1

 

Larry Holt saß vor dem Café de la Paix und beobachtete aufmerksam den Menschenstrom, der den ›Boulevard des Italiens‹ in beiden Richtungen entlangströmte. Der Hauch des Frühlings hing in der Luft, und ein goldener Sonnenschein ließ die Farben der Zeitungskioske in leuchtenden Schattierungen hervortreten und verlieh sogar den schreienden Reklamen einen gewissen künstlerischen Wert. Dies Treiben und Hasten, all diese Menschen entzückten Larry Holt, der nach vier Jahren harter Arbeit in Frankreich und Deutschland von Berlin hier eingetroffen war, und er fühlte ein richtiges Feriengefühl in sich, ein Feriengefühl, das sogar ein vielbeschäftigter Detektiv empfinden kann.

 

Die Stellung, die Larry Holt bekleidete, war den Beamten von Scotland Yard ein Rätsel. Er hatte den Rang eines Inspektors, seine Tätigkeit war die eines Kommissars, und allgemein wurde angenommen, daß er für den ersten freien Posten eines assistierenden Kommissars vorgemerkt war. Aber in diesem Augenblick lagen all diese Fragen von Rang und Beförderung für Larry in weiter Ferne. Behaglich saß er auf seinem Stuhl und trank mit jedem Atemzug den süßen Odem des Frühlings; die reine Freude am Leben sprach sich in seinen hübschen Gesichtszügen aus, und in seinem Herzen war ein Gefühl der Erleichterung, der Ruhe, das er für Monate und Jahre nicht gefühlt hatte.

 

Larry bezahlte seinen Kaffee, stand auf und ging gemächlich um die Ecke nach seinem Hotel. Behaglich ging der schlanke, große Mann seines Weges, die Hände in den Taschen, während seine weißen Zähne eine lange, schwarze Zigarettenspitze festhielten.

 

Er trat in die überfüllte Vorhalle seines Hotels und ging auf den Fahrstuhl zu, als er durch die große Glastür, die nach dem Wintergarten führte, dort einen eleganten Herrn bemerkte, der bequem in einem großen Klubsessel saß und bedächtig seine Zigarre rauchte.

 

Larry grinste und zögerte einen Augenblick. Dieser Mann mit den scharfen Gesichtszügen, der so wunderbar elegant angezogen war, an dessen Fingern und Krawatte Brillanten blitzten, war ihm bekannt. In einem Anfall mutwilliger Bosheit ging er durch die Glastür auf den behaglich Sitzenden zu.

 

»Ist es wirklich mein alter Freund Fred?« sagte er leise.

 

»Flimmer Fred«, internationaler Hochstapler und Falschspieler, sprang mit einem Satz auf die Füße und unverkennbare Bestürzung zeigte sich beim Anblick dieser unerwarteten Erscheinung auf seinen Zügen.

 

»Hallo, Mr. Holt!« stammelte er. »Sie sind wirklich die letzte Person in der ganzen Welt, die ich erwartet hätte, hier zu finden –«

 

»Oder gewünscht hätte, hier zu finden«, unterbrach ihn Larry mit einem vorwurfsvollen Kopfschütteln. »Was für ein Glanz! Donnerwetter, Fred, Sie sind ja ausgeputzt wie ein Weihnachtsbaum.«

 

Flimmer Fred griente unbehaglich, gab sich aber große Mühe, vollkommene Gleichgültigkeit zu zeigen.

 

»Das alte Leben ist jetzt für mich abgetan, Mr. Holt«, sagte er.

 

»Sie sind ein Schwindler und werden immer ein Schwindler bleiben«, erwiderte Larry ruhig.

 

»Auf die Bibel schwöre ich Ihnen –« begann Fred nachdrücklich.

 

»Fred, Fred«, fiel Larry ohne eine Spur von Ärger ein, »wenn Sie zwischen Ihrer toten Tante und Ihrem sterbenden Onkel stehen und einen Eid auf die Bibel schwören, ich würde Ihnen doch nicht glauben.«

 

Mit Bewunderung betrachtete er sich Freds Äußeres, die große Brillantnadel in seiner Krawatte, die dreifache, goldene Kette über seiner hocheleganten Weste, die blendend weißen Gamaschen über den glänzenden Lackschuhen, das tadellos gebürstete Haar.

 

»Sie sehen süß aus, wirklich süß! Was für eine neue Sache haben Sie jetzt vor? – Ich nehme natürlich nicht an«, unterbrach er sich selbst, »Sie werden’s mir erzählen, aber ziemlich aussichtsreich muß es doch sein, Fred.«

 

Der Mann fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen.

 

»Ich bin jetzt im Geschäft«, sagte er.

 

»In wessen Geschäft denn?« fragte Larry mit Interesse. »Und wie sind Sie denn da ‚reingekommen? Mit ’nem Brecheisen oder war’s eine Dynamitpatrone? Das wäre ja ein ganz neuer Beruf für Sie, Fred. Bis jetzt haben Sie sich doch ausschließlich darauf beschränkt, unerfahrene Jugend um ihr Geld zu bringen und«, fügte er bedeutungsvoll hinzu, »die Taschen von gerade Gestorbenen zu erleichtern.«

 

Freds Gesicht rötete sich.

 

»Sie glauben doch nicht, daß ich irgend was mit dem Morde in Montpellier zu tun hatte?« protestierte er hitzig.

