Kapitel 8

 

8

 

Die Geschichte von der Narbe und dem Eindruck, den sie auf Mrs. Groat gemacht hatte,, stimmte Jim nachdenklich. Er versuchte die Sache auf seine Weise zu erklären, aber Eunice lachte.

 

»Ich werde diese Stelle wieder aufgeben«, sagte sie, »aber ich muß noch so lange dort bleiben, bis alle Papiere von Mrs. Groat geordnet sind. Es sind noch ganze Stöße von Briefen und Dokumenten aller Art zu ordnen und einzutragen. Mrs. Groat hat mir das schon gesagt. Und es scheint doch auch nicht gut zu sein, wenn ich meinen Dienst verlasse, während die alte Frau so krank ist. – Ihre Vermutung, daß ich die junge Dame sein soll, die das große Vermögen erbt, ist auf keinen Fall richtig. Meine Eltern lebten in Südafrika, Jim. Sie sind viel zu romantisch, als daß Sie ein guter Detektiv sein könnten.«

 

Er leistete sich den Luxus, ein Taxi zu nehmen und sie nach Grosvenor Square zurückzubringen. An der Haustür verabschiedete er sich von ihr.

 

Während sie sich noch auf der Treppe unterhielten, öffnete sich die Tür, und Jackson begleitete einen kleinen, starken Mann mit großem, braunem Bart heraus.

 

Offenbar sah Jackson die beiden Leute nicht, er sah sie jedenfalls nicht an.

 

»Mr. Groat wird erst um sieben Uhr nach Hause zurückkommen, Mr. Villa«, sagte er laut.

 

»Sagen Sie ihm, daß ich vorgesprochen hätte«, entgegnete der andere ebenso laut und ging an Jim vorbei.

 

»Wer ist denn der Mann mit dem Bart?« fragte Jim, aber Eunice konnte ihm keine Auskunft geben.

 

Jim war mit der Erklärung über ihre Herkunft nicht zufrieden. Einer seiner Schulfreunde lebte unten in Kapstadt, und als er zu dem Büro zurückging, sandte er ihm ein langes Telegramm mit bezahlter Antwort. Er fühlte, daß er hinter einem Schatten herjagte, aber trotzdem tat er es. Dann ging er mißmutig nach Hause und war bedrückt von der Hoffnungslosigkeit der Aufgabe, die er sich gestellt hatte.

 

Am nächsten Tage erhielt er eine Nachricht von Eunice, daß sie nicht zum Tee kommen könnte. Der Tag war für ihn langweilig und verloren. Obendrein erhielt er noch die Antwort auf sein Telegramm, die alle romantischen Träume zerstörte, soweit sie Eunice Weldons Anwartschaft auf das Millionenvermögen der Dantons betrafen. Eunice May Weldon war am 12. Juni 1910 in Rondebosch geboren. Ihre Eltern waren Henry Weldon, ein Musiker, und Margaret May Weldon. Sie war in der Kirche von Rondebosch getauft worden, und ihre beiden Eltern waren tot.

 

Über die beiden Endzeilen des Telegramms war Jim erstaunt.

 

»Eine ähnliche Anfrage wegen der Eltern Eunice Weldons kam vor sechs Monaten von der Firma Selenger & Co., Brade Street Buildings.«

 

»Selenger &. Co.«, sagte Jim nachdenklich. Das war ein neues Rätsel. Wer mochte denn sonst noch Nachforschungen über das junge Mädchen anstellen? Er nahm das Telefonadreßbuch, schlug die Firma nach und fand sie auch gleich. Schnell nahm er seinen Hut, rief ein Taxi an und fuhr zur Brade Street. Nach einigem Suchen entdeckte er auch das Geschäftshaus. Es war ein mittelgroßer Häuserblock, und auf dem umfangreichen Firmen Verzeichnis am Eingang war auch die Firma Selenger & Co. vermerkt. Ihre Büros befanden sich im Erdgeschoß, Zimmer Nr. 6.

 

Der Raum war verschlossen und wurde anscheinend nicht benützt. Jim suchte den Portier unten auf.

 

»Nein, Sir«, sagte der Mann kopfschüttelnd. »Selengers haben jetzt nicht auf. Am Tag ist niemand hier, nur nachts.«

 

»Nachts?« wiederholte Jim erstaunt. »Das ist aber eine etwas ungewöhnliche Zeit, um Geschäfte zu machen.«

 

Der Portier sah ihn unliebenswürdig an.

 

»Die Leute müssen wohl selbst am besten wissen, wie sie ihre Geschäfte machen«, sagte er mit Nachdruck.

 

Es dauerte einige Zeit, bevor Jim den beleidigten Mann beruhigen konnte. Dann erfuhr er aus der Unterhaltung mit ihm, daß Selengers offenbar bevorzugte Mieter waren. Wegen einer Beschwerde dieser Firma war sein Vorgänger entlassen worden, und die Neugierde einer Reinmachefrau über die nächtliche Tätigkeit dieser Leute führte zu der sofortigen Entlassung dieser Vorwitzigen.

 

»Ich glaube, sie handeln mit ausländischen Aktien«, sagte der Portier. »Es kommen viele Auslandstelegramme hier an, aber ich habe den Inhaber des Geschäfts noch niemals gesehen. Er kommt stets durch den Seiteneingang herein.«

 

Dieser zweite Eingang zu den Büroräumen der Firma ging von einem kleinen Hof aus. Selenger & Co. war die einzige Firma in diesem Gebäude, die zwei Eingänge zu ihren Büros hatte. Und außerdem war es nur ihnen gestattet, die ganze Nacht hindurch zu arbeiten.

 

»Selbst die Bankagenten in der zweiten Etage müssen um acht Uhr schließen«, erklärte der Portier. »Und das ist sehr hart für sie, besonders wenn eine Hausse in Aktien ist. Dann haben sie gewöhnlich so viel Arbeit, daß sie bis zwölf aufhalten könnten. Aber um acht wird ganz streng geschlossen. Die Mieten sind hier nicht besonders hoch, und es ist eine große Nachfrage nach Büros in der City heutzutage. Die Zeiten werden hier strikt innegehalten; das war schon so zu Mr. Dantons Zeit.«

 

»Mr. Dantons Zeit?« fragte Jim schnell. »War er denn der Eigentümer des Gebäudes? Sie meinen doch den Schiffsreeder Danton, der ein großes Millionenvermögen besaß?«

 

Der Mann nickte.

 

»Jawohl, Sir«, sagte der Portier, der anscheinend mit der Wirkung seiner Worte sehr zufrieden war. »Aber er hat es verkauft oder sonstwie veräußert – schon vor einigen Jahren. Ich weiß es zufällig, weil ich damals als Bürobote in demselben Hause angestellt war. Ich kann mich sehr genau auf Mr. Danton besinnen – sein Büro lag in der ersten Etage; es war ganz herrlich dort.«

 

»Wer bewohnt die Räume denn jetzt?«

 

»Ein Ausländer, Levenski. Er ist aber niemals hier.«

 

Jim hielt die Nachrichten, die er erhalten hatte, für so wichtig, daß er sich aufmachte, um Mr. Salter in seiner Wohnung zu besuchen. Er erfuhr nur, daß der Rechtsanwalt nichts von diesem Geschäftshaus in der Brade Street wußte. Er konnte sich lediglich darauf besinnen, daß es eine Privatspekulation Dantons war. Es kam in seinen Besitz, als die früheren Eigentümer in Konkurs gerieten. Er hatte das Gebäude später ohne Rücksprache mit seinem Anwalt veräußert. Jim stand wieder vor einem Rätsel.

 

Kapitel 9

 

9

 

Ich kann heute nicht im Büro bleiben, ich habe verschiedene wichtige Dinge zu erledigen«, sagte Jim.

 

Mr. Salter sah auf. »Geschäfte, Steele?« fragte er höflich.

 

»Nicht nur Geschäfte.« Jim hatte den Eindruck, daß Mr. Salter wußte, um was es sich handelte.

 

»Es ist gut.« Salter setzte seine Brille wieder auf und wandte sich der Arbeit zu.

 

»Ich möchte Sie aber noch etwas fragen, Mr. Salter. Deswegen kam ich ja eigentlich hierher, sonst hätte ich Ihnen meine Abwesenheit auch telefonisch erklären können.«

 

Der Rechtsanwalt legte geduldig die Feder wieder hin.

 

»Ich verstehe nicht recht, warum dieser Mr. Groat so viele spanische Freunde hat? Da ist zum Beispiel eine junge Dame, die er sehr häufig sieht, Comtessa Manzana. Haben Sie schon von ihr gehört?«

 

»Ich lese ihren Namen gelegentlich in der Zeitung.«

 

»Es verkehren noch andere Spanier bei ihm, besonders ein gewisser Villa. Auch habe ich erfahren, daß Mr. Groat fließend spanisch spricht.«

 

»Das ist merkwürdig.« Mr. Salter lehnte sich in seinen Sessel zurück. »Sein Großvater hatte auch viele spanische Freunde. Vielleicht ist irgendwie eine spanische Verwandtschaft in der Familie. Der alte Danton, ich meine damit Jonathan Dantons Vater, verdiente den größten Teil seines Vermögens in Spanien und Zentralamerika. Die Dantons waren eigentlich eine sonderbare Familie. Sie lebten alle sehr zurückgezogen und für sich, und ich glaube, Jonathan Danton hat während seiner letzten zwanzig Jahre nur ein Dutzend Worte mit seiner Schwester gewechselt. Sie waren nicht böse miteinander, das war nur eine seiner Eigentümlichkeiten. Ich kenne auch andere Familien, in denen dergleichen vorkommt. Schweigsame Leute, aber sehr ehrenhaft.«

 

»Hat der Großvater Dantons Mrs. Groat irgendein Vermögen hinterlassen? Er hatte doch nur zwei Kinder? Einen Sohn und diese Tochter?«

 

Septimus Salter nickte.

 

»Er hat ihr keinen Pfennig vermacht. Sie lebte in Wirklichkeit von der Mildtätigkeit ihres Bruders. Ich weiß nicht, aus welchem Grunde sie der alte Mann nicht leiden mochte. Jonathan wußte ebensowenig darüber wie ich, denn der Alte sprach nie darüber. Jonathan hat sich verschiedene Male mit mir darüber unterhalten, was seine Schwester wohl getan haben mochte, daß sie sich die Abneigung ihres Vaters zuzog. Diese Abneigung, um nicht zu sagen Feindschaft, war auch der Grund, warum er seine Tochter in seinem Testament vollständig überging.

 

Vielleicht ärgerte sich der alte Mann über ihre Heirat mit Mr. Groat, denn dieser hatte keine große gesellschaftliche Stellung. Er war nur ein Angestellter in Dantons Liverpooler Büro. Er wußte sich in Gesellschaft nicht zu bewegen, hatte ein unfreundliches Wesen und stand mit seiner Frau niemals auf gutem Fuß. Die arme Lady Mary war die einzige, die immer gut zu ihm war. Seine Frau haßte ihn aus einem Grunde, den ich nicht näher kenne. Als er starb, hinterließ er sein ganzes Geld einem entfernten Vetter. Es waren ungefähr fünftausend Pfund. Der Himmel mag wissen, woher er die hatte. – Aber nun machen Sie, daß Sie fortkommen, Steele!« sagte Mr. Salter verzweifelt. »Sie bringen mich immer wieder auf diese alten Geschichten.«

 

Jim ging an diesem Morgen zuerst zum Ministerium des Innern. Er wollte das Geheimnis aufklären, das über Madge Benson lag. Weder das Polizeipräsidium noch die Zentraldirektion der Gefängnisse waren gewillt gewesen, einem Privatmann irgendwelche Auskunft zu geben, und in seiner Verzweiflung hatte er sich direkt ans Büro des Unterstaatssekretärs gewandt. Glücklicherweise hatte er dort einen Freund, einen Mann von mittlerem Alter, mit dem er während des Krieges in Frankreich war.

 

Er empfing ihn in seinem Büro mit einer Wärme, die Jim zeigte, daß er nicht vergessen war.

 

»Nehmen Sie Platz. Ich kann Ihnen leider nur wenig in dieser Angelegenheit mitteilen.« Er nahm ein Blatt Papier von seinem Schreibtisch auf. »Eigentlich dürfte ich Ihnen ja überhaupt nichts darüber sagen – aber hier ist die Auskunft, die mir die Gefängnisdirektion gesandt hat.«

 

Jim las die wenigen Zeilen, die darauf standen.

 

»Madge Benson, 26 Jahre alt, Hausmädchen. Ein Monat Gefängnis wegen Diebstahls. Verurteilt vom Polizeigericht in Marylebone. 5. Juni 1911. Überführt nach Holloway-Gefängnis. Entlassen am 2. Juli 1911.«

 

»Wegen Diebstahls?« sagte Jim nachdenklich. »Man weiß natürlich nicht, was sie gestohlen hat?«

 

Der Beamte schüttelte den Kopf.

 

»Ich würde Ihnen den Rat geben, den Gefängniswärter in Marylebone aufzusuchen. Diese Leute haben oft ein außerordentlich gutes Gedächtnis für Personen. Außerdem könnten Sie ja auch noch die Akten über ihre Verurteilung einsehen. Aber es wäre besser, wenn Sie Mr. Salter darum bitten, einen Antrag zu stellen. Einem Rechtsanwalt wird man die Auskunft nicht verwehren.«

 

Aber das war ja gerade das, was Jim nicht tun wollte.

 

Kapitel 48

 

48

 

Digby Groat wußte nichts von dem Besuch des Kapitäns und war zufrieden, daß der Wachtposten von der Kabine zurückgezogen war. Jetzt stand nichts mehr zwischen ihm und der Frau – nur noch ihre eigene Kraft und Stärke. Er liebte sie in seiner Art, so verworfen er auch sonst war. Er kam den Gang entlang und klopfte an die Tür, denn er fand einen Gefallen daran, diese gesellschaftliche Form aufrechtzuerhalten, die doch im Augenblick bedeutungslos war. Als aber keine Antwort kam, öffnete er die Tür langsam und trat ein.

 

Eunice stand am anderen Ende der Kabine. Die seidenen Vorhänge waren zurückgezogen, und die Tür zu ihrem Salon stand weit offen. Sie war vollständig angekleidet und hielt die Hände auf dem Rücken.

 

»Mein Liebling«, sagte Digby schmeichelnd und liebenswürdig, »warum ermüden Sic Ihre schönen Augen? