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Zwei Monate später saß Dr. Judd auf dem Rande eines sehr schmalen Bettes und rauchte drei Zigaretten nacheinander. Es war ein regnerischer Morgen, und das kleine Viereck Glas, durch das das Licht in die Zelle fiel, schien alle die trübe Melancholie eines grauen Morgens in sich vereinigt und das schwache Tageslicht in Blei verwandelt zu haben.
Der Doktor rauchte mit größtem Wohlbehagen – seit beinahe zwei Monaten hatte er keine Zigarette mehr gekostet. Jetzt öffnete sich die Zellentür, und Larry kam herein. Der Doktor sprang auf und grüßte ihn lächelnd.
»Es ist außerordentlich nett von Ihnen, daß Sie gekommen sind, Holt«, sagte er. »Ich hatte eigentlich die Absicht, keinerlei Aussagen zu machen, aber in Hinsicht auf die besonderen Umstände scheint es mir nur billig zu sein, einem Mann in Ihrer Stellung, der eine so langwierige, schwierige und ernsthafte Arbeit geleistet hat, volle Aufklärung zu geben.«
Er war vollkommen aufrichtig, und Larry wußte dies.
»Von frühester Kindheit an lebten mein Bruder David und ich in dem bestmöglichsten Verhältnis zueinander. David war meiner Sorgfalt anvertraut, war meine Verantwortung, aber auch meine höchste Freude. Wir waren noch sehr jung, als wir unsere Mutter verloren, und unser Vater war ein exzentrischer Herr, der wenig mit kleinen Kindern anzufangen wußte. So wuchsen wir zusammen auf, besuchten dieselbe Schule, gingen zusammen auf die Universität, und ich glaube mit Recht sagen zu können, daß wir einander völlig genügten, daß wir niemand anders benötigten. Ich hatte eine Liebe, eine Bewunderung für David, die weit über menschliche Begriffe hinausging«, sagte der Doktor leise und senkte das Haupt.
Larry nickte. Dieser hervorstechendste Charakterzug der beiden Männer war ihm bekant.
»Hoffentlich nehmen Sie nicht an, daß ich Ihnen den Tod Davids nachtrage«, fuhr er fort. »Ganz und gar nicht. Ich habe die Unvermeidlichkeit erkannt und weiß in meinem Innern, daß nichts David hätte retten können. Er starb so, wie er es selbst gewünscht haben würde, und in gewisser Hinsicht bin ich sogar froh, daß alles so gekommen ist, wie es eben kam. Bei den Verhandlungen habe ich die größten Anstrengungen gemacht, um dem Richter und den Beisitzern zu beweisen, daß ich geistig völlig gesund bin, und Ihre Ausführungen haben geholfen, eine Verurteilung herbeizuführen, die, wie ich wußte, unvermeidlich war. Wie ich schon sagte –« er kam noch einmal auf seine Jugendzeit zurück und erzählte Einzelheiten aus seinem Leben.
»Als mein Vater starb«, fuhr er fort, »hinterließ er uns die Greenwich-Versicherungs-Gesellschaft, eine kleine, heruntergekommene Firma, die kurz vor dem Zusammenbruch stand. Ohne weiteres und in vollkommenem Ernst gebe ich zu, daß ich niemals die Unverletzlichkeit des menschlichen Lebens respektiert habe. Für mich ist ein Mensch nichts weiter als irgendein anderes animalisches Wesen – so eine Art wie der taube Lew«, erklärte er leichthin, und Larry konnte kaum einen Schauder unterdrücken, als er ihn in so gleichgültiger Weise diese menschliche Ruine erwähnen hörte.
»Ich erzähle Ihnen das deswegen – bevor ich weitergehe –, damit Sie nicht eventuell irgend etwas wie eine Art entschuldigender Haltung von mir erwarten. Sollte dies der Fall sein, so werden Sie sicher enttäuscht werden. Das Geschäft, das mein Bruder und ich übernahmen, war, wie schon erwähnt, beinahe bankrott, und ich glaube, wir kamen zum erstenmal auf die Idee unserer späteren – hm – Operationen, als wir eine Versicherungssumme auszuzahlen hatten, die unser exzentrischer Vater niemals hätte übernehmen dürfen.
»Die Grundidee unseres Planes stammt zu gleichen Teilen von David und von mir. Wir setzten dann drei Monate später unsere Ideen in die Praxis um, als wir einen Mann ertränkten, dessen Namen zu erwähnen ich für unnötig erachte, da dies doch zu nichts führen würde und niemand durch seinen Tod in Verdacht gekommen ist. Wir hatten ihn in unserem eigenen Geschäft versichert – eine sehr einfache Sache –, ohne daß er die geringste Ahnung davon hatte. Der ärztliche Rapport stammte von mir, und David, der ein hervorragender Ingenieur, das war sein eigentlicher Beruf, und geschickter Zeichner war, zeichnete und unterschrieb alle die notwendigen Formulare im Namen unseres Klienten. Wir hatten den Mann sehr sorgfältig ausgesucht. Er hatte keinerlei Freunde und stand im Ruf eines Einsiedlers und Sonderlings. Die Versicherungssumme war an einen fingierten Namen zu zahlen, unter dem mein Bruder in Schottland lebte, wo er ein kleines möbliertes Haus gemietet hatte und nur zu dem Zweck dort lebte, um die Summe einkassieren zu können.
»Mit seinem Tode machten wir ein außerordentlich gutes Geschäft, denn wir hatten sein Leben rückversichert und hatten weiter nichts zu tun, als von den anderen Gesellschaften das Geld einzuziehen. Mein Bruder war von klein auf poetisch veranlagt und schrieb während seines Aufenthaltes in Oxford zwei oder drei Stücke, die aber von den Londoner Theatern abgelehnt wurden. Ich brauche wohl Ihnen gegenüber nicht besonders zu betonen«, fügte er mit äußerstem Ernst hinzu, »daß diese Stücke ganz hervorragend waren, wenn auch natürlich nicht ganz so gut wie die, die ich dann im Macready-Theater zur Aufführung brachte.«
»Das Macready-Theater war doch Ihr Eigentum, nicht wahr?« fragte Larry, und der Doktor nickte zustimmend.
»Ich habe es vor einigen Jahren nur zu dem Zweck gekauft, um Davids Dramen auf die Bühne zu bringen«, sagte er. »Der einzige Zweck, für den ich überhaupt lebte, war ja doch, Davids Namen bekannt zu machen. Er hatte schon sehr früh das Pseudonym Dearborn angenommen, und es wundert mich eigentlich, daß Sie den Namen Dearborn, der schon vor sechs Jahren auf den Theateranzeigen erschien, nicht mit Ehrw. John Dearborn in Verbindung brachten.«
»Das haben wir ja auch getan«, sagte Larry, »aber wir zogen unsere Schlußfolgerungen erst in einem späteren Stadium unserer Untersuchungen.«
»Unser zweites Experiment war ein Mann namens – nun, auch den Namen brauche ich Ihnen nicht zu geben«, sagte er. »Da mußten wir eine ganze Zeit warten, bis wir das Geld von den Rückversicherungsgesellschaften ziehen konnten. Und hierbei passierte eine sehr unangenehme Sache. Einer der Angestellten hatte herausgefunden, daß die Person, der das Geld ausgezahlt wurde, mein Bruder David war. Durch einen ganz lächerlichen Zufall war er dahintergekommen und fing nun an, Geldsummen von David zu erpressen, fürchtete dann jedenfalls die Konsequenzen, unterschlug eine beträchtliche Summe im Büro und ging nach Frankreich. David folgte ihm und erschoß ihn in Montpellier. Der Teil dieser Geschichte ist Ihnen ja sehr gut bekannt«, lächelte er gutgelaunt. »Flimmer Fred war zufällig Zeuge dieses Vorganges, und lebte dann Jahre hindurch auf meine Kosten herrlich und in Freuden, das heißt, aber auch nur, weil er vorsichtig genug war, niemals eine Einladung zum Diner in meinem Hause anzunehmen«, fügte er mit feinem Lächeln hinzu.
»Und jetzt komme ich zu der Stuart-Sache. David, der eine große Anzahl Recherchen auf eigene Faust führte, war, wie Sie wissen, von der Bildfläche verschwunden, als er von Flimmer Fred erkannt worden war. Wir hatten ihm ein wunderbares Begräbnis bereitet und –«. Er zögerte.
»Und der Körper im Sarge war Lews Bruder«, unterbrach Larry ruhig.
