese bedauernswerten Menschen benutzen, und ich bat den kleinen, alten Mann, der Streichhölzer auf dem Embankment verkauft, nach oben zu kommen.«

 

»Auf jeden Fall«, sagte Larry, der sich daran erinnerte, »konnte er doch keinen Plan des Zimmers angefertigt haben.«

 

»Das System, was sich hier bei uns herausgebildet hat, scheint ein bißchen unsicher zu sein«, sagte Sir John, als der Pförtner das Zimmer verlassen hatte. »Wir können dem Mann wirklich keinen Vorwurf machen. Es ist unser eigener Fehler.«

 

»Hier haben wir ja den Herrn von der daktylographischen Abteilung«, rief Larry.

 

Der Beamte, der hereinkam, strahlte über das ganze Gesicht.

 

»Gleich beim ersten Griff gefunden, Sir«, sagte er. »Fanny Weldon, Coram Street 280. Hier ist ihr Personalrekord.« Er übergab Larry eine Karte.

 

»Zweimal Gefängnisstrafe für Beilegung falscher Persönlichkeit«, las er. »Das ist das Frauenzimmer. Aber was hat sie mit der ganzen Geschichte zu tun?«

 

»Fanny ist eine merkwürdige Frau, Sir«, sagte der Beamte, »sie hat nicht einen Funken von eigenen Ideen und ist immer in Unannehmlichkeiten gekommen, weil sie anderen Leuten bei ihren Plänen geholfen hat. Der dicke Joe Jacket hat sie gebraucht, um die bekannte Schauspielerin Miß Lottie Holm darzustellen. Das war vor ungefähr zwei Jahren. Dann hatte sie im Auftrage von irgend jemand eine Bardame personifiziert, während der Besitzer nicht im Hause war. Die Mannic-Bande hat bei der Gelegenheit im Hotel ›Victor Hugo‹ dreitausend Pfund erwischt.«

 

Larry saß an seinem Schreibtisch und hatte nachdenklich das Kinn in die Hand gestützt.

 

»Die Sache ist ganz klar«, sagte er dann. »Die Bande, hinter der wir her sind, kennt alle Hochstapler in London und hat höchstwahrscheinlich Fanny für ihre Pläne gewonnen. Wie war doch die Adresse – Coram Street 280? … Wir wollen mal sehen, was Fanny Weldon dazu zu sagen hat.«

 

Er bekam aber Fanny nicht vor Tagesanbruch zu sehen. Coram Street 280 war ein Eckhaus, das augenscheinlich nur möblierte Zimmer enthielt. In den ersten Morgenstunden fuhr ein Wagen vor das Haus, eine Frau stieg heraus und bezahlte den Kutscher. Als sie auf die Haustür zuging, kam Larry hinter ihr her und ergriff ihren Arm. Mit einem Ausruf des Schreckens fuhr sie herum. Sie war eine hübsche Frau mit einem etwas ordinären Mund.

 

»Was soll das heißen?« rief sie erschreckt.

 

»Sie werden mich auf einem kleinen Spaziergang begleiten«, sagte Larry.

 

»Geheimer?« fragte sie und erblaßte.

 

»Richtiggehender Geheimer«, entgegnete Larry und führte sie nach dem nächsten Polizeibüro, wo Diana und seine Beamten ihn erwarteten.

 

Auf dem Wege dorthin bejammerte sie ihr Schicksal.

 

»Das kommt davon, wenn man anderen Leuten Gefälligkeiten erweist«, sagte sie bitter. »Was soll ich denn getan haben?«

 

»Einbruch in Scotland Yard«, sagte Larry ruhig.

 

Sie stieß einen tiefen Seufzer aus. »Dann liege ich im Essen!« sagte sie.

 

»Das scheint mir auch so«, gab Larry zu.

 

Weibliche Beamte nahmen eine Körpervisitation vor, deren Ergebnis der Fund von einhundertfünfzig Pfund in Banknoten war. Fanny hatte sich mittlerweile von ihrem ersten Schrecken erholt und bestand darauf, daß das Geld genau gezählt wurde.

 

»Mir ist schon öfter auf Polizeibüros verschiedenes abhanden gekommen«, sagte sie anzüglich.

 

Statt in eine Zelle wurde sie in ein kleines Wartezimmer gebracht, wo Larry sie in Gegenwart Dianas verhörte. Die Anwesenheit der letzteren interessierte Fanny ungemein.