 

»Ich glaube ja nicht, daß Sie den bedauernswerten, jungen Mann erschossen haben«, gab Larry zu, »aber Sie sind sicherlich beobachtet worden, wie Sie sich über den Körper beugten und seine Taschen durchsuchten.«

 

»Ich wollte doch bloß sehen, wer es war«, entgegnete Fred tugendhaft, »und ‚rausfinden, wer ihn getötet hatte.«

 

»Sie sind gleichfalls gesehen worden, wie Sie mit dem Täter sprachen. Eine alte Dame, eine gewisse Madame Prideaux, sah von ihrem Schlafzimmerfenster aus, wie Sie den Mann festhielten und dann gehen ließen. Ich nehme an, er hat ›geschmiert‹.«

 

»Das ist nun schon zwei Jahre her, Mr. Holt«, sagte Fred, »und ich begreife nicht, warum Sie diesen alten Kohl noch aufwärmen. Der Untersuchungsrichter hat mich in jeder Beziehung freigesprochen.«

 

Larry lachte und klopfte ihn auf die Schulter.

 

»Wie das auch sein mag, ich bin auf jeden Fall jetzt nicht im Dienst, Fred. Ich gehe auf eine Erholungs- und Vergnügungsreise.«

 

»Sie fahren also nicht nach London?« fragte der Mann schnell.

 

»Nein«, antwortete Larry und hatte die Empfindung, daß der andere erleichtert aufatmete.

 

»Ich fahre heute nach London und hoffte, wir würden vielleicht zusammen reisen können.«

 

»Es tut mir unendlich leid«, erwiderte Larry, »Ihre Hoffnungen enttäuschen zu müssen, aber ich reise in entgegengesetzter Richtung. Auf Wiedersehen.«

 

»Viel Vergnügen!« sagte Fred und blickte mit einem Gesicht hinter ihm her, dessen Ausdruck keineswegs mit seinen Worten übereinstimmte.

 

Larry ging auf sein Zimmer und fand seinen Diener mit dem Reinigen und Ordnen seiner Garderobe beschäftigt. Patrick Sunny, den er nun schon zwei Jahre hindurch als Diener ertragen hatte, war ein ernsthafter, junger Mann mit Glotzaugen und einem runden Gesicht.

 

»Sunny«, sagte er, »Sie brauchen meine Anzüge nicht weiter zu beschädigen. Packen Sie sie ein.«

 

»Ja, Sir«, entgegnete Sunny.

 

»Ich reise mit dem Nachtzug nach Monte Carlo.«

 

»Ja, Sir«, sagte Sunny, der genau dasselbe gesagt hätte, wenn Larry die Absicht ausgesprochen hätte, nach der Sahara oder dem Nordpol abzureisen.

 

»Nach Monte Carlo, Sunny!« rief Larry vergnügt. »Auf sechs freie, vergnügte und kostspielige Wochen. – Fangen Sie sofort mit dem Packen an.«

 

Er nahm den Telephonhörer vom Schreibtisch auf und rief das Reisebüro an.

 

»Reservieren Sie mir einen Schlafwagen und ein Erster für heute nacht nach Monte Carlo«, sagte er. »Monte Carlo«, wiederholte er lauter. »Nein, nicht nach Calais. Ich habe nicht die geringste Absicht, nach Calais zu fahren – danke bestens.« Er hing den Hörer auf, nahm eine frühe Abendausgabe und überflog die Spalten. Verschiedene Einzelheiten erinnerten ihn an seinen Beruf und dessen Anforderungen. Ein großer Bankeinbruch in Lyon, bewaffnete Räuber hatten in Belgien einen Postwagen aufgehalten, und dann ein Artikel:

 

»Der Mann, den man auf den Stufen des Themse Embankment auffand, ist als ein Mr. Gordon Stuart, ein reicher Kanadier, identifiziert worden. Man nimmt an, daß es sich um einen Selbstmord handelt. Mr. Stuart hatte den Abend mit einigen Freunden im Theater verbracht, verschwand im Zwischenakt und wurde nicht wieder gesehen, bis sein Leichnam gefunden wurde. Die amtliche Totenschau findet in den nächsten Tagen statt.«

 

Er las den Artikel zweimal durch und runzelte die Stirn.

 

»Gewöhnlich geht man eigentlich nicht während der Pause aus dem Theater und begeht Selbstmord – oder das Stück müßte ausnehmend schlecht gewesen sein«, sagte er, und der gehorsame Sunny antwortete:

 

»Nein, Sir.«

 

Er warf die Zeitung fort.

 

Der Nachmittag war mit den Vorbereitungen für die Abreise ausgefüllt, und um halb sieben stand er im Hotelbüro, um seine Rechnung zu bezahlen – Sunny mit seinem Mantel über dem Arm, der Gepäckträger mit den Koffern hinter ihm –, als ein Page auf ihn zukam.

 

»Monsieur Holt?« fragte er.

 

»Der bin ich«, sagte Larry und sah argwöhnisch auf den Briefumschlag in der Hand des Pagen. »Ein Telegramm? – Ich will’s nicht sehen.«

 

Trotzdem nahm er es und las mit recht gemischten Gefühlen:

 

»Sehr dringend. Spezial Polizeidienst. Alle Linien frei machen. Larry Holt, Grand Hotel, Paris. Fall Stuart sehr verwickelt stop wäre persönlich dankbar wenn Sie sofort zurückkommen und Fall übernehmen.«

 

Der Oberkommissar, der nicht nur Vorgesetzter, sondern auch ein persönlicher Freund Larrys war, hatte das Telegramm selbst unterzeichnet, und mit einem schweren Seufzer steckte Holt es in die Tasche.

 

»Wann kommen wir in Monte Carlo an, Sir?« fragte Sunny, als sein Herr auf ihn zukam.

 

»Ungefähr heute in zwölf Monaten«, antwortete er grimmig.

 

»Wirklich, Sir?« fragte Sunny mit höflichem Interesse. »Das muß ja recht weit weg sein.«