»Ganz richtig«, gab der Doktor zu. »Er war ein etwas unbequemer Mensch und – er mußte eben gehen! Die ganze Sache war in der Zwischenzeit sehr vereinfacht worden«, erklärte er. »Mein Bruder hatte unser wundervolles Haus gebaut, und die Todeskammer mit ihrem Wasser, der Pumpe, den Ventilatoren war eine Schöpfung des Genies meines Bruders. Ich hatte den Gedanken, Todds Heim aufzukaufen, und merkwürdigerweise hatte ich den Ankauf abgeschlossen, bevor es sich als notwendig erwies, daß mein lieber David verschwinden mußte. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatte Mr. Grogan Ihnen nicht erzählt, daß wir ihn mit allen Mitteln, die in unserer Macht standen, zu bewegen versuchten, einer Einladung zu dem Macready-Theater Folge zu leisten, um sich eines der Dramen meines Bruders anzusehen. Er rettete sich selbst, nicht weil er übermenschlich geschickt war, sondern weil er die gerissene Verschlagenheit der Ratte hatte, die um die Falle herumläuft, sehr gut weiß, daß es eine Falle ist, aber nicht ausfindig machen kann, wie sie arbeitet.
»Ich komme jetzt zu dem Stuart-Fall zurück«, sagte er. »Wir hatten unseren Plan reiflich überlegt, als Stuart in die Loge kam, aber wir hatten natürlich nicht daran gedacht, irgendwie Gewalt gegen ihn zu brauchen, während er sich dort aufhielt. Wir dachten, es würde ganz einfach sein, ihn zu überreden, durch den Notausgang hinauszugehen und in den Wagen zu steigen, der auf der privaten. Abfahrtstraße wartete.
»Stuart kam, mein Bruder war natürlich nicht da, obgleich er für den Fall, daß ich seine Hilfe nötig hatte, in der Nähe war. Beiläufig gesagt, wurden die Logen B und C niemals an das Publikum abgegeben. Zu unserer Überraschung befand er sich in äußerst gehobener Stimmung und erzählte uns, daß er seine Tochter entdeckt hätte. Und jetzt wurde es uns zum erstenmal klar, daß er nicht irgendein unbedeutender Fremder, sondern ein äußerst reicher Mann war. Wir brachten ihn nach unserem Hause, er ging ganz freiwillig mit, und dort hatten mein Bruder David und ich eine kleine Besprechung, was mit ihm geschehen sollte. Wir kamen zu dem Resultat, daß wir nichts Besonderes von ihm zu erwarten hätten, wenn wir ihn leben ließen. Außerdem war es sehr notwendig, absolute Lebensnotwendigkeit, daß wir so schnell wie möglich Geld hereinbekamen. Ich hatte eine sehr große Summe Geldes ausgegeben, einige hunderttausend Pfund«, sagte er leichthin, als er sich seine zweite Zigarette ansteckte, »für Kunstschätze aller Art, und noch weitere hunderttausend für das Theater, und, wie Sie sich denken können, waren wir in die größte Verlegenheit gekommen. Wir beschlossen also, daß Stuart gehen müßte.«
Er zog behaglich an seiner Zigarette und blies kunstvoll einen Ring in die Luft.
»Das ging nicht so leicht«, sagte er kurz, »der Mann leistete Widerstand. Dabei fällt mir übrigens ein, daß ich wohl alle Berechtigung für die Annahme habe, einer der Manschettenknöpfe, der bei dem Kampf von meinem Oberhemd abgerissen wurde, ist von Ihnen gefunden worden, Mr. Holt. Wo fanden Sie den eigentlich?«
»In der Hand des Toten«, antwortete Larry, und Dr. Judd nickte.
»Ich hatte befürchtet, daß ich nicht sorgsam genug gewesen war«, sagte er. »Aber im gewissen Sinn ist dies eine Erleichterung für mich, denn ich dachte, David hätte Schuld daran – David war in solchen Fällen immer etwas nachlässig.
»Stuart hatte uns alles erzählt, alles über die Aufwärterin, und uns auch ihre Adresse angegeben; und in diesem Augenblick beschlossen wir, daß wir Clarissa auffinden und mit irgend jemand verheiraten müßten.« Er zuckte mit den Achseln. »Es kam mir nicht darauf an, mit wem wir sie verheirateten, wenn wir nur vor allen Dingen ihre Geburt nachweisen und dann ihr Vermögen kontrollieren konnten. Am nächsten Tag machte sich mein Bruder an die Arbeit, um die Wahrheit der Angaben Stuarts zu prüfen, fand aber, daß dies gar nicht so einfach war. Die Leiterin des Genesungsheims – Sie werden sich erinnern, daß das Heim, in dem Mrs. Stuart starb, früher eine Farm gewesen war – war verschwunden. Nicht einmal das Angebot einer Belohnung brachte irgendwelche Resultate. Wir hatten keinerlei Schwierigkeiten, um die Aufwärterin zu finden und in unsere Gewalt zu bringen. Der blinde Jake, der wirklich ein treuer Diener von uns war – und niemand bedauert seinen Tod mehr als ich selbst, aber ich war mir klar geworden, daß sein Tod notwendig war oder zum mindesten den Anschein der Notwendigkeit hatte –, der blinde Jake brachte sie weg, und von den Mitteilungen, die sie uns geben konnte, war es mir dann möglich, Clarissa Stuart mit Diana Ward zu identifizieren. Zu Ihrer persönlichen Information möchte ich noch hinzufügen, daß die Nachforschungen nicht mehr als einen halben Tag beanspruchten!«
»Das ist noch eine Frage, die ich Ihnen gern vorlegen möchte, Doktor«, sagte Larry ruhig. »Wer hat denn eigentlich den Unfall mit dem Fahrstuhl arrangiert?«
»David«, sagte der Doktor mit einem leichten Lächeln, als ob er sich in Gedanken über etwas amüsierte. »David befand sich in der obersten Etage, und es war auch David, der allerhand schwere Gegenstände nach Ihrem Kopf zu schleudern versuchte. Er traf Sie natürlich nicht, und das war recht bedauernswert. Von dort hatte er einen sehr bequemen Ausgang über das Dach hinweg nach dem nächsten Hause, und ich habe Sie niemals so sehr bewundert, wie in dem Augenblick, als Sie sich bezwangen und die Treppen der Leiter, die man so einladend unter der offenen Dachluke hatte stehen lassen, nicht hinaufgingen. Sie würden äußerst schnell wieder heruntergekommen sein«, fügte er bedeutungsvoll hinzu. »Und hiermit, meine Herren, ist meine Geschichte beendet.« Er griff nach der dritten Zigarette, denn die zweite war bis auf einen kleinen Rest verraucht.
»Warum haben Sie eigentlich Lew verschont?« fragte Larry. »Er war doch einer Ihrer Helfer und kannte doch alle Ihre Geheimnisse.
»Ich hatte mir vorgenommen, jeden zu schonen, falls mein eigenes Leben nicht dadurch in Gefahr kommen würde«, antwortete Dr. Judd. »Selbstverständlich wollte ich doch nicht alle meine guten Pläne durch den Tod irgendeines verkommenen Bettlers, der sonst ganz harmlos war, zusammenbrechen sehen. Ich habe nur getötet, wenn es nötig oder einträglich war. Der blinde Jake hatte seine eigene Vendetta, und sein Versuch, Fanny Weldon umzubringen, war eine rein private Angelegenheit, an der wir keineswegs interessiert waren.«
Ein Mann kam durch die Zellentür, ein kleiner untersetzter Mann, barhäuptig, und Dr. Judd nahm einen letzten tiefen Zug aus seiner Zigarette, warf sie auf den Boden, zertrat sie, bis der letzte Funke verlöscht war.
»Der Henker, wie ich annehme?« sagte er freundlich, drehte sich herum und legte seine Hände auf den Rücken.
Der untersetzte Mann fesselte ihn, und der weißgekleidete Priester, dessen Dienste Judd zurückgewiesen hatte und der auf der Außenseite der Zellentür auf ihn wartete, kam herein und schritt langsam an der Seite des Doktors auf den Gang hinaus.
Und so verschwand der Doktor für immer den Blicken Larrys, der zurückblieb. Zum letztenmal sah er seine breiten Schultern, als sie durch die schmale Tür schritten, die von der Halle des Gefängnisses nach dem Hofe führte, und er wartete mit einem unaussprechlichen und merkwürdigen Gefühl tiefster Traurigkeit.
Eine Minute verging, und dann vernahm er ein Krachen, das seinen Ohren wie Donner erschien und ihn zusammenfahren ließ. Es war das Geräusch der sich öffnenden Falltür, die zum Tode führte. Dr. Judd war mit seinem Bruder vereint!
*
Ende