Kapitel 6

 

6

 

Als er in sein Büro kam, war das junge Mädchen im Begriff, auf dem elektrischen Kocher Tee zu bereiten.

 

»Hallo!« stutzte er. »Ich hatte Sie tatsächlich vergessen. – Sagen Sie mal«, fragte er dann eilig, »hatte Stuart denn keine Manschettenknöpfe?«

 

Sie nickte und nahm ein kleines Päckchen vom Tisch.

 

»Der Kommissar hatte vergessen, sie mitzuschicken; sie wurden gebracht, als Sie gerade fortgegangen waren.«

 

Er öffnete das Papier und fand zwei einfache, goldene Knöpfe ohne Monogramm oder Wappen.

 

Larry nahm den halben Manschettenknopf in Emaille und Brillanten aus der Tasche und untersuchte ihn sorgfältig.

 

»Was ist das?« fragte sie. »Haben Sie das in seiner –« Sie zauderte.

 

»Ja, ich habe das in seiner Hand gefunden«, sagte er kopfnickend.

 

»Sie glauben also, es ist Mord?«

 

»Ich bin absolut davon überzeugt«, sagte er ruhig. »Es wird aber ungeheuer schwierig sein, den Mord zu beweisen, und wenn sich nicht ein Wunder ereignet, wird der Schuft, der dies Verbrechen begangen hat, frei ausgehen.«

 

Er nahm die Schale aus dem Wandschrank und legte die beiden goldenen Manschettenknöpfe und den halben, den er in der Hand des Toten gefunden hatte, zu den übrigen Gegenständen.

 

Dann fiel ihm ein, daß er die kleine braune Papierrolle noch nicht näher untersucht hatte. »Ich habe keine Ahnung, was das bedeuten soll; er hatte die Rolle in der Tasche.«

 

Er wickelte sie auseinander und legte das Papier flach auf den Tisch. Das junge Mädchen, das ihm gegenüber an der anderen Seite des Tisches stand, beugte sich vor und sah zu, wie er den ungefähr zehn Zentimeter langen und kaum halb so breiten Papierstreifen glättete.

 

»Hier ist nichts zu sehen«, sagte er und drehte es um, »und auf der anderen Seite auch nichts. Ich werde es mal morgen photographieren lassen.«

 

»Einen Augenblick, bitte«, sagte sie auf einmal, nahm ihm das Papier aus der Hand und fuhr vorsichtig mit ihren zarten Fingerspitzen über die Oberfläche.

 

Er sah, wie sie erbleichte.

 

»Ich habe es mir gedacht«, flüsterte sie, »und ich war beinah sicher, als ich die Erhabenheiten sah.«

 

»Was ist es denn?« fragte er hastig.

 

»Hier sind einige Worte in Braille geschrieben – Blindenschrift«, sagte sie und ließ ihre Fingerspitzen langsam über das Papier hin und her gleiten.

 

»Braille?« wiederholte er erstaunt.

 

Sie nickte.

 

»Ich habe es in der Blindenanstalt gelernt, aber mehrere Worte sind beschädigt, wahrscheinlich durch das Wasser. Wollen Sie bitte aufschreiben, was ich Ihnen vorbuchstabiere?«

 

Er ergriff einen Bleistift, riß ein Stück Papier von dem Block und wartete.

 

Das erste Wort ist ›gemordet‹«, begann sie, »und dann kommt ein Zwischenraum, dann das Wort ›dear‹; Lieber. Hier in Hinsicht auf das weitere Verständnis unübersetzbar. dann kommt wieder ein Zwischenraum, und jetzt das Wort ›See‹ – das ist alles.«

 

Die unheimliche Mitteilung lag zwischen ihnen auf dem Tisch, und sie starrten einander an. Welcher bedauernswerte Blinde hatte inmitten all der trüben Schatten, die aus dem Nebel um ihn herum stammelten und schnatterten, diese Botschaft gesandt? Wessen Knopf hielt der tote Mann krampfhaft in seinen erstarrten Fingern? Warum hatte man ihn ermordet?

 

Eine Tatsache stand unumstößlich fest, und Larry wußte, daß diese alle seine ferneren Handlungen beeinflussen würde.

 

»Mord«, sagte er leise, »Mord, und ich werde den Mann finden, der das getan hat, und wenn ich ihn aus der Hölle holen muß!«

 

Kapitel 7

 

7

 

Diana Ward blickte ihren Chef an, und neu erwachtes Interesse sprach aus ihren klaren Augen.

 

»Braille«, sagte er gedämpft, »das ist doch die Schriftsprache der Blinden?«

 

»Ja«, sagte sie. »Es ist eine Art Punktierschrift, das Verhältnis der kleinen Punkte zueinander bildet einen Buchstaben. Wenn blinde Leute schreiben, gebrauchen sie ein kleines Instrument, eine Art Griffel, und einen Führer für diesen. Das hier ist aber in großer Eile und von jemand geschrieben worden, der keinen Führer hatte. Ich kann ja fühlen, wie unregelmäßig punktiert worden ist. Die Unleserlichkeit der Worte, die ich nicht entziffern kann, ist beinahe ebenso durch das schlechte Schreiben wie durch den Einfluß des Wassers verursacht worden.«

 

Er hielt dies merkwürdige Beweisstück in beiden Händen und betrachtete es eingehend.

 

»Könnte Stuart das mit seinem Bleistift gemacht haben?«

 

»Haben Sie ihn gefunden?« fragte sie schnell.

 

»Nein«, sagte Larry verdrießlich, »aber ich habe gefunden, wozu der Bleistift gebraucht wurde.«

 

Er öffnete das Paket, das er mitgebracht hatte, und zeigte ihr das Hemd mit seiner tragischen Botschaft auf der Innenseite.

 

»Warum hat er innen im Hemd geschrieben«, fragte Larry nachdenklich, »und warum auf der linken Seite?« Diana verstand, was er meinte.

 

»Er war gezwungen, auf der linken Seite zu schreiben, wenn er die rechte Hand gebrauchte«, sagte sie. »Aber warum nur auf der Innenseite?«

 

»Ich hab’s!« rief Larry triumphierend. »Er hat seinen letzten Willen dahin geschrieben, damit die Aufzeichnungen nicht von irgend jemand anders entdeckt werden konnten. Hätte er auf die Außenseite geschrieben, wäre es wahrscheinlich gesehen und sicherlich vernichtet worden.«

 

Sie schauderte zusammen.

 

»Ich bin noch nicht ganz abgehärtet«, sagte sie mit einem halben Lächeln. »Ich glaube, Sie haben recht. Wenn wir wirklich von der Annahme ausgehen, Stuart hat das in dieser Weise aus dem Grunde niedergeschrieben, um es vor den Augen einer dritten Person zu verbergen, müssen wir auch annehmen, daß eine solche dritte Person existiert. Mit anderen Worten: es war jemand zugegen, den er fürchtete – der ihm, wenn Sie wollen, Todesangst einjagte –, und der Mord war vorsätzlich, denn Stuart mußte ja eine Zeitlang in der Gewalt von irgend jemand gewesen sein, bevor er sein trauriges Ende fand.«

 

Sie stockte plötzlich und senkte errötend ihre Augen, als sie Larrys Blick begegnete, der fest auf sie gerichtet war.

 

»Sie sind ein Prachtmädel«, sagte er leise, »und ich muß mich sehr in acht nehmen, daß ich meinen Posten hier nicht verliere.« Er sah auf seine Uhr. »Jetzt ist es aber höchste Zeit, daß Sie nach Hause gehen. Ich will ein Taxi bestellen – wohnen Sie weit von hier?«

 

»Nein, nicht besonders. Charing Croß Road.«

 

»Ich werde Sie nach Hause bringen«, sagte Larry. »Es ist ja beinahe ein Uhr.«

 

Sie hatte ihren Mantel bereits angezogen und sagte, als sie ihren Hut aufsetzte:

 

»Danke bestens, ich gehe lieber allein, es ist wirklich nicht weit. Und übrigens, Mr. Holt, möchte ich Sie bitten, mich nicht immer nach Hause bringen zu wollen, wenn es wirklich mal später geworden ist. Ich bin daran gewöhnt, allein zu gehen, und möchte auch keinen Wagen haben.«

 

»Darüber sprechen wir noch«, versetzte Larry, der eilig das Formular einer Kabeldepesche ausfüllte. »Wenn das Kabel sofort expediert wird, muß es noch gestern zur Teezeit beim Polizeichef in Calgary ankommen!«

 

»Gestern?« fragte sie erstaunt. »Gestern? – Aber natürlich, die sind ja dort um neun Stunden gegen die Greenwichzeit zurück.«

 

Larry stöhnte. »Um Sie zu fangen, muß man, weiß Gott, früher aufstehen.«

 

Sie gingen zusammen fort, und es stellte sich heraus, daß ihre kleine Wohnung auf seinem Wege nach Richmond Park lag.

 

Er fand den geduldigen Sunny im Begriff, seinen Pyjama bereitzulegen.

 

»Sunny«, sagte Larry, als er in Pyjama und geblümtem Schlafrock eine Tasse Schokolade trank, »irgendwo in dieser Stadt lebt ein recht unangenehmer Herr, Name unbekannt.«

 

»Davon wird’s wohl noch mehrere geben, Sir«, erwiderte Sunny.

 

»Und irgendwo in unserem schönen England lebt ein anderer Mann, der Henker. Meine Lebensaufgabe soll es sein, die beiden Menschen zusammenzubringen.«

 

Als er am nächsten Morgen um halb acht nach Scotland Yard kam, war das junge Mädchen schon im Büro und hatte die umfangreiche Korrespondenz, die täglich bei jedem Abteilungschef im Polizeipräsidium einläuft, sorgfältig auf seinem Schreibtisch sortiert.

 

»Soeben ist eine Kabeldepesche eingelaufen«, sagte sie, »aber ich habe sie nicht geöffnet. Sie müssen mir überhaupt sagen, was ich mit Telegrammen und Kabeln machen soll.«

 

»Alle aufmachen. Ich erhalte keinerlei private Mitteilungen nach hier.«

 

Er nahm das Telegramm, das sie ihm hinhielt.

 

»Calgary! Das ist ja riesig schnell gegangen.« Er riß es auf, und sein Mund öffnete sich vor Erstaunen, als er die folgenden Worte las:

 

»Stuart hatte kein Kind. War unverheiratet.«

 

»Reinfall Nummer eins«, sagte er.

 

Sie nahm das Telegramm aus seiner Hand und sah nach der Zeit der Aufgabe.

 

»Das ist ein gewöhnliches Auskunftstelegramm.«

 

»Was meinen Sie denn mit einem gewöhnlichen Auskunftstelegramm?« fragte Larry gutgelaunt.

 

»Es muß direkt nach seinem Einlaufen beantwortet sein, und zwar nach den vorliegenden Personalinformationen. Mit anderen Worten: Der Mann, der die Antwort schickte, hat sich nicht die Mühe gegeben, weitere Recherchen anzustellen, hat vielleicht jemand im Büro gefragt: ›War Stuart verheiratet?‹ – und hat dann auf die Auskunft hin, daß Stuart Junggeselle war, die Antwort abgesandt.«

 

Larry faltete die Depesche zusammen und legte sie in seinen Schreibtisch.

 

»Wenn sie drüben wissen, daß Stuart unverheiratet war, so wird dadurch die ohnehin schon unklare Situation noch verwickelter. Wir haben hier einen Mann, der augenscheinlich ermordet wurde und wenige Augenblicke vor seinem Tode heimlich sein Testament auf die Innenseite seines Hemdes schreibt. Es ist übrigens sehr leicht möglich, daß er das in Gegenwart seiner Mörder ausgeführt hat, ohne daß diese es bemerkten, und ich glaube, ich irre mich darin nicht.«

 

»Denselben Gedanken habe ich auch gehabt«, gab sie zu. »Er wurde ermordet und hinterließ auf seiner Hemdfront ein Testament, in dem er sein gesamtes Vermögen seiner Tochter vermachte. Ein vernünftiger Mann erfindet doch in einem solchen Augenblick wirklich keine Tochter, folglich muß der Polizeichef in Calgary unrecht haben.«

 

»Es steht aber ebenfalls fest, daß er weder in Calgary noch in Kanada verheiratet war. Das wäre doch sicher bekannt geworden«, sagte das junge Mädchen. »Geheimtrauungen sind vielleicht in einer großen Stadt möglich, aber niemals in kleinen Plätzen, wo alle einander kennen – augenscheinlich lebte er auf einer Farm, nicht in der Stadt, er hätte dort eine Heirat nicht verborgen halten können.«

 

Sie blickte nachdenklich auf den Schreibtisch.