 

»Wie ich sehe, haben Sie Ihre Freundin mitgebracht«, sagte sie schnippisch. »Ist das die Dame, die ich ›nachgemacht‹ habe?«

 

»Das ist die betreffende Dame«, sagte Larry. »Also, Fanny, jetzt wollen wir mal wie Vater und Tochter miteinander reden.«

 

»Immer los, und genieren Sie sich gar nicht«, sagte Fanny unbekümmert. »Aber eins kann ich Ihnen sagen. Die ganzen letzten Monate kann man mir nichts nachsagen.«

 

»Fanny«, sagte Larry ernst, »ich werde Ihnen eine Chance geben – ich spreche absolut offen mit Ihnen. Es liegt Scotland Yard nichts daran, daß die ganze Welt erfährt, ein weiblicher Gauner ist in das Präsidium eingebrochen und hat unter den Augen der Polizei verschiedene Wertgegenstände gestohlen.«

 

Die Frau lachte leise und zwinkerte Diana zu.

 

»Für so was kann man nur ’ne Frau gebrauchen, nicht wahr?« fragte sie. »Erzählen Sie man weiter, mein Herr Schnüffler. Wenn Sie aber denken, daß ich irgend jemand verklappe, dann irren Sie sich gewaltig.«

 

»Sie werden mir ganz genau mitteilen, was ich von Ihnen wissen will«, versetzte er scharf, »und Sie werden mir sofort sagen, wer Sie für diese Geschichte angeworben hat.«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Sie werden mir außerdem noch sagen, wer der Mann war, dem Sie die gestohlenen Sachen ausgehändigt haben, und wo das geschehen ist.«

 

Fanny schüttelte den Kopf von neuem und war in ausgezeichneter Laune.

 

»Das viele Fragen hat gar keinen Zweck«, sagte sie, »ich antworte ja doch nicht. Sparen Sie sich doch die Mühe und sperren Sie mich lieber in meine Zelle.«

 

»Ich werde Sie in die Zelle bringen lassen, sobald ich Ihnen die gegen Sie vorliegende Anklage mitgeteilt habe«, sagte er ruhig. Die Frau fuhr hoch und blickte ihn unruhig an.

 

»Sie haben mich wegen Einbruches angeklagt.«

 

»Das ist nicht das Verbrechen, dessen ich Sie beschuldigen werde«, sagte Larry. »Wenn ich nicht befriedigende Antwort auf meine Fragen erhalte, werde ich Sie noch einmal zur Protokollaufnahme zurückführen und Anklage gegen Sie erheben wegen Beihilfe zum Morde an Gordon Stuart in der Nacht des dreiundzwanzigsten April.«

 

Sie blickte ihn entsetzt und keines Wortes mächtig an.

 

»Mord?« wiederholte sie, »Mord? – Guter Gott, Sie glauben doch nicht im Ernst, daß ich …«

 

»Sie sind in einer ernsten Lage«, sagte er. »Sie helfen Mördern, sich dem Arm der Gerechtigkeit zu entziehen. Sie haben sich verleiten lassen, ein wichtiges Beweisstück zu stehlen, das in den Händen der Polizei war und vielleicht zur Überführung der Mörder geführt hätte – alles das genügt vollständig, um Sie außerordentlich schwer zu verdächtigen.«

 

»Ist das Ihr wirklicher Ernst?« fragte sie.

 

»Vollständiger Ernst«, sagte Larry eindrucksvoll. »Nehmen Sie nur nicht an, daß ich Sie zum besten haben will, Fanny. Sie haben ein Beweisstück gestohlen, das vielleicht die Verhaftung der Mörder ermöglicht hätte.«

 

»Wer sind Sie eigentlich?« fragte sie.

 

»Ich bin Inspektor Holt«, war die Antwort.

 

»Allmächtiger Vater! Dann bin ich verratzt!« stammelte sie. »Ich dachte, Sie wären im Ausland. Nee, Mr. Holt, ich will Ihnen erzählen, was ich weiß. Ich habe genug von Ihnen gehört und weiß, daß Sie auch Gaunern gegenüber ’n ehrliches Spiel spielen. Von der ganzen Geschichte habe ich bis gestern nachmittag keine Ahnung gehabt, und dann wurde ich angerufen, ich sollte mich mit dem großen Jake oder dem blinden Jake, wie er auch noch genannt wird, treffen.«

 

»Blinde Jake?« wiederholte Larry, dem der Name unbekannt war, und dann fiel ihm der blinde Streichholzhändler auf dem Embankment ein, der im Büro gewesen war – aber der konnte es doch unmöglich gewesen sein. Diana hatte gesagt, er wäre klein gewesen.

 

»Die Polizei weiß genau Bescheid über ihn, Mr. Holt«, sagte Fanny zaudernd. »Er ist ein schlechter Mensch. Von mir klingt das komisch, ich weiß es, aber vielleicht verstehen Sie, was ich damit sagen will: er ist schlecht, grundschlecht. ich bin in Todesangst vor Jake dem Blinden, und es gibt nicht einen Strolch, keinen Hochstapler in ganz London, dem es nicht ebenso geht. Er hat zweimal gesessen. Gewöhnlich arbeitet er mit zwei Komplizen, alles Gauner, und alle drei blind. Wir hatten sie ›Die toten Augen von London‹ getauft, weil sie sich schneller bewegen können als Sie, und weil die dicksten Nebel für sie gar nichts bedeuten. Jake der Blinde war der Anführer der drei, dann ist einer von ihnen verschwunden, und ich habe gehört, er wäre tot. In den letzten zwölf Monaten haben wir nicht viel von ihnen gehört, bis auf einmal der blinde Jake wieder auftauchte. Und Geld hatte er wie Heu. Ich glaube, er arbeitet jetzt für eine Kanone in der Zunft.«

 

»Schön, Sie haben den blinden Jake getroffen?«

 

»Ja«, nickte sie. »Er gab mir den Plan…«

 

»Aber der war doch nicht von ihm – er konnte doch nicht zeichnen«, unterbrach Larry.

 

»Der sicher nicht«, sagte sie verächtlich. »Nein, er hatte den Plan bei sich. Ich muß ihn irgendwo haben. Vielleicht in meiner Handtasche, die Sie mir abgenommen haben.«

 

»Zerbrechen Sie sich darüber nicht den Kopf«, sagte Larry. »Ich habe ihn im Büro gefunden.«

 

»Also der blinde Jake sagte mir, was ich zu tun hätte, daß er mir den Mantel und Hut geben würde, den die junge Dame hier immer trug, wenn sie ins Präsidium kam, daß ich beim Pförtner ›Nummer 47‹ sagen und dann so schnell wie möglich nach oben gehen müßte.«

 

»Was sollten Sie holen?«

 

»Eine kleine Rolle aus braunem Papier«, war die Antwort. »Er hat mir ganz genau beschrieben, wo sie war und daß sie in einer Schale lag.« Sie zuckte die Schultern hoch. »Ich kann mir nicht denken, wie sie das herausgefunden haben.«

 

»Aber ich«, sagte Larry und wandte sich zu dem jungen Mädchen. »Der Streichholzhändler hat auf einmal sein Augenlicht wiedergefunden! Wo kann ich den blinden Jake finden?« fragte er Fanny.

 

»Sie werden ihn überhaupt nicht finden«, entgegnete sie kopfschüttelnd. »Er läßt sich niemals am Tage sehen – wenigstens sehr selten.«

 

»Und wie sieht er aus?«

 

»Er ist riesengroß und stark wie ein Ochse.«

 

Diana stieß einen Schrei aus und fragte: »Hat er einen Bart?«

 

»Ja, Miß. So ’ne Art kleinen grauen Bart.«

 

»Das war der Mann auf der Treppe«, sagte Diana, »dessen bin ich ganz sicher.«

 

Larry nickte und wandte sich zu der Frau.

 

»Wann haben Sie die Rolle weitergegeben?«

 

»Heute morgen gegen zwei Uhr. Um diese Zeit sollte ich ihn am unteren Ende der Arundel Street und Strand, in der Nähe des Embankments, treffen. Und was er für eine Laune hatte!«

 

»Wissen Sie, wo er wohnt?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Vor Jahren wohnten sie in Todds Heim. Das war eine Blindenanstalt in Lissom Lane, Paddington, wo die blinden Straßenhändler Unterkunft fanden. Aber ich glaube nicht, daß er noch da ist.«

 

Larry führte sie in die Wachtstube zurück.

 

»Sie können sie auf meine Verantwortung hin freilassen«, sagte er zu dem diensttuenden Beamten. »Fanny, Sie melden sich morgen früh zehn Uhr bei mir in Scotland Yard.«

 

»Ja, Sir«, sagte Fanny, »und was wird mit meinem Geld?«

 

Larry überlegte einen Augenblick.

 

»Das können Sie wiederbekommen.«

 

»Wenn mir irgend jemand erzählen will«, sagte Fanny, als sie die Banknoten mit beleidigender Sorgfalt nachzählte, »daß die Polizei nicht ehrlich ist, soll er man zu mir kommen, und er wird allerlei zu hören kriegen.«