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Der Rechtsanwalt erzählte Jim, wie er hergekommen war.

 

»Ich begleitete die Polizei, weil ich den Platz genau kenne«, sagte Mr. Salter. »Sie sehen ganz verstört aus, mein Freund. Können Sie sich nicht etwas hinlegen und schlafen?«

 

»Ich darf nicht schlafen, bevor ich nicht meine Hand auf Digby Groat gelegt habe. Was haben Sie in der Zeitung gelesen? Erzählen Sie! Woher wußte man, daß es Villa war?«

 

Salter teilte ihm mit, daß man die Quittung in Villas Tasche gefunden hatte.

 

»Es scheint so, daß er auf Groats Veranlassung die Jacht des Brasilianers Maxilla kaufte. Es ist der ›Pealigo‹ –«

 

»Dann ist er zu dem Schiff geflogen! Wo liegt die Jacht?«

 

»Das habe ich auch herausbringen wollen, aber niemand weiß es. Sie hat Le Havre vor ein paar Tagen verlassen, und es ist unbekannt, mit welcher Bestimmung sie abgefahren ist. Sicherlich hat sie einen britischen Hafen angelaufen. Lloyds erhalten doch Nachricht von jedem Schiff, ganz gleich, ob es eine Jacht, ein Passagier- oder ein Frachtdampfer ist. Alle Hafenbehörden benachrichtigen Lloyds sofort.«

 

»Sicher ist er zu der Jacht geflogen«, wiederholte Jim.

 

»Dann muß sie irgendwo in einem Hafen liegen«, meinte der alte Salter. »Wir können ja eine Radiomeldung durchgeben –«

 

Jim unterbrach ihn kopfschüttelnd.

 

»Bronson wird auf dem Wasser niedergehen und die Maschine versenken. Das ist eine sehr einfache Sache. Es ist keinerlei Gefahr damit verbunden, wenn die Insassen mit Schwimmwesten versehen und nicht festgeschnallt sind. Es ist entsetzlich, daß Sie nicht eher gekommen sind.« Er ging unruhig auf und ab. »Würden Sie etwas dagegen haben, wenn ich mich kurze Zeit zurückziehe? Ich muß allein sein, um nachzudenken.«

 

In der Tür drehte sich Jim noch einmal um.

 

»Um keine Zeit zu verlieren, Mr. Salter, haben Sie irgendwelchen Einfluß bei der Admiralität? Ich möchte, daß Sie ein Wasserflugzeug für mich leihen.«

 

Der Rechtsanwalt schaute nachdenklich drein. »Das kann ich schon in Ordnung bringen. Ich werde mich sofort telefonisch mit dem Ersten Lord der Admiralität in Verbindung setzen.«

 

Während der Rechtsanwalt telefonierte, aß Jim eilig etwas. Die Anstrengungen der letzten vierundzwanzig Stunden hatten ihn mitgenommen. Die Gewißheit, daß Digby Groat vor Gericht gestellt würde, beruhigte ihn nicht. Wenn nur Eunice gerettet worden wäre, hätte er sich damit zufrieden gegeben, daß Digby entkam. Er würde nicht die Hand erhoben haben, um ihn anzuhalten. Aber Eunice war in den Händen dieses gemeinen Menschen, und dieser Gedanke war ihm unerträglich.

 

Der Polizeisergeant lud ihn ein, zu dem verhafteten Masters mitzukommen. Er fand den sonst so harten Mann in elender Verfassung.

 

»Ich wußte, daß er mich noch hineinziehen würde«, jammerte Masters. »Und dabei habe ich eine Frau und drei Kinder! Ich habe mir früher nie etwas zuschulden kommen lassen, nicht einmal eine Wilddieberei. Können Sie nicht ein Wort für mich einlegen, Sir?«

 

Wenn Jim nicht in dieser ernsten Lage gewesen wäre, hätte er über diese Unverschämtheit lachen können. »Ich kann nur aussagen, daß Sie den Versuch machten, mich zu strangulieren, und ich zweifle sehr, daß das eine Empfehlung für Sie sein wird.«

 

»Aber ich schwöre Ihnen bei allem, was mir heilig ist, daß ich das nicht beabsichtigte«, rief der Mann aufgeregt. »Er hat mir doch befohlen, einen Strick um Ihre Schultern zu werfen. Unglücklicherweise glitt er ab und packte Sie am Hals. Wie konnte ich denn wissen, daß die Dame nicht seine Frau war? Er sagte doch, sie sei mit Ihnen durchgebrannt.«

 

»Das hat er Ihnen erzählt?«

 

»Jawohl, Sir. Ich sagte noch zu ihm, daß die Dame keinen Trauring trage, aber er beteuerte, daß er mit ihr verheiratet sei und sie auf eine Seereise mitnehmen würde.«

 

»Auf See?«

 

Masters nickte. »Ja. Er sagte auch, daß sie nicht ganz richtig im Kopf sei und daß ihr die Seereise gut bekommen würde.«

 

Jim fragte ihn genau aus, ohne eine weitere Information aus ihm herauszubekommen. Masters wußte nichts von dem Dampfer, auf dem Digby mit Eunice abfahren wollte, auch nichts von dem Hafen, von dem aus sie an Bord zu gehen beabsichtigten.

 

»Ich glaube nicht, daß der Mann irgendwie in die Pläne Groats eingeweiht war«, sagte Jim später zu dem Sergeanten. »Er war nur ein kleiner Angestellter, und es lohnt sich kaum, eine Anklage gegen ihn zu erheben.«

 

Der Sergeant schüttelte den Kopf. »Wir müssen ihn festhalten, bis die Leichenschau vorüber ist«, sagte er düster. »Wenn ich denke, daß ich einen so großen Fall direkt vor mir hatte und trotzdem nichts gesehen habe!«

 

Jim lächelte traurig. »Das ist uns allen so gegangen, und wir waren blinder als Sie!«

 

Eine neue Spritze hatte ausgereicht, um Eunice zur Ruhe zu bringen. Sie wußte, daß Widerstand vergeblich war. Digby konnte sie leicht überwältigen und lange genug festhalten, um diese verteufelte Nadelspitze in ihren Arm zu stoßen.

 

Sie hatte sich zuerst gewehrt und geschrien, als er ihren Arm berührte. Diesen Schrei hatte Jim gehört.

 

»Ich will mit Ihnen gehen, ich verspreche, daß ich Ihnen keine Schwierigkeiten mache«, rief sie, »bitte, legen Sie dieses fürchterliche Instrument fort.«

 

Doch die Zeit drängte, und es war sicherer, sie wehrlos zu machen.

 

Der Propeller drehte sich schon langsam, als sie ihre Sitze bestiegen.

 

»Hier ist noch Platz für mich! Es muß noch Platz sein!«

 

Digby schaute in das verzerrte Gesicht des Spaniers, der hinter ihm hergelaufen war.

 

»Aber, Fuentes, es ist kein Platz für Sie! Das habe ich Ihnen doch schon vorhin gesagt. Sie müssen sehen, wie Sie fortkommen!«

 

»Ich will mit Ihnen fliehen!«

 

Zum Schrecken Digbys klammerte sich der Mann verzweifelt an den Rand der Sitze. Jeden Augenblick wurde die Gefahr, entdeckt zu werden, größer. Er griff zu seiner Pistole. »Lassen Sie los, oder ich erschieße Sie!«

 

Fuentes hatte jede Vernunft verloren und ließ nicht locker.

 

Man hörte Stimmen von der Straße her und, von einer Panik ergriffen, schoß Digby. Er sah, wie der Mann niederstürzte, und rief Bronson zu: »Los!«

 

Eunice sah entsetzt zu. Es war unheimlich, welche Veränderung mit Digby vorgegangen war. Er schien zusammengesunken und kleiner zu sein. Sein Gesicht war verzogen und verzerrt, als ob er einen Schlaganfall, erlitten hätte.

 

Sie dachte auch, daß dies der Fall sei, aber langsam erholte er sich wieder.

 

Er hatte einen Menschen getötet! Der Schrecken über seine Tat kam über ihn. Die Furcht vor den Konsequenzen überwältigte ihn und trieb ihn zu einer plötzlichen Raserei. Er hatte einen Menschen getötet! Er, der so sorgfältig alles getan hatte, um einer Bestrafung aus dem Wege zu gehen, der seine Freunde und Verbündeten in Gefahr gebracht hatte, um selbst sicher zu sein, er mußte jetzt vor dem Arm der Gerechtigkeit fliehen, die nicht ruhen würde, bis sie ihn gefaßt hatte.

 

Und sie hatte ihn gesehen, diese Frau an seiner Seite. Sie würde als Zeugin vor Gericht erscheinen und gegen ihn aussagen. Und dann würde man ihn henken – in dem kleinen Raum, von dem Jim Steele gesprochen hatte. Die Gedanken durchzuckten sein Gehirn. Aber als sich das Flugzeug vom Boden erhoben hatte, wurde er wieder ruhiger.