 

»Wenn er sich heimlich verheiratet hat«, sagte sie langsam, »sollte das nicht in – in –«

 

»Selbstverständlich in London«, nickte Larry. »Kabeln Sie an den Polizeichef in Calgary und verlangen Sie Einzelheiten über Stuarts Reisen und Datum seiner vorletzten Reise nach London.«

 

Kapitel 8

 

8

 

Sie nickte, nahm ein Telegrammformular und begann zu schreiben, während Larry mechanisch die eingelaufenen Rapporte durchflog. Dann holte er die Schale aus dem Schrank und begann nach einmal im Tageslicht die verschiedenen Gegenstände zu untersuchen, und kam zuletzt zu der Papierrolle. Jetzt waren die erhabenen Schriftzeichen deutlich sichtbar, und äußerst vorsichtig fuhr er mit dem Finger darüber hinweg. Er war natürlich nicht imstande, Brailleschrift zu lesen, und blickte zu seiner Sekretärin hinüber.

 

»Ist Ihnen nicht irgend etwas Besonderes an diesem Stück Papier aufgefallen?« fragte er und zeigte auf die Braillemitteilung.

 

»O ja«, sagte sie. »Ich habe es mir schon angesehen, bevor Sie kamen. Sie haben doch nichts dagegen?«

 

»Sie können alles prüfen, ausgenommen mein Gewissen!« erwiderte Larry lachend. – »Haben Sie bemerkt, daß die Farbe an einem Ende des Papiers –« er richtete seine Aufmerksamkeit von neuem auf dasselbe – »mehr verblaßt ist?«

 

»Gestern ist mir schon aufgefallen, daß das eine Ende trockener als das andere war«, entgegnete Diana, »und das erklärt auch den Unterschied in der Farbe. Das trockene Ende hat uns die besten Resultate geliefert. So war zum Beispiel das Wort ›Mörder‹ beinah gar nicht vom Wasser angegriffen; er war etwas feucht, aber nicht naß geworden.«

 

Er nickte zustimmend.

 

»So, so!« brummte Larry. »Die Papierrolle muß in Gordon Stuarts Tasche gesteckt worden sein, als sein Körper nicht mehr im Wasser lag.«

 

»In seinen Kleidern war genug Wasser, um das Papier völlig damit zu sättigen, es ist beinahe so aufnahmefähig wie Löschpapier«, fuhr er fort. »Wir haben also bis jetzt folgendes festgestellt: Gordon Stuart ist ertränkt worden, und nach seinem gewaltsamen Tode haben ein oder mehrere Personen sich mit seinem Körper zu schaffen gemacht, von denen eine die Botschaft in seine Tasche gesteckt hat. Diese Person war entweder ein Blinder oder jemand, der annahm –« Er starrte sie an. »Alle Wetter!« Ein Gedanke war ihm durch den Kopf geschossen.

 

»Was wollten Sie sagen?« fragte sie.

 

»Kann das möglich sein –« Er runzelte die Stirn. Die Idee war absurd, und doch –. Wer auch immer die Botschaft in den Taschen des Toten gelassen hatte, erwartete vielleicht, daß Diana Ward sie lesen würde.

 

Sie hatte keine amtliche Stellung im Yard. Daß sie Larry Holt als Sekretärin zugeteilt wurde, war ein rein zufälliger Umstand, der von niemand vorausgesehen werden konnte. Aber ein eiliger Anruf bei dem Personalchef im Präsidium ergab, daß im Augenblick kein Braille-Expert in Scotland Yard existierte. Der einzige Mann, dem die Blindenschrift bekannt war, hatte einen sechsmonatlichen Krankheitsurlaub angetreten.

 

»Ich glaube, Sie können die Annahme, daß die Botschaft für mich bestimmt sein sollte, ruhig als ausgeschlossen betrachten«, sagte das junge Mädchen lächelnd. »Nein, sie ist von einem blinden Menschen aufgesetzt worden, anderenfalls wäre sie ja auch viel besser geschrieben worden.«

 

Die beiden nächsten Stunden wurden mit Erledigung der Briefe an die verschiedenen amtlichen Stellen ausgefüllt. Um elf Uhr stand Larry auf, nahm Mantel und Hut und sagte:

 

»Wir fahren jetzt spazieren.«

 

»Wir?« fragte sie erstaunt.

 

»Ich möchte, daß Sie mitkommen.« Larrys Ton war amtlich, und sie gehorchte stillschweigend.

 

Ein Auto erwartete sie am Eingang des Präsidiums. Der Chauffeur hatte augenscheinlich schon seine Instruktionen erhalten.

 

»Wir fahren nach Beverley Manor – das kleine Nest, das Stuart so regelmäßig aufgesucht hat«, erklärte er. »Es liegt mir viel daran, herauszufinden, welche Anziehungskraft die alte Saxonenkirche für den unglücklichen Mann gehabt hat.«

 

Es war ein wundervoller Frühlingstag, dessen köstliche Frische rosige Farben auf ihre jungen, gesunden Gesichter malte. Schweigend saßen die beiden nebeneinander, die das Schicksal unter so eigenartigen Umständen zusammengebracht hatte, genossen den goldenen Tag mit dankbarem Herzen, mit der Freude am Leben und der auferstehenden, göttlichen Natur.

 

Beverley Manor war ein kleines, unbedeutendes Dörfchen am Fuße des Kentish Rag, das außer seiner alten Kirche wenig Anziehungspunkte für Besucher hatte.

 

Sie fuhren zum Gasthof und machten sich dann, als Larry das Mittagessen bestellt hatte, zu Fuß auf den Weg nach der Kirche, die ungefähr eine Viertelmeile entfernt am Rande eines weißen, freundlichen Weges lag. Generationen und Generationen hatten versucht, die im Beginn einfachen Linien des Gebäudes zu verschönen und hatten ein architektonisches Mischmasch hervorgebracht, in dem romanischer, gotischer und normannischer Baustil miteinander kämpften.

 

»Das schreit doch beinah zum Himmel«, sagte Larry unehrerbietig, als sie durch das altertümliche Tor in den Kirchhof traten.

 

Larry hatte gehofft, Erinnerungstafeln an den Wänden der Kirche zu finden, die ihm irgendeinen Fingerzeig über die Veranlassung zu Stuarts Fahrten geben könnten. Aber außer einer Bronzetafel, die die Tugenden eines früheren Vikars pries, waren keinerlei Gedenktafeln zu sehen.

 

Larry begann dann eine systematische Untersuchung der Gräber. Die meisten waren sehr alt und ihre Inschriften kaum zu entziffern.

 

Schließlich kamen sie an das Ende des Kirchhofs, wo ein halbes Dutzend Arbeiter einen in Sackleinewand verpackten Grabstein herbeischleppten. Schweigend standen sie Seite an Seite und sahen zu, wie die Arbeiter ihre Last an einem gut gepflegten Grabe niederließen.

 

»Ich fürchte, wir haben unsere Reise umsonst gemacht«, sagte Larry. »Wir wollen noch versuchen, im Dorf etwas zu erfahren und fahren dann nach London zurück.«

 

Er war gerade im Begriff zu gehen, als einer der Männer anfing, die Leinewand von dem Grabstein zu entfernen.

 

»Wir können schließlich auch sehen, wer das hier ist«, sagte Larry und trat zu den Arbeitern heran, die ihm Platz machten. Mit Verblüffung las er:

 

 

Zur Erinnerung an

Margarete Stuart

Ehefrau von

Gordon Stuart

(Calgary Can.)

Gest. 4. Mai 1899

und ihrer einzigen Tochter

Jeane,

Geb 10. Juni 1898

Gest. 1. Mai 1899

 

Das junge Mädchen stand jetzt neben ihm, und beide starrten sie auf den Grabstein.

 

»Seine einzige Tochter!« sagte Larry im Tone tiefsten Erstaunens. »Seine einzige Tochter! Um’s Himmels willen, wer ist denn da Clarissa?«

 

Kapitel 9

 

9

 

Ein Besuch beim Amtsvorsteher ergab auch kein befriedigendes Resultat. Margarete Stuart war auf einer Farm drei Meilen außerhalb Beverley Manor gestorben, und seit ihrem Tode hatte die Farm zweimal ihren Besitzer gewechselt.

 

»Vor zwanzig Jahren?« sagte der Farmer, den Larry aufsuchte. »Vor zwanzig Jahren war das Haus hier so eine Art Genesungsheim. Es wurde von einer Frau geleitet, die kranke Leute aufnahm.«

 

Wo die Frau geblieben war, konnte er nicht sagen. Aus dem Dorf war sie nicht, und er glaubte gehört zu haben, daß sie gestorben wäre.

 

»Ich habe mir schon den Kopf zerbrochen«, fuhr er fort, »um auf ihren Namen zu kommen. Ich habe erst gestern einem Herrn gesagt, daß er sich am besten in Somerset House erkundigen könnte und –«

 

»Ein Herr?« unterbrach Larry schnell. »Hat sich denn jemand nach ihr erkundigt?«

 

»Ja, Sir, ein Herr aus London«, war die Antwort. »Er war im Auto von London gekommen und hat mir fünfzig Pfund angeboten, wenn ich ihm den Namen der Frau verschaffen könnte, die das Genesungsheim hier geleitet hat, und sogar hundert Pfund, wenn ich ihm irgend etwas über eine Dame mitteilen könnte, die hier vor zweiundzwanzig Jahren gestorben ist. Ihr Name war Stuart.«

 

»Wirklich?« fragte Larry, jetzt völlig bei der Sache. »Wie sah denn der Herr aus?«

 

»Er war ziemlich groß, sein Gesicht konnte man aber nicht deutlich sehen, weil er seinen Mantel bis über das Kinn hinauf zugeknöpft hatte. Es fiel mir aber auf, daß ihm der kleine Finger der linken Hand fehlte.«

 

Den Nachhauseweg legten beide, Larry und Diana, schweigend und in Gedanken versunken zurück. Der Wagen suchte sich schon seinen Weg durch den lebhaften Verkehr auf der Westminster Bridge Road, als er auf ihren Besuch in Beverley Manor zurückkam.

 

»Wer hat es so eilig, Informationen über die Stuarts zu erhalten, daß er sogar fünfzig Pfund dafür bezahlen will? Wer ist seine Tochter Clarissa, und wie kann er überhaupt eine Tochter Clarissa haben, wenn seine einzige Tochter in Beverley Manor begraben liegt?«

 

»Sie erkundigten sich doch bei dem Steinsetzmeister, als wir nach Beverley Manor kamen. Konnte der Ihnen denn keine Auskunft geben?« fragte das junge Mädchen.

 

»Der Gedenkstein ist von Stuart bestellt worden, der die Gewohnheit hatte, täglich nach dem Kirchhof zu kommen und am Grabe zu sitzen. Er war erst in vergangener Woche dort, um ihn vor dem Aufstellen zu sehen.«

 

Gedankenvoll nagte er an seiner Unterlippe.

 

»In dem Zeitraum zwischen seinem Besuch in Beverley Manor und der Nacht seines Todes muß Stuart entdeckt haben, daß er noch ein zweites Kind hatte.« Er schüttelte den Kopf. »So was gibt’s heutzutage nicht mehr«, sagte er bestimmt, »wenigstens nicht im wirklichen Leben.«

 

Er hielt sich einige zehn Minuten bei dem Kommissar auf, fuhr dann sofort in die Stadt, und das junge Mädchen sah ihn nicht vor sieben Uhr abends wieder.

 

»Ich hab’s!« rief er frohlockend.

 

»Was denn? – Den Mörder?« fuhr sie hoch.

 

»Nein, nein – Stuarts Geschichte. Ist schon eine Antwort auf meine Kabeldepesche gekommen?«

 

Diana schüttelte den Kopf.

 

»Das macht nichts«, sagte er lebhaft und marschierte im Büro auf und ab. »Ich habe die Eintragung der Trauung gefunden. Im August 1897 fand die Trauung statt und wurde in einer Kirche in Highgate gefeiert. Und wissen Sie, was dann passiert ist?«

 

»Ich habe keine Ahnung«, sagte sie langsam.

 

»Sie sollen es gleich hören. Gordon Stuart, zu der Zeit noch ein junger Mann, war besuchsweise in England. Ich habe herausgefunden, daß er vom Juni bis August im ›Cecil‹ gewohnt hat. Der Name seiner Braut war Margaret Wilson, er heiratete sie und kam dann im März 1898 nach dem Hotel ›Cecil‹ zurück, aber allein. Im Hotel haben sie mir erzählt, daß er zwei Tage später nach Kanada abreiste. Dann habe ich den Vikar der Kirche, in der er getraut wurde, aufgesucht, und dort habe ich meinen großen Fund gemacht.«

 

Er hielt inne und fuhr sich stirnrunzelnd durch die Haare.

 

»Ich gäbe was drum, wenn ich wüßte, wer der lange Mann war, dem der kleine Finger an der linken Hand fehlte«, brummte er.

 

»Wieso?« meinte sie überrascht.

 

»Er ist einen Tag vor mir bei dem Vikar gewesen«, erwiderte Larry verstimmt. »Hier haben Sie die ganze Geschichte, wie sie Stuart dem Vikar erzählte, den er am Tage vor seiner Abreise am Strand traf. Er sollte nie wieder nach hier bis vor ungefähr neun Monaten zurückkehren.

 

»Der Vikar, der die Trauung vollzogen hatte, erinnerte sich noch deutlich der näheren Umstände. Wie er sagte, wäre Stuart ein sehr nervöser Mensch gewesen, der in steter Furcht vor seinem Vater, einem reichen Landbesitzer in Kanada, lebte. Bei einer Tasse Tee im ›Cecil‹ vertraute ihm Stuart an, daß er seine Frau zurückließe und nach Kanada führe, um seinem Vater die Neuigkeit seiner Heirat beizubringen. Er war in großer Sorge, was sein Vater dazu sagen würde. Der langen Rede kurzer Sinn war, daß er am nächsten Tage London verlassen, bei der ersten passenden Gelegenheit seinem Vater reinen Wein einschenken würde, um dann zurückzukehren und seine Frau zu holen.

 

»Ich zweifele nicht im mindesten daran, daß Stuart seinem Vater nichts erzählte, daß er das Geheimnis seiner Heirat sorgfältig hütete und schließlich in der Besorgnis, daß man doch dahinterkommen würde, alle Verbindung mit seiner Frau abbrach.«

 

»Man soll über die Toten nichts Böses sagen«, versetzte das junge Mädchen kopfschüttelnd, »aber sehr anständig hat er nicht gehandelt.«

 

»Stimmt«, sagte Larry. »Es war feige. Aber auf jeden Fall muß er seiner Frau eine recht beträchtliche Summe gegeben haben, denn als der Vikar sie wiedersah, lebte sie in guten Verhältnissen. Drei Monate später, im Juni 1898, wurde sein Kind geboren – sein Kind, das er niemals sehen sollte, von dem er höchstwahrscheinlich niemals gehört hatte, bis ihn vielleicht nach Jahren Gewissensbisse nach England brachten, um Weib und Kind aufzufinden. Wahrscheinlich hat er sich an ein Auskunftsbüro gewandt, und das Resultat war die Entdeckung auf dem Kirchhof in Beverley Manor – das Grab seines Weibes und seiner Tochter.«

 

»Wer ist denn aber Clarissa?« fragte sie, und Larry zuckte mit den Achseln.

 

»Das ist Rätsel Nummer zwei und muß noch gelöst werden.«

 

Das junge Mädchen schwieg, und ihre hübschen Brauen runzelten sich nachdenklich. Plötzlich legte sie den Federhalter fort und blickte ihn über den Tisch hinweg mit einem triumphierenden Lächeln an.

 

»Sie haben es gefunden?« fragte er eifrig, und sie nickte.

 

»Ich glaube, das war eines der leichtesten Probleme«, sagte sie ruhig, »und ich muß furchtbar dumm sein, daß ich nicht früher daran gedacht habe. Haben Sie den Geburtsschein?«

 

»Noch nicht. Wir wollen morgen versuchen, ihn aufzufinden.«

 

»Die Mühe kann ich Ihnen ersparen«, fuhr Diana fort. »Clarissa ist die andere Zwillingstochter.«

 

»Zwillinge!« stammelte Larry.

 

»Das liegt doch auf der Hand«, sagte sie. »Die arme Mrs. Stuart hatte Zwillinge, einer von ihnen starb, und der andere ist Clarissa, von deren Existenz Stuart vielleicht erst wenige Stunden vor seinem Tode erfuhr.«

 

Larry starrte sie ehrfürchtig an.

 

»Wenn Sie Chefkommissarin der städtischen Polizei sind, werde ich außerordentlich dankbar sein, wenn Sie mich als Sekretär anstellen würden. Ich habe das Gefühl, als ob ich noch eine Menge zu lernen hätte.«

 

Kapitel 40

 

40

 

Dearborn umschlang ihre Hüfte und zog sie aus dem »Beobachtungszimmer« in den Salon. Als er sie losließ, gaben ihre Knie unter ihr nach und sie brach auf dem Boden zusammen.

 

»Alles muß in geziemender Weise ausgeführt werden«, sagte Dr. Judd ernsthaft. »Wir dürfen keine rohe, pöbelhafte Szene zulassen. Das ist doch auch deine Ansicht, Bruder?«

 

»Ganz und gar, mein Lieber«, antwortete David Judd.

 

Diana hatte ihren zitternden Körper halb aufgerichtet auf die Arme gestützt und starrte David an.

 

»Was haben Sie mit ihm vor?« rief sie verstört.

 

Von neuem blickten sich die Brüder an.

 

»Erzähle es ihr doch«, sagte David freundlich.

 

Dr. Judd schüttelte den Kopf.

 

»Ich glaube, es ist besser, du teilst ihr das mit«, antwortete er. »Du bist in solchen Angelegenheiten so außerordentlich feinfühlig und vergiß nicht«, fügte er hinzu, »daß sie deine Frau ist.«

 

David hatte sich hingesetzt, und sein unbewegliches Gesicht blickte über die Stuhllehne auf Diana hinunter.

 

»Wenn ich mit dem Vorlesen fertig bin«, sagte er, »werde ich ihn ertränken.«

 

Sie fuhr entsetzt hoch.

 

»Mein Gott«, flüsterte sie schweratmend.

 

Wie ein Blitz kam ihr die Erkenntnis der fürchterlichen Wahrheit. Die beiden waren wahnsinnig! Wahnsinnige, die den äußeren Anschein völliger Gesundheit hatten, die Jahre hindurch Tag für Tag mit gesunden Menschen Geschäfte gemacht und nicht ein einziges Mal den geringsten Verdacht erweckt hatten, wie zerfressen ihre Moralanschauungen in Wirklichkeit waren. Sie schrak vor ihnen zurück, weiter und weiter, bis ihr Rücken sich gegen die Täfelung der gegenüberliegenden Wand drängte. Sie waren die Mörder ihres Vaters! Sie glaubte den Verstand zu verlieren, und grub die Nägel ihrer Finger in ihre Handflächen in dem krampfhaften Bemühen, gegen die drohende Ohnmacht zu kämpfen. Wahnsinnig, und alle Welt sah und sprach täglich diese beiden, ohne das geringste zu vermuten!

 

»Soll ich jetzt vorlesen?« fragte David unbewegt.

 

»Ja, ja, lesen Sie bitte«, rief sie hastig.

 

Sie wollten Larry töten, wenn er mit Lesen fertig war!

 

Das war der einzige Gedanke, der sie quälte und peinigte, als sie ihr verzerrtes Gesicht dem Manne zuwandte. Die Eitelkeit dieses Menschen, der nur seiner fixen Idee lebte, war geschmeichelt, und seine Erregung verriet sich im Gestammel seiner Worte, als er die ersten beiden Seiten seines Manuskriptes las.

 

Dann wurde seine Sprache ruhiger, und in einer ihr selbst unverständlichen Weise begriff das junge Mädchen, daß er diesen trockenen toten Worten eine Schönheit verleihen konnte, die nur sein eigenes krankes Gehirn sah, die er aber selbst ihr zu ihrer eigenen Verwunderung verständlich machen konnte.

 

Dr. Judd war von seinem Stuhl heruntergeglitten und saß mit gekreuzten Beinen auf dem riesigen Bärenfell vor dem Kamin. Seine Hände waren gefaltet, und mit großen Augen blickte er andächtig auf seinen Bruder. Und hier drängte sich dem jungen Mädchen eine andere merkwürdige Beobachtung auf. Diese Zeilen, die David so wunderbar erschienen, begeisterten in gleicher Weise den anderen, und wenn er gelegentlich selbstbewußt, wie um den ihm gebührenden Beifall einzuheimsen, eine Pause machte, war es immer der Doktor, der diesem Wunsche zuvorkam.

 

»Wunderbar, ganz wunderbar! Ist er nicht ein Genie, Miß Stuart?« fragte Stephan.

 

Sie blickte schnell zu David hinüber, glaubte ihn verlegen unter diesen Lobsprüchen zu sehen, aber er saß kerzengerade auf seinem Stuhl, ein selbstzufriedenes Lächeln auf seinen breiten Zügen und den Ausdruck herablassenden Wohlwollens in seinen Augen. Und beide hatten die Absicht, zu morden! So manche Leute waren schon in diesem fürchterlichen Hause ermordet worden, dachte Diana in verständnisloser Verwunderung. Hatten sie immer hier gesessen, während ihre Opfer den letzten verzweifelten Kampf in jenem entsetzlichen Verließ auskämpften, der eine vorlesend, und der andere jenen abgedroschenen Phrasen lauschend, jenen uralten Situationen, die beide für das Werk eines Übergenies hielten?

 

»Das ist noch nicht einmal meine beste Arbeit«, sagte David, als ob er in ihren Gedanken gelesen hätte. »Es gefällt Ihnen natürlich?«

 

»Sehr«, antwortete das junge Mädchen leise. »Bitte, lesen Sie doch weiter.«

 

Sie hoffte, sie könnte sie auf diese Weise die ganze Nacht hindurch beschäftigt halten. Sicherlich würde die Polizei nach Larry suchen, und vielleicht war einem der Beamten das Haus in Chelsea bekannt. Aber diese Hoffnungen wurden zertrümmert, und ihr Herz schien stillzustehen, als sie sah, wie David das Manuskriptbuch schloß und es mit zärtlicher Sorgfalt auf den Tisch neben ihm legte.

 

»Bruder«, begann er, »ich glaube –«

 

Der Doktor nickte.

 

»Und würde es nicht eine delikate Handlung, ein eindrucksvoller Beginn des unendlichen Glückes sein, das vor mir, vor uns allen liegt, wenn diese schöne Hand –« er ergriff die widerstandslose Hand Dianas – aber wiederum beendete er den Satz nicht.

 

Aus seiner Tasche zog er ein Schlüsselbund, die Schlüssel, die Flimmer Fred so sorgfältig nachgemacht hatte, und ging nach der Tür, durch die das junge Mädchen hereingekommen war. Er lächelte leise, als er den Schlüssel in die Öffnung steckte und die Tür aufzog.

 

»Wollen Sie bitte mitkommen, liebes Kind?« Sie zauderte einen Augenblick, nahm aber dann all ihren Mut zusammen und folgte ihm die Stufen nach dem Keller hinunter.

 

Am Ende der Treppe war eine andere Tür. Er öffnete diese, schaltete das Licht ein, und sie sah einen Raum, in dem verschiedene Maschinen standen. Er ging zu einem Schalterhebel.

 

»Sie sollen die Ehre haben, unseren Freund – wir tragen ihm nichts nach – Mr. Holt zu erlösen.«

 

»Erlösen?« fragte sie heiser. »Meinen Sie das wirklich?«

 

Unschlüssig stand sie vor dem Schaltbrett, ihre Hand lag auf dem schwarzen Hebel.

 

»Warum öffnen Sie denn nicht die Tür und lassen ihn heraus?« fragte sie argwöhnisch.

 

»Der Hebel öffnet die Tür und erlöst ihn. Glauben Sie doch nicht, meine Teure, daß ich Sie in einer solchen Stunde täuschen werde.«

 

Es war der Doktor, der diese Worte in sanftestem Ton äußerte, und sie zauderte nicht länger. Sie konnte weder ihre Beweggründe noch ihre Aufrichtigkeit ergründen, noch konnte sie sich die Tatsache klarmachen, daß bei diesen Männern Lüge und Betrug wie tägliches Brot waren. Sie zog den Hebel zurück, der sich leichter wie sie erwartet hatte, bewegen ließ. Dann blickte sie nach der Tür.

 

»Wir wollen ihm entgegengehen«, sagte der Doktor und legte seinen Arm um ihre Schulter.

 

Sie schauderte, machte aber keinen Versuch, sich seinem Arm zu entziehen, und so führte er sie die Treppe hinauf und zurück in den Salon, nachdem er die Tür hinter sich abgeschlossen hatte.

 

Und dann, bevor sie seine Absichten erraten oder sich wehren konnte, wurde der Griff um ihre Schulter zu einer stählernen Umschlingung, die sie machtlos an den großen Mann preßte.

 

»Mein Weib, Bruder!« sagte David.

 

»Zweifellos dein Weib, Bruder«, entgegnete der Doktor, »denn das Schönste und Beste der Welt gehört dir, mein Lieber.

 

Diana war vor Schreck erstarrt und unfähig, eine Bewegung zu machen. Warum kam Larry nicht? Ebenso plötzlich, wie er sie ergriffen hatte, ließ der Doktor sie los und nahm ihre kalte Hand in die seine.

 

»Setz dich dicht an das Feuer, Weib«, sagte er. »Ich will den dritten Akt meines großen Werkes zu Ende lesen, und inzwischen wird Mr. Holt aufgehört haben zu leben.«

 

Kapitel 41

 

41

 

Den schmerzenden Kopf in die Hände gestützt, saß Larry auf der eisernen Bettstelle in der Zelle. Er hatte die verschiedensten Entwicklungen in dem Abenteuer dieser Nacht vorausgesehen, aber niemals hatte er sich ausmalen können, daß er wie eine Ratte in der Falle sitzen und daß das Rätsel der Loge A in dieser verblüffenden Weise gelöst werden würde. Das war also die Erklärung für Gordon Stuarts Tod. Also auch Stuart hatte die Einladung Judds, in seine Loge zu kommen, angenommen und dort den unheimlichen Dearborn getroffen. Er war betäubt worden, und dann hatte ihn John Dearborn in seinen starken Armen in den Wagen getragen und in das Haus des Todes gebracht.

 

Wenn er auch selbst nicht ein solches Ende des Abends vorausgesehen hatte, so hatte er doch wenigstens einige Vorsichtsmaßregeln getroffen. Instinktiv hatte er gefühlt, daß von all den Plätzen auf Gottes weiter Erde, wo sein Wild sich verbergen und wo das Wort »Finis« für den Fall Stuart geschrieben werden würde, dieses grauenerregende Haus sein würde, das die Brüder Judd für sich und ihre grausigen Pläne erbaut hatten, und der Zweck seines heimlichen Besuches am Morgen war ein doppelter gewesen. Mit eigenen Augen hatte er den Beweis der unmenschlichen Verworfenheit dieses Mannes sehen, aber auch in gleicher Zeit die Gefahr, die ihm und dem jungen Mädchen drohte, kennenlernen wollen.

 

Bei dem Gedanken an Diana, die behaglich zu Haus saß, lächelte er und wanderte sich, was sie wohl fühlen und denken würde, wenn sie wüßte, in welcher Lage er sich befände. Jede Waffe, die er bei sich hatte, war ihm genommen worden, aber das beunruhigte Larry nicht besonders. Er stand von dem Bett auf und ging durch das Zimmer, aber das Gewicht der Kette an seinem Knöchel war so groß, daß er gezwungen war, einen Teil derselben lose in der Hand zu tragen. Einen kurzen Blick warf er auf die schwarzen Löcher in der Wand dicht über dem Fußboden … von dort würde die Gefahr kommen. Wohl durchdacht war die Ausführung dieses Hinrichtungsraumes. Kein Schrei um Hilfe, kein Ruf, kein Geräusch würde durch diese massiven Mauern hindurchdringen. Das Licht in der Decke war durch eine dicke, schwere Glaskugel geschützt und erinnerte an die Schiffsbeleuchtung.

 

Er wollte erst die Länge der Kette kennenlernen, denn, wie er glaubte, hatte er noch reichlich Zeit. Dearborn würde wohl jetzt im Hause sein. Er hörte das Schnappen der Falltür und blickte nach oben, konnte aber nichts sehen. Dann wartete er noch eine weitere halbe Stunde, bis er den großen Steinblock, an dem die Kette befestigt war, beiseite schob. Bevor seine Augen den wasserdichten Sack, den er dort bei seinem früheren Besuche verborgen hatte, erblicken konnte, verlöschte plötzlich das Licht.

 

Merkwürdig genug hatte er an eine solche Möglichkeit nicht gedacht, und er hielt plötzlich den Atem an. Der Beutel war an seinem Platz, seine Finger fühlten ihn, er zog ihn hervor und suchte nach den Schlüsseln. Wäre Licht gewesen, so hätte er keinerlei Schwierigkeiten gehabt, den richtigen Schlüssel herauszufinden, der die Fußschelle öffnete; so aber versuchte er drei Schlüssel, und keiner von ihnen paßte in die schmale Öffnung des Bronzeringes an seinem Fuß.

 

Ein leises, gurgelndes Geräusch, glucksend wie Wasser, das aus einer Flasche läuft … ein kalter Luftstrom traf sein Füße. Er versuchte einen anderen Schlüssel, aber auch dieser ließ ihn im Stich. Schlimmer noch … er blieb in dem Schlüsselloch sitzen und wollte sich nicht wieder herausziehen lassen.

 

Er hörte das Rauschen des Wassers, das durch die kleinen Löcher in der Wand einströmte … das regelmäßige Stampfen einer Pumpe. Er zog und zerrte an dem Schlüssel, dicke Schweißtropfen liefen an seinen Wangen herunter, und endlich, ein Seufzer der Erleichterung, kam der Schlüssel heraus. Das Wasser bedeckte schon seine Füße und stieg mit unheimlicher Geschwindigkeit.

 

Nur noch ein einziger Schlüssel; die übrigen waren für den Zweck zu groß. Er nahm ihn heraus, aber der Bart blieb in der Schnur des Beutels hängen, in dem sie untergebracht waren. Der rettende Schlüssel fiel in das Wasser. Er tastete und suchte … er war verschwunden. Wieder und wieder griffen seine Finger durch das wirbelnde Wasser und suchten hastig auf dem rauhen Zementfußboden. Endlich, mit einem Freudenschrei, hatte er ihn gefunden, hob mühsam seinen Fuß hoch, schob den Schlüssel in die schmale Öffnung. Er drehte sich. Die Fußschelle öffnete sich – er war frei!

 

Noch zwei andere Türen lagen zwischen ihm und der Rettung, und er wußte, daß mit dem ständig steigenden Druck des Wassers eine Arbeit vor ihm lag, die seine Kräfte bis zum äußersten in Anspruch nehmen würde.

 

Das Wasser ging ihm schon bis zu den Hüften. Mühevoll watete er durch den kleinen Gang die beiden Stufen hinauf und hielt krampfhaft den wasserdichten Sack mit den Zähnen fest. Der Schlüssel drehte sich leicht genug, aber die Tür hatte keinen Handgriff, und mit jeder Sekunde vergrößerte sich der Druck des Wassers gegen die Tür. Er biß die Zähne zusammen, holte tief Atem und zog mit aller Kraft langsam … gleichmäßig …

 

Kapitel 42

 

42

 

Diana vernahm die fürchterlichen Worte, ohne sich jedoch im ersten Augenblick über ihre Bedeutung klar zu werden.

 

»Inzwischen wird Mr. Holt aufgehört haben zu leben.«

 

Sie öffnete den Mund, um ihre Verzweiflung hinauszuschreien, aber kein Ton entrang sich ihrer gepreßten Kehle. Sie hatte Larry getötet! Ihre eigene Hand hatte den Hebel heruntergedrückt, der ihn ertränkte! Das war doch das Wort, das Judd gebraucht hatte. Sie hatte ihn ertränkt – aber wie denn nur? Als der Sinn der Worte ihr allmählich klar wurde, schwankte sie auf den Doktor zu und griff nach seiner Schulter, um sich zu stützen. Sie wollte nicht ohnmächtig werden, hielt sie sich selbst vor, sie wollte um keinen Preis ohnmächtig werden! Es mußte doch einen Weg geben, um Larry zu retten. Verzweifelt suchte sie mit ihren Blicken nach einer Waffe – fand nichts; langsam wurde sie ruhiger. Es waren ja Wahnsinnige, mit denen sie zu tun hatte, und man mußte ihnen den Willen tun. Aber die Zeit war ja so kurz.

 

Von neuem drückte ihre Haltung gespannte Aufmerksamkeit aus, aber ihre Gedanken, ihre Augen arbeiteten unablässig, und als David Judd sich nach vorn beugte, bemerkte sie etwas, das einen Strahl der Hoffnung in ihr Herz brachte. Sein Jackett war offen und ließ gerade noch ein Stückchen des weißen Hemdes sehen, dort, wo sein Arm aus der Weste herauskam, und gegen die weiße Leinwand hob sich eine scharfe, schwarze Linie ab. Sie blickte noch einmal hin und erkannte einen Revolver, den David in einem Halter unter der Achselhöhle trug. Sie erinnerte sich von Verbrechern gelesen zu haben, die ihre Waffen in dieser Weise trugen, um sie bequem zur Hand zu haben.

 

Er war in der Mitte einer farblosen Liebesszene, als ihre Hand nach vorn schoß und den Griff erfaßte. Mit einem Ruck hatte sie ihn herausgerissen und sprang zurück. Das kleine Tischchen, auf dem die Mahlzeit für sie serviert worden war, stürzte krachend um.

 

»Wenn Sie sich bewegen, töte ich Sie«, rief sie atemlos, »öffnen sie sofort die Tür und lassen Sie ihn heraus!«

 

Die beiden Männer waren aufgesprungen und starrten sie an.

 

»Sie – Sie haben meine Vorlesung unterbrochen«, rief David mit der zitternden Stimme eines gekränkten Kindes. Der drohenden Gefahr schien er sich nicht bewußt zu sein.

 

»Öffnen Sie die Tür«, keuchte sie, »und befreien Sie Larry Holt, oder ich schieße Sie nieder.«

 

David runzelte die Stirn und legte seine Hand auf die Marmorplatte des Kamins. Sie sah, wie seine Finger einen Knopf berührten. Das Licht ging aus, und sie gab Feuer.

 

Der Schall der Explosion betäubte sie beinahe. Im nächsten Augenblick hatten seine starken Arme sie ergriffen. Er warf sie auf den Stuhl und blickte wütend auf sie hinab.

 

»Sie haben meine Vorlesung unterbrochen«, er weinte beinahe, und Dr. Judd blickte ängstlich von ihr nach seinem Bruder. »Und jetzt«, sagte David verdrießlich, »werde ich Sie nicht mehr heiraten.«

 

Seine großen Hände packten sie um die Taille und hoben sie auf die Füße. In seinen Augen standen Tränen – Tränen des verletzten Stolzes, der Demütigung. Dann, mit der plötzlichen Laune des Geisteskranken stieß er sie von sich.

 

»Ich denke, er wird jetzt tot sein, Bruder«, sagte er, sich zu dem Doktor wendend, und dieser nickte mit einem Seufzer der Erleichterung.

 

»Ja, jetzt ist er tot«, antwortete er. »Das Wasser steigt beinahe einen halben Meter in zwei Minuten, wie ich glaube.«

 

»In einer Minute fünfzig Sekunden«, berichtigte David. »Um Gottes willen, schonen Sie ihn doch!« rief das junge Mädchen heiser. »Ich will Ihnen geben, was sie wollen – alles, was Sie nur wollen. Mein ganzes Geld, alles, was ich besitze.«

 

»Ich glaube, Sie müßten ihn eigentlich sehen«, David ließ die flehenden Worte Dianas unbeachtet.

 

»Es ist aber doch dunkel«, sagte der Doktor mit Kopfschütteln.

 

»Aber natürlich. Wie kann man nur so töricht sein und das vergessen! Wir schalten nämlich immer das Licht aus«, sagte David, dessen Ärger ebenso schnell vergangen zu sein schien, wie er gekommen war. »Das Wasser strömt sehr schnell durch die kleinen Löcher über dem Boden der Zelle. Wir lassen es vom Dach des Hauses in den Keller fließen. Wissen Sie, wir haben oben einen sehr großen Wassertank«, fuhr er fort, »und die Person, die wir ertränken, kann nicht hochsteigen, weil die Gewichte am Fuß sie festhalten. Einmal gelang es einem Menschen, auf das Bett zu klettern – erinnerst du dich noch daran?«

 

»Sehr gut«, antwortete der Doktor im Plauderton. »Wir mußten beinahe drei Meter Wasser in die Zelle laufen lassen, bevor er starb.«

 

Sie lauschte wie erstarrt. Hatte sie einen gräßlichen Traum, Alpdrücken – würde sie nicht endlich erwachen!

 

»Und das nimmt so viel Zeit in Anspruch, um den Keller wieder leerzupumpen. Es war rücksichtslos von dem Mann. Er hat uns sehr viel unnötige Arbeit bereitet«, fuhr David fort, und zum erstenmal sah der Doktor ihn besorgt an.

 

Er drehte sich zu Diana und sah sie gedankenvoll an.

 

»Mein Weib«, sagte er mit leiser Stimme, und in seinen Augen glühte ein plötzliches Feuer auf, das sie erzittern ließ. »Mein Weib«, sagte er noch einmal und riß sie mit einem tierischen Schrei an sich.

 

»Ich brauche Sie, Judd!«

 

Er fuhr herum. Jemand hatte geräuschlos das Zimmer betreten – der Revolver in seiner Hand war gerade auf sein Herz gerichtet.

 

Es war Larry Holt.

 

»Keine Bewegung«, sagte Larry. »Widerstand ist nutzlos … Hören Sie das?«

 

Man vernahm das gedämpfte Geräusch einer brechenden Tür in der Halle.

 

»Polizeibeamte … sind schon im Haus«, sagte Larry lakonisch.

 

Langsam schob David das junge Mädchen von sich fort und stand dem Eindringling gegenüber, den er unter seinen buschigen Augenbrauen hervor finster betrachtete. Larry sah nicht, daß sich die Hand des Mannes bewegte – so blitzartig schnell ging alles vor sich. Ein Luftzug fuhr an seiner Wange vorüber, die Wandtäfelung hinter ihm zersplitterte krachend, und – die beiden Schüsse erschienen dem halb ohnmächtigen Mädchen wie ein einziger.

 

David Judd schwankte hochaufgerichtet einen Augenblick hin und her.

 

»Meine wunderbaren Stücke«, sagte er mit brechender Stimme. Dann, ohne ein weiteres Wort, brach er tot auf dem Boden zusammen.

 

»David, David!« Dr. Judd warf sich über ihn. »David, nicht schauspielern! Ich will dir die besten Schauspieler für deine Stücke verschaffen. Ich kann es nicht ertragen, wenn du das machst! Du ängstigt mich, David! Sagen Sie ihm doch, daß er aufhören soll!«

 

Der große Mann blickte mit leichenblassem Gesicht flehend zu Larry Holt hinauf, der mit rauchendem Revolver in der Hand die beiden Männer betrachtete.

 

»Mr. Holt, Sie haben doch Einfluß auf ihn«, jammerte der Doktor mit tränenüberströmtem Gesicht. »Bitte, sagen Sie ihm doch, er soll nicht schauspielern. Sagen Sie es ihm, bitte. Ich kann es nicht ertragen, wenn er das tut. Es ängstigt mich so sehr. Manchmal hat er stundenlang in diesem Zimmer gespielt – einzelne Szenen aus seinen wundervollen Stücken. David!« Er schüttelte den Körper, aber David war für die Stimme seines Bruders unerreichbar.

 

Dann stand der Doktor auf und ging auf Larry zu, legte seine große Hand auf den Arm des anderen … wie ein verängstigtes Kind. Larry war von der Tragik der Geschehnisse so erschüttert, daß er kein Wort hervorbringen konnte. Dieser erwachsene Mann, dessen brillanter Kopf soviel Pläne gesponnen, der so ungeheuer viel gewagt hatte, war in diesem Augenblick wie ein kleines Kind.

 

Plötzlich erhob der Doktor den Kopf.

 

»Es … tut mir leid«, sagte er heiser. »Armer Junge.«

 

Er sah Larry Holt lange Zeit und fest in die Augen.

 

»Mr. Holt, ich habe mich absolut kindisch betragen, aber ich bin völlig bei Verstand. Ich übernehme die volle Verantwortung für alle meine Handlungen – und die meines Bruders. Ich weiß ganz genau, was ich getan habe.«

 

Harvey war in das Zimmer gestürzt, war aber beim Anblick des Bildes, das sich seinen Augen darbot, still stehengeblieben. Larry winkte ihn heran.

 

»Bringen Sie ihn fort«, sagte er.

 

»Ich wünschte, wir hätten Sie erledigen können«, sagte Dr. Judd, als er weggeführt wurde.

 

Das junge Mädchen lag in Larrys Armen und hatte das Gesicht an seiner Schulter verborgen.

 

»Jetzt sind wir am Ende unseres mühsamen Weges«, flüsterte er, und sie nickte. Als sie in das Vestibül kamen, wandte sich der eine der Polizisten an ihn.

 

»Wir haben den Diener verhaftet, Sir. Er war in einem anderen Teile des Hauses eingeschlossen.«

 

»Er hat nichts mit der ganzen Sache zu tun«, sagte Larry. »Sie können ihn ruhig entlassen. Ich habe mir übrigens gar nicht einmal die Mühe gegeben, einen Haftbefehl gegen ihn zu beantragen.«

 

Ein großer, hagerer Mann kam durch die erbrochene Tür und ergriff Dianas Hand.

 

»Sie haben Schreckliches durchmachen müssen, Miß Stuart«, sagte er. Sie erkannte den Polizeikommissar und versuchte zu lächeln. »Ich habe meinen Wagen hier. Du würdest auch besser mit kommen, Larry. Harvey kann ja die nötigen Formalitäten gegen Dr. Judd erledigen.«

 

Sie fuhren nach Scotland Yard zurück, und Larry war während der ganzen Fahrt sehr schweigsam. Er saß an der Seite des jungen Mädchens, hielt ihre Hand in der seinen und antwortete auf die Fragen des Kommissars in kurzer Weise und ohne weiter auf diese einzugehen. Erst im Büro des Kommissars gab er seinen Gedanken Ausdruck.

 

»John, ich hoffe, du wirst in deinem Rapport an die Regierung nicht behaupten, daß ich diesen Fall zu einem so günstigen Ende gebracht habe.«

 

Sir John blickte ihn stirnrunzelnd und fragend an.

 

»Aber selbstverständlich werde ich das tun. Wer sollte es denn sonst gemacht haben?«

 

Larry legte seine Hand auf die Schulter des jungen Mädchens.

 

»Hier steht der beste Detektiv, den wir seit Jahren in Scotland Yard gehabt haben«, sagte er einfach.

 

Diana lachte.

 

»Bist du aber dumm«, neckte sie ihn, »ich soll es sein! Wer war denn wirklich der beste Detektiv, den du für die Übernahme dieses Falles hättest haben können?«

 

»Du«, war seine Antwort.

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Der beste Detektiv wäre Dr. Judd gewesen, wenn du seine Dienste hättest in Anspruch nehmen können. Er war der beste, weil er mehr über diese Angelegenheit wußte, als wie wir alle, weil ihm die Geheimnisse bekannt waren, die wir aufzuklären versuchten. Und ich war beinahe in der gleichen Lage wie er; ich hatte sozusagen meine Hände mit im Spiel. Als ich selbst erst einmal wußte, daß ich die gesuchte Clarissa Stuart war, machte es mir keine Schwierigkeiten, euch im Dunkeln zu lassen. Denn als sich herausgestellt hatte, daß die arme Emma – beinahe hätte ich ›Tante‹ gesagt –, die arme Emma Ward die Aufwärterin war, die meinen – meinen Vater gesehen und in einer solchen Aufregung ihre Stelle verlassen hatte, bestand für mich nicht der geringste Zweifel mehr, daß es sich wirklich um meinen Vater handelte. Und als das erst einmal feststand, war der Rest nicht mehr schwierig. Ich wußte, daß die Bande es auf mich abgesehen hatte. Nein, Larry, du hast wirklich Großartiges geleistet.«

 

Larry schüttelte lächelnd den Kopf.

 

»Schließlich ist es ja auch ganz gleich«, sagte der Kommissar trocken, »wer die Lorbeeren einheimst.«

 

»Wieso?« fragte Larry verwundert.

 

»Wenn sie man in der Familie bleiben, meine ich«, war Sir Johns kurze Antwort, und das junge Mädchen errötete.

 

»Da steckt viel Wahres darin, Sir John«, sagte sie. »Und jetzt bringe ich ihn erst mal nach Haus.«

 

Kapitel 43

 

43

 

Zwei Monate später saß Dr. Judd auf dem Rande eines sehr schmalen Bettes und rauchte drei Zigaretten nacheinander. Es war ein regnerischer Morgen, und das kleine Viereck Glas, durch das das Licht in die Zelle fiel, schien alle die trübe Melancholie eines grauen Morgens in sich vereinigt und das schwache Tageslicht in Blei verwandelt zu haben.

 

Der Doktor rauchte mit größtem Wohlbehagen – seit beinahe zwei Monaten hatte er keine Zigarette mehr gekostet. Jetzt öffnete sich die Zellentür, und Larry kam herein. Der Doktor sprang auf und grüßte ihn lächelnd.

 

»Es ist außerordentlich nett von Ihnen, daß Sie gekommen sind, Holt«, sagte er. »Ich hatte eigentlich die Absicht, keinerlei Aussagen zu machen, aber in Hinsicht auf die besonderen Umstände scheint es mir nur billig zu sein, einem Mann in Ihrer Stellung, der eine so langwierige, schwierige und ernsthafte Arbeit geleistet hat, volle Aufklärung zu geben.«

 

Er war vollkommen aufrichtig, und Larry wußte dies.

 

»Von frühester Kindheit an lebten mein Bruder David und ich in dem bestmöglichsten Verhältnis zueinander. David war meiner Sorgfalt anvertraut, war meine Verantwortung, aber auch meine höchste Freude. Wir waren noch sehr jung, als wir unsere Mutter verloren, und unser Vater war ein exzentrischer Herr, der wenig mit kleinen Kindern anzufangen wußte. So wuchsen wir zusammen auf, besuchten dieselbe Schule, gingen zusammen auf die Universität, und ich glaube mit Recht sagen zu können, daß wir einander völlig genügten, daß wir niemand anders benötigten. Ich hatte eine Liebe, eine Bewunderung für David, die weit über menschliche Begriffe hinausging«, sagte der Doktor leise und senkte das Haupt.

 

Larry nickte. Dieser hervorstechendste Charakterzug der beiden Männer war ihm bekant.

 

»Hoffentlich nehmen Sie nicht an, daß ich Ihnen den Tod Davids nachtrage«, fuhr er fort. »Ganz und gar nicht. Ich habe die Unvermeidlichkeit erkannt und weiß in meinem Innern, daß nichts David hätte retten können. Er starb so, wie er es selbst gewünscht haben würde, und in gewisser Hinsicht bin ich sogar froh, daß alles so gekommen ist, wie es eben kam. Bei den Verhandlungen habe ich die größten Anstrengungen gemacht, um dem Richter und den Beisitzern zu beweisen, daß ich geistig völlig gesund bin, und Ihre Ausführungen haben geholfen, eine Verurteilung herbeizuführen, die, wie ich wußte, unvermeidlich war. Wie ich schon sagte –« er kam noch einmal auf seine Jugendzeit zurück und erzählte Einzelheiten aus seinem Leben.

 

»Als mein Vater starb«, fuhr er fort, »hinterließ er uns die Greenwich-Versicherungs-Gesellschaft, eine kleine, heruntergekommene Firma, die kurz vor dem Zusammenbruch stand. Ohne weiteres und in vollkommenem Ernst gebe ich zu, daß ich niemals die Unverletzlichkeit des menschlichen Lebens respektiert habe. Für mich ist ein Mensch nichts weiter als irgendein anderes animalisches Wesen – so eine Art wie der taube Lew«, erklärte er leichthin, und Larry konnte kaum einen Schauder unterdrücken, als er ihn in so gleichgültiger Weise diese menschliche Ruine erwähnen hörte.

 

»Ich erzähle Ihnen das deswegen – bevor ich weitergehe –, damit Sie nicht eventuell irgend etwas wie eine Art entschuldigender Haltung von mir erwarten. Sollte dies der Fall sein, so werden Sie sicher enttäuscht werden. Das Geschäft, das mein Bruder und ich übernahmen, war, wie schon erwähnt, beinahe bankrott, und ich glaube, wir kamen zum erstenmal auf die Idee unserer späteren – hm – Operationen, als wir eine Versicherungssumme auszuzahlen hatten, die unser exzentrischer Vater niemals hätte übernehmen dürfen.

 

»Die Grundidee unseres Planes stammt zu gleichen Teilen von David und von mir. Wir setzten dann drei Monate später unsere Ideen in die Praxis um, als wir einen Mann ertränkten, dessen Namen zu erwähnen ich für unnötig erachte, da dies doch zu nichts führen würde und niemand durch seinen Tod in Verdacht gekommen ist. Wir hatten ihn in unserem eigenen Geschäft versichert – eine sehr einfache Sache –, ohne daß er die geringste Ahnung davon hatte. Der ärztliche Rapport stammte von mir, und David, der ein hervorragender Ingenieur, das war sein eigentlicher Beruf, und geschickter Zeichner war, zeichnete und unterschrieb alle die notwendigen Formulare im Namen unseres Klienten. Wir hatten den Mann sehr sorgfältig ausgesucht. Er hatte keinerlei Freunde und stand im Ruf eines Einsiedlers und Sonderlings. Die Versicherungssumme war an einen fingierten Namen zu zahlen, unter dem mein Bruder in Schottland lebte, wo er ein kleines möbliertes Haus gemietet hatte und nur zu dem Zweck dort lebte, um die Summe einkassieren zu können.

 

»Mit seinem Tode machten wir ein außerordentlich gutes Geschäft, denn wir hatten sein Leben rückversichert und hatten weiter nichts zu tun, als von den anderen Gesellschaften das Geld einzuziehen. Mein Bruder war von klein auf poetisch veranlagt und schrieb während seines Aufenthaltes in Oxford zwei oder drei Stücke, die aber von den Londoner Theatern abgelehnt wurden. Ich brauche wohl Ihnen gegenüber nicht besonders zu betonen«, fügte er mit äußerstem Ernst hinzu, »daß diese Stücke ganz hervorragend waren, wenn auch natürlich nicht ganz so gut wie die, die ich dann im Macready-Theater zur Aufführung brachte.«

 

»Das Macready-Theater war doch Ihr Eigentum, nicht wahr?« fragte Larry, und der Doktor nickte zustimmend.

 

»Ich habe es vor einigen Jahren nur zu dem Zweck gekauft, um Davids Dramen auf die Bühne zu bringen«, sagte er. »Der einzige Zweck, für den ich überhaupt lebte, war ja doch, Davids Namen bekannt zu machen. Er hatte schon sehr früh das Pseudonym Dearborn angenommen, und es wundert mich eigentlich, daß Sie den Namen Dearborn, der schon vor sechs Jahren auf den Theateranzeigen erschien, nicht mit Ehrw. John Dearborn in Verbindung brachten.«

 

»Das haben wir ja auch getan«, sagte Larry, »aber wir zogen unsere Schlußfolgerungen erst in einem späteren Stadium unserer Untersuchungen.«

 

»Unser zweites Experiment war ein Mann namens – nun, auch den Namen brauche ich Ihnen nicht zu geben«, sagte er. »Da mußten wir eine ganze Zeit warten, bis wir das Geld von den Rückversicherungsgesellschaften ziehen konnten. Und hierbei passierte eine sehr unangenehme Sache. Einer der Angestellten hatte herausgefunden, daß die Person, der das Geld ausgezahlt wurde, mein Bruder David war. Durch einen ganz lächerlichen Zufall war er dahintergekommen und fing nun an, Geldsummen von David zu erpressen, fürchtete dann jedenfalls die Konsequenzen, unterschlug eine beträchtliche Summe im Büro und ging nach Frankreich. David folgte ihm und erschoß ihn in Montpellier. Der Teil dieser Geschichte ist Ihnen ja sehr gut bekannt«, lächelte er gutgelaunt. »Flimmer Fred war zufällig Zeuge dieses Vorganges, und lebte dann Jahre hindurch auf meine Kosten herrlich und in Freuden, das heißt, aber auch nur, weil er vorsichtig genug war, niemals eine Einladung zum Diner in meinem Hause anzunehmen«, fügte er mit feinem Lächeln hinzu.

 

»Und jetzt komme ich zu der Stuart-Sache. David, der eine große Anzahl Recherchen auf eigene Faust führte, war, wie Sie wissen, von der Bildfläche verschwunden, als er von Flimmer Fred erkannt worden war. Wir hatten ihm ein wunderbares Begräbnis bereitet und –«. Er zögerte.

 

»Und der Körper im Sarge war Lews Bruder«, unterbrach Larry ruhig.

 

»Ganz richtig«, gab der Doktor zu. »Er war ein etwas unbequemer Mensch und – er mußte eben gehen! Die ganze Sache war in der Zwischenzeit sehr vereinfacht worden«, erklärte er. »Mein Bruder hatte unser wundervolles Haus gebaut, und die Todeskammer mit ihrem Wasser, der Pumpe, den Ventilatoren war eine Schöpfung des Genies meines Bruders. Ich hatte den Gedanken, Todds Heim aufzukaufen, und merkwürdigerweise hatte ich den Ankauf abgeschlossen, bevor es sich als notwendig erwies, daß mein lieber David verschwinden mußte. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatte Mr. Grogan Ihnen nicht erzählt, daß wir ihn mit allen Mitteln, die in unserer Macht standen, zu bewegen versuchten, einer Einladung zu dem Macready-Theater Folge zu leisten, um sich eines der Dramen meines Bruders anzusehen. Er rettete sich selbst, nicht weil er übermenschlich geschickt war, sondern weil er die gerissene Verschlagenheit der Ratte hatte, die um die Falle herumläuft, sehr gut weiß, daß es eine Falle ist, aber nicht ausfindig machen kann, wie sie arbeitet.

 

»Ich komme jetzt zu dem Stuart-Fall zurück«, sagte er. »Wir hatten unseren Plan reiflich überlegt, als Stuart in die Loge kam, aber wir hatten natürlich nicht daran gedacht, irgendwie Gewalt gegen ihn zu brauchen, während er sich dort aufhielt. Wir dachten, es würde ganz einfach sein, ihn zu überreden, durch den Notausgang hinauszugehen und in den Wagen zu steigen, der auf der privaten. Abfahrtstraße wartete.

 

»Stuart kam, mein Bruder war natürlich nicht da, obgleich er für den Fall, daß ich seine Hilfe nötig hatte, in der Nähe war. Beiläufig gesagt, wurden die Logen B und C niemals an das Publikum abgegeben. Zu unserer Überraschung befand er sich in äußerst gehobener Stimmung und erzählte uns, daß er seine Tochter entdeckt hätte. Und jetzt wurde es uns zum erstenmal klar, daß er nicht irgendein unbedeutender Fremder, sondern ein äußerst reicher Mann war. Wir brachten ihn nach unserem Hause, er ging ganz freiwillig mit, und dort hatten mein Bruder David und ich eine kleine Besprechung, was mit ihm geschehen sollte. Wir kamen zu dem Resultat, daß wir nichts Besonderes von ihm zu erwarten hätten, wenn wir ihn leben ließen. Außerdem war es sehr notwendig, absolute Lebensnotwendigkeit, daß wir so schnell wie möglich Geld hereinbekamen. Ich hatte eine sehr große Summe Geldes ausgegeben, einige hunderttausend Pfund«, sagte er leichthin, als er sich seine zweite Zigarette ansteckte, »für Kunstschätze aller Art, und noch weitere hunderttausend für das Theater, und, wie Sie sich denken können, waren wir in die größte Verlegenheit gekommen. Wir beschlossen also, daß Stuart gehen müßte.«

 

Er zog behaglich an seiner Zigarette und blies kunstvoll einen Ring in die Luft.

 

»Das ging nicht so leicht«, sagte er kurz, »der Mann leistete Widerstand. Dabei fällt mir übrigens ein, daß ich wohl alle Berechtigung für die Annahme habe, einer der Manschettenknöpfe, der bei dem Kampf von meinem Oberhemd abgerissen wurde, ist von Ihnen gefunden worden, Mr. Holt. Wo fanden Sie den eigentlich?«

 

»In der Hand des Toten«, antwortete Larry, und Dr. Judd nickte.

 

»Ich hatte befürchtet, daß ich nicht sorgsam genug gewesen war«, sagte er. »Aber im gewissen Sinn ist dies eine Erleichterung für mich, denn ich dachte, David hätte Schuld daran – David war in solchen Fällen immer etwas nachlässig.

 

»Stuart hatte uns alles erzählt, alles über die Aufwärterin, und uns auch ihre Adresse angegeben; und in diesem Augenblick beschlossen wir, daß wir Clarissa auffinden und mit irgend jemand verheiraten müßten.« Er zuckte mit den Achseln. »Es kam mir nicht darauf an, mit wem wir sie verheirateten, wenn wir nur vor allen Dingen ihre Geburt nachweisen und dann ihr Vermögen kontrollieren konnten. Am nächsten Tag machte sich mein Bruder an die Arbeit, um die Wahrheit der Angaben Stuarts zu prüfen, fand aber, daß dies gar nicht so einfach war. Die Leiterin des Genesungsheims – Sie werden sich erinnern, daß das Heim, in dem Mrs. Stuart starb, früher eine Farm gewesen war – war verschwunden. Nicht einmal das Angebot einer Belohnung brachte irgendwelche Resultate. Wir hatten keinerlei Schwierigkeiten, um die Aufwärterin zu finden und in unsere Gewalt zu bringen. Der blinde Jake, der wirklich ein treuer Diener von uns war – und niemand bedauert seinen Tod mehr als ich selbst, aber ich war mir klar geworden, daß sein Tod notwendig war oder zum mindesten den Anschein der Notwendigkeit hatte –, der blinde Jake brachte sie weg, und von den Mitteilungen, die sie uns geben konnte, war es mir dann möglich, Clarissa Stuart mit Diana Ward zu identifizieren. Zu Ihrer persönlichen Information möchte ich noch hinzufügen, daß die Nachforschungen nicht mehr als einen halben Tag beanspruchten!«

 

»Das ist noch eine Frage, die ich Ihnen gern vorlegen möchte, Doktor«, sagte Larry ruhig. »Wer hat denn eigentlich den Unfall mit dem Fahrstuhl arrangiert?«

 

»David«, sagte der Doktor mit einem leichten Lächeln, als ob er sich in Gedanken über etwas amüsierte. »David befand sich in der obersten Etage, und es war auch David, der allerhand schwere Gegenstände nach Ihrem Kopf zu schleudern versuchte. Er traf Sie natürlich nicht, und das war recht bedauernswert. Von dort hatte er einen sehr bequemen Ausgang über das Dach hinweg nach dem nächsten Hause, und ich habe Sie niemals so sehr bewundert, wie in dem Augenblick, als Sie sich bezwangen und die Treppen der Leiter, die man so einladend unter der offenen Dachluke hatte stehen lassen, nicht hinaufgingen. Sie würden äußerst schnell wieder heruntergekommen sein«, fügte er bedeutungsvoll hinzu. »Und hiermit, meine Herren, ist meine Geschichte beendet.« Er griff nach der dritten Zigarette, denn die zweite war bis auf einen kleinen Rest verraucht.

 

»Warum haben Sie eigentlich Lew verschont?« fragte Larry. »Er war doch einer Ihrer Helfer und kannte doch alle Ihre Geheimnisse.

 

»Ich hatte mir vorgenommen, jeden zu schonen, falls mein eigenes Leben nicht dadurch in Gefahr kommen würde«, antwortete Dr. Judd. »Selbstverständlich wollte ich doch nicht alle meine guten Pläne durch den Tod irgendeines verkommenen Bettlers, der sonst ganz harmlos war, zusammenbrechen sehen. Ich habe nur getötet, wenn es nötig oder einträglich war. Der blinde Jake hatte seine eigene Vendetta, und sein Versuch, Fanny Weldon umzubringen, war eine rein private Angelegenheit, an der wir keineswegs interessiert waren.«

 

Ein Mann kam durch die Zellentür, ein kleiner untersetzter Mann, barhäuptig, und Dr. Judd nahm einen letzten tiefen Zug aus seiner Zigarette, warf sie auf den Boden, zertrat sie, bis der letzte Funke verlöscht war.

 

»Der Henker, wie ich annehme?« sagte er freundlich, drehte sich herum und legte seine Hände auf den Rücken.

 

Der untersetzte Mann fesselte ihn, und der weißgekleidete Priester, dessen Dienste Judd zurückgewiesen hatte und der auf der Außenseite der Zellentür auf ihn wartete, kam herein und schritt langsam an der Seite des Doktors auf den Gang hinaus.

 

Und so verschwand der Doktor für immer den Blicken Larrys, der zurückblieb. Zum letztenmal sah er seine breiten Schultern, als sie durch die schmale Tür schritten, die von der Halle des Gefängnisses nach dem Hofe führte, und er wartete mit einem unaussprechlichen und merkwürdigen Gefühl tiefster Traurigkeit.

 

Eine Minute verging, und dann vernahm er ein Krachen, das seinen Ohren wie Donner erschien und ihn zusammenfahren ließ. Es war das Geräusch der sich öffnenden Falltür, die zum Tode führte. Dr. Judd war mit seinem Bruder vereint!

 

*

 

Ende

 

Kapitel 5

 

5

 

Wenige Minuten später ging Larry in Gedanken versunken Bloomsbury Pavement entlang. Was hatte Fred in Judds Büro zu tun? Was bedeutete sein Revolver und das schneeweiße Gesicht des Doktors? Hier lag ein anderes, kleines Rätsel vor, aber Larry hatte weder Zeit noch Lust, sich damit zu befassen. Vor ihm ging ein Mann langsam und bedächtig seines Weges, die eiserne Zwinge seines Stockes tappte regelmäßig auf das Pflaster: ein Blinder. Larry ging an ihm vorbei und sah ihn noch einmal, während er auf ein leeres Taxi wartete.

 

Er stieg in ein Taxi und fuhr nach der Leichenhalle von Westminster, wo zwei Beamte von Scotland Yard ihn erwarteten.

 

Die Untersuchung des Leichnams war schnell erledigt; außer einer Abschürfung am linken Knöchel waren keinerlei auffallende Merkmale zu sehen. Dann untersuchte Larry die Garderobe des Toten, die im Nebenzimmer aufbewahrt war.

 

»Da ist das Hemd, Sir«, sagte der Beamte und zeigte auf das zusammengewickelte Wäschestück. »Ich kann mir die blauen Flecken auf der Brust nicht erklären.«

 

Larry faltete das Hemd dicht unter der Lampe auseinander. Ein Frackhemd, kaum getrocknet. Auf der Brust waren deutlich sichtbare, blaurote Flecken.

 

»Tintenstiftflecken«, sagte Larry, dem im gleichen Augenblick der verschwundene Bleistift einfiel. Was sollten aber diese drei unregelmäßigen Reihen von Krähenfüßen und Haken bedeuten?

 

Und plötzlich fand er die Erklärung. Er drehte schnell das Hemd herum und stieß einen erstaunten Schrei aus. Auf der Innenseite des Hemdes waren drei Zeilen geschrieben, mit Tintenstift. Die Schriftzeichen waren durch den Stoff hindurchgedrungen und hatten die eigenartigen Flecken auf der Hemdfront verursacht.

 

Die blauroten Worte waren etwas auseinandergelaufen, aber man konnte noch deutlich lesen:

 

»Mit dem Tod vor Augen vermache ich, Gordon Stuart aus Calgary, Merryhill Ranch, mein ganzes Vermögen meiner Tochter Clarissa und bitte die Gerichte, dies als meinen letzten Willen und Testament anerkennen zu wollen. Gordon Stuart.«

 

Darunter eine beinahe unleserliche, plötzlich abgebrochene Zeile, deren erstes Wort mit einem »O« zu beginnen schien:

 

»O … hat mich … ein … Falle gelock …«

 

Larry blickte seinen Untergebenen an.

 

»Das ist das merkwürdigste Testament, das je gemacht worden ist«, sagte er leise.

 

Er ging nach der Leichenkammer zurück und untersuchte den Toten noch einmal. Eine seiner Hände war zusammengekrampft, ein Umstand, der augenscheinlich von den Ärzten übersehen worden war. Mit großer Mühe brach er die Finger auseinander, und mit leisem Klingen fiel etwas auf den Steinfußboden. Er bückte sich und nahm es auf: ein zerbrochener Manschettenknopf von ganz eigenartigem Muster. Auf schwarzem Emaillegrund ein Kranz kleiner Diamanten. Er suchte noch einmal mit größter Sorgfalt, ohne aber irgend etwas Neues finden zu können.

 

Mit gerunzelter Sarin blickte er den Beamten an. Was sollte das bedeuten? Welche Verbindung hatten all die Einzelheiten miteinander? Ein Zusammenhang bestand zwischen diesen – dessen war er ganz sicher –; das merkwürdige Zusammentreffen zwischen Dr. Judd und Flimmer Fred, das Testament auf dem Oberhemd und jetzt noch dieser neue Fund: der Manschettenknopf.

 

Tausend unsichtbare Stimmen zischten und wisperten um ihn herum:

 

Mord! Mord!

 

Kapitel 4

 

4

 

Flimmer Fred hatte den Bahnhof als erster und in großer Eile verlassen, aber außerhalb der Station gewartet, bis er Larrys Taxe vorbeifahren sah.

 

Er hatte den lebhaften Wunsch, daß gerade an diesem Abend niemand ihm nachspürte, und außerdem einen tiefen Respekt vor dem Scharfsinn und der Überlegung Larry Holt’s. Fred hatte mehr als jeder andere Veranlassung, vor ihm auf der Hut zu sein.

 

Nach Larrys Abfahrt wartete er noch zehn Minuten, verließ die Station durch einen der Nebenausgänge und stieg in das erste der dort stationierten Taxis. Einige zehn Minuten später war er auf einem der ruhigen Plätze in Bloomsbury angelangt, an dem sich hauptsächlich Anwaltsbüros befinden. Das Haus, vor dem er ausstieg, war ein schmales, hohes Gebäude aus roten Ziegelsteinen. Der Portier sah ihn etwas mißmutig an.

 

»Das Büro ist schon seit mehreren Stunden geschlossen, Sir«, sagte er kopfschüttelnd. »Wird erst morgen früh neun Uhr geöffnet.«

 

»Ist Dr. Judd noch da?« fragte Flimmer Fred und schob seine Zigarre von einem Mundwinkel in den anderen.

 

»Mr. Judd arbeitet noch, und ich glaube nicht, daß er gestört werden möchte.«

 

»Glauben Sie das wirklich?« sagte Fred höhnisch. »Fahren Sie mal ‚rauf und sagen Sie dem Herrn, daß Mr. Walter Smith ihn sprechen möchte. Aber vergessen Sie bloß den Namen nicht – er ist ein bißchen ungewöhnlich.«

 

Der Fahrstuhlführer blickte zweifelnd auf den Besucher.

 

»Ich werde mir bloß Unannehmlichkeiten bereiten«, brummte er, als er in einen der beiden kleinen Fahrstühle trat und schnell nach oben entschwand.

 

Nach wenigen Minuten kam der Portier herabgefahren.

 

»Er will Sie empfangen, Sir«, sagte er.

 

»Sie sollten mich so nach und nach kennengelernt haben, Sergeant«, sagte Fred, als er in den Fahrstuhl trat. »In den letzten Jahren bin ich ziemlich regelmäßig hierhergekommen.«

 

»Ich hatte vielleicht gerade keinen Dienst«, entgegnete der Mann, während der Fahrstuhl langsam nach oben stieg. »Wir sind nämlich zwei Mann hier. Waren Sie vielleicht ein Freund von Mr. David, Sir?«

 

Fred verzog keine Miene.

 

»Nein«, sagte er leichthin, »ich habe Mr. David nicht gekannt.

 

»Ja, das war eine traurige Geschichte. Denken Sie sich, er ist ganz plötzlich vor vier Jahren gestorben.«

 

Fred wußte dies sehr gut, hielt es aber für besser, es für sich zu behalten. Der Tod Mr. Davids hatte ihm beinahe eine Einkommensquelle, »eine rechtmäßige«, wie er es nannte, geraubt, während dies Einkommen ihm jetzt nur noch als »Gunst« zufloß. Er konnte es jeden Augenblick verlieren, falls der joviale Mr. Judd einmal seine Geduld verlor und sich nichts mehr erpressen lassen wollte.

 

Der Fahrstuhl hielt an, und er folgte dem Portier zu einer Tür, an die dieser anklopfte. Eine laute Stimme forderte sie auf einzutreten, und Flimmer Fred stolzierte in das elegant eingerichtete Büro. Mit einem kühlen Kopfnicken begrüßte er den Inhaber der Wohnung.

 

Dr. Judd war aufgestanden, um ihn zu begrüßen.

 

»Danke bestens, Sergeant«, sagte er und warf ihm eine Silbermünze quer durch das Zimmer zu, die der Mann geschickt auffing.

 

»Holen Sie mir bitte ein paar Zigaretten!« Als sich die Tür geschlossen hatte, sagte Dr. Judd gutgelaunt: »Nehmen Sie Platz, Sie Gauner, Sie wollen sich wohl Ihr Pfund Fleisch abholen?«

 

Er war ein großer, starker und kräftig gebauter Mann mit einem blühenden Gesicht. Seine Stirn war sehr hoch und seine tiefliegenden Augen lagen weit auseinander. Trotz seines etwas lärmenden, guten Humors verbreitete er ein Gefühl des Behagens um sich. Fred war in keiner Weise verletzt und setzte sich auf die Ecke eines Stuhls.

 

»Na, Doktor«, sagte er, »da bin ich wieder.«

 

Dr. Judd nickte und suchte in seinen Taschen nach einer Zigarette.

 

»«Was suchen Sie – Zigarette?« fragte Fred und holte sein Etui hervor, aber der Doktor schüttelte den Kopf mit einem bezeichnenden Lächeln.

 

»Danke bestens, Mr. Grogan«, kicherte er. »Ich rauche nie Zigaretten, die mir von Herren Ihres Berufes angeboten werden.«

 

»Was heißt das, ›mein Beruf‹?« knurrte Flimmer Fred. »Denken Sie etwa, ich will Sie betäuben?«

 

»Ich habe Sie erwartet«, sagte der andere, ohne auf die Frage zu antworten, und setzte sich. »Wenn ich mich recht erinnere, haben Sie eine außerordentlich starke Abneigung gegen Schecks.«

 

»Stimmt, Doktor«, grinste Fred. »Das ist immer noch meine Schwäche.«

 

Dr. Judd ging nach dem Geldschrank und sagte, über die Schulter blickend:

 

»Sie brauchen nicht zu genau aufzupassen, alter Freund; ich bewahre nie Geld in meinem Schrank auf, ausgenommen, ich habe Zahlungen an Erpresser zu leisten.«

 

»Scharfe Worte haben noch nie jemand umgebracht«, zitierte Fred salbungsvoll.

 

Der Doktor nahm ein Paket heraus und blätterte dann in einem kleinen Notizbuch, das er aus dem Schubfach genommen hatte.

 

»Sie sind drei Tage zu früh gekommen«, bemerkte er, und Fred nickte bewunderungsvoll.

 

»Haben Sie aber einen Kopf für Zahlen, Doktor! Einfach großartig! ’s stimmt, ich bin drei Tage früher gekommen, weil ich sehr schnell wieder abreisen muß, um einen Freund in Nizza zu treffen.«

 

Der Doktor warf ihm das Paket über den Tisch hinweg zu.

 

»Es sind zwölfhundert Pfund in dem Kuvert; Sie brauchen es nicht nachzuzählen, es stimmt ganz genau«, sagte Dr. Judd und sah dem anderen gerade und nachdenklich in die Augen. »Ich bin selbstverständlich der größte Narr in der Welt«, fuhr er fort, »denn sonst würde ich niemals eine solch schändliche Erpressung ertragen. Ich tue es ja nur, um das Andenken an meinen Bruder von jeder Verleumdung freizuhalten.«

 

»Wenn Ihr Bruder sich damit amüsiert, Menschen in Montpellier niederzuschießen, und wenn ich zufällig dazukomme«, entgegnete Flimmer Fred, »und helfe ihm, zu entwischen – und ich kann beweisen, daß ich das getan habe –, dann denke ich, daß ich Anspruch auf eine kleine Entschädigung haben kann.«

 

»Sie sind ein unglaublicher Schuft«, sagte der andere in seiner freundlichen Manier und lächelte. »Und Sie amüsieren mich auch. Nehmen Sie mal an, daß ich anders wäre, wie ich wirklich bin! Nehmen Sie mal an, ich wäre verzweifelt und könnte das Geld nicht auftreiben! Was dann? – Ich könnte Sie …«

 

»Das würde für mich keinen Unterschied machen«, versetzte Fred, »aber für Sie auch nicht. Ich habe den ganzen Vorfall niedergeschrieben, die Schießerei, wie ich dem Mann half, zu fliehen, wie ich nach London zurückkam und ihn dort als Mr. David Judd wiedererkannte – mein Rechtsverdreher hat die ganze Geschichte in Händen.«

 

»Ihr Anwalt?«

 

»Selbstverständlich mein Anwalt«, nickte Fred. Er beugte sich über den Tisch. »Wissen Sie, ich habe zuerst überhaupt nicht geglaubt, daß Ihr Bruder gestorben war. Ich dachte, die ganze Sache wäre bloß ein Schwindel, um mich übers Ohr zu hauen, und ich hätte es auch nicht geglaubt, wenn ich es nicht in den Zeitungen gelesen hätte und nicht selbst beim Begräbnis gewesen wäre.«

 

»Daß ein Mensch wie Sie einen Namen wie den seinen mit Schmutz bewerfen durfte!« sagte Judd und stand auf. All seine gute Laune war aus seiner Stimme verschwunden, und er zitterte vor leidenschaftlicher Empörung.

 

Er ging um den Tisch herum und blickte finster auf Flimmer Fred herab, und Fred, der an solche Szenen gewöhnt war, lächelte nur.

 

»Er war der beste Mensch, der je gelebt hat, der geschickteste, der wundervollste Mann«, sagte Dr. Judd mit schneeweißem Gesicht. »Und durch einen Menschen wie Sie –« Seine Hand schoß nieder, und bevor Fred wußte, was vorging, hatte er ihn am Kragen gepackt und emporgerissen.

 

»Was fällt Ihnen denn ein?« schrie Fred und versuchte, sich loszureißen.

 

»Das Geld macht mir nichts aus«, stieß Judd hervor. »Das läßt mich kalt. Aber das Bewußtsein, daß Sie – Sie – es in Ihrer Macht haben, einen Mann mit Kot zu bewerfen, einen Mann …« Seine Stimme brach, und die andere Hand fuhr in die Höhe.

 

Fred warf sich mit aller Macht zurück und entriß sich den Händen seines Gegners. Plötzlich, wie herbeigezaubert, war in seiner Hand ein Revolver.

 

»Hände hoch und keine Bewegung! Verdammt noch mal!«

 

Und dann fragte eine Stimme sanft und liebenswürdig:

 

»Kann ich hier irgendwie behilflich sein?«

 

Fred fuhr herum. Freundlich lächelnd stand Larry Holt auf der Türschwelle.

 

Flimmer Fred starrte den Eindringling verblüfft an.

 

»Na, Sie haben aber keine Zeit verloren?« Die Worte wurden beinahe unbewußt hervorgestoßen, und Larry lachte leise.

 

Dr. Judd war wieder Herr über sich selbst geworden und sagte leichthin:

 

»Unser Freund Grogan ist Ihnen doch bekannt? Er ist Mitglied unseres dramatischen Theatervereins, und wir haben gerade eine Szene aus den Korsischen Brüdern geprobt. Ich glaube, das sah ganz echt aus.«

 

»Ich dachte, es war aus Julius Cäsar«, sagte Larry trocken. »Wissen Sie, die Szene zwischen Cassius und Brutus. Die Revolverschießerei war mir allerdings aus dem Gedächtnis entschwunden.«

 

Der Doktor blickte von Flimmer Fred zu Larry.

 

»Mit wem habe ich eigentlich das Vergnügen?« fragte er. Seine Stimme hatte ihren gutmütigen Klang zurückgefunden.

 

»Ich bin Inspektor Larry Holt von Scotland Yard«, stellte Larry sich vor. »Aber nun ernsthaft gesprochen! Erheben Sie irgendeine Anklage gegen diesen Mann?«

 

»Nein, nein«, sagte Judd lachend. »Nein, wirklich, das war weiter nichts als eine harmlose Dummheit.«

 

Larrys Blick wanderte überlegend von dem einen Mann zum anderen.

 

»Ich nehme an, Sie kennen diesen Mann?«

 

»Ich habe ihn schon verschiedene Male getroffen«, antwortete Judd ruhig.

 

»Sie wissen natürlich auch, daß er ein Verbrecher ist, unter dem Namen ›Flimmer Fred‹ bekannt ist und schon mehrere Jahre hier und in Frankreich im Gefängnis gesessen hat?«

 

Der Doktor blieb einige Augenblicke schweigsam.

 

»Das habe ich mir auch gedacht«, sagte er leise, »und begreiflicherweise muß Ihnen meine Verbindung mit diesem Mann sehr eigenartig vorkommen – aber ich bin leider nicht in der Lage, eine Erklärung geben zu können.«

 

Larry nickte. Flimmer Fred schwebte in tödlicher Angst, daß Dr. Judd sich Larry offenbaren und ihm die Veranlassung seines Besuches mitteilen würde. Aber jede derartige Absicht lag Dr. Judd fern.

 

»Sie können jetzt gehen!« sagte er kurz. Flimmer Fred steckte sich mit zitternden Händen eine Zigarre an.

 

»Sie müssen sich ›Nervin für die Nerven‹ kaufen«, sagte Larry, der ihn beobachtet hatte. »Ein Drogist an der Ecke hatte noch auf, als ich hierherkam.«

 

Mit einem kläglichen Versuch, vollkommene Gleichgültigkeit zur Schau zu tragen, stolzierte Fred hinaus.

 

»Es tut mir sehr leid, daß ich gerade in einem so unpassenden Augenblick kommen mußte«, wandte sich Larry dem Doktor zu. »Ich glaube kaum, daß Sie irgendwie in Gefahr waren. Freds dramatische Effekte liegen nur im Drohen, aber er schießt nicht.«

 

»Das glaube ich auch nicht«, lachte Judd. »Nehmen Sie Platz, Mr. Holt! Nun«, fuhr er fort, indem er sich eine Zigarette ansteckte, »was führt Sie zu mir? – Ich nehme an, wieder der Fall Stuart. Ich habe heute schon einen Ihrer Beamten hiergehabt.«

 

»Es handelt sich allerdings um den Fall Stuart«, nickte Larry zustimmend. »Ich habe gerade den Fall übernommen und die Untersuchung der diversen – Fundgegenstände abgebrochen, um Sie noch sprechen zu können, bevor Sie weggingen.«

 

»Mir ist sehr wenig bekannt«, antwortete der Doktor, behaglich rauchend. »Vorgestern abend ging Stuart mit mir ins Theater. Er war ein eigenartiger, sehr ruhiger und vor allen Dingen außerordentlich reservierter Mann, dessen Bekanntschaft ich ganz zufällig gemacht habe. Mein Wagen stieß mit seinem Taxi zusammen, und ich kam mit einer ganz unbedeutenden Verletzung davon. Er erkundigte sich dann nach meinem Befinden, und so begann unsere Freundschaft – wenn man überhaupt von Freundschaft sprechen kann.«

 

»Erzählen Sie mir bitte die Einzelheiten über diesen Abend!« bat Larry.

 

Der Doktor blickte zur Decke des Zimmers hinauf:

 

»Lassen Sie mich mal überlegen. Ich kann Ihnen die Zeit mit ziemlicher Genauigkeit mitteilen, ich bin ein wenig pedantisch veranlagt. Wir trafen uns am Theatereingang um dreiviertel acht und gingen dann sofort in die Loge A, die letzte auf der linken Seite. Die Logen liegen auf dem Straßenniveau, während sich Parkett und Stehplätze unterhalb des Niveaus befinden. Kurz vor Schluß des zweiten Aktes stand er mit einer kurzen Entschuldigung auf und verließ die Loge. Seit dem Augenblick habe ich Stuart nicht wieder gesehen.«

 

»Hat ihn denn niemand von den Logenschließern bemerkt?«

 

»Nein, aber das ist schließlich leicht zu erklären. Sie wissen ja, daß es eine Erstaufführung war. Die Angestellten wollen natürlich das Stück auch sehen und stehen dann in den verschiedenen Saaleingängen, anstatt sich um ihre Arbeit zu kümmern.«

 

»War es Ihnen bekannt, daß Stuart so reich, beinahe ein halber Millionär, war?«

 

»Ich hatte davon keine Ahnung«, erwiderte der Doktor. »Mit Ausnahme, daß er von Kanada kam, wußte ich überhaupt nichts über ihn.«

 

»Ich hatte die Hoffnung, von Ihnen eine ganze Menge Aufklärungen erhalten zu können«, sagte Larry enttäuscht. »Niemand anders scheint mit Stuart bekannt gewesen zu sein, und begreiflicherweise dachte ich, er hätte Ihnen etwas mehr Vertrauen geschenkt.«

 

»Weder ich noch sein Bankier wußten etwas über ihn. Erst heute morgen erfuhr ich von dem Direktor der London & Chatham-Bank, daß er ihr Kunde war. Das einzige, was wir wußten, war, daß er sehr vermögend war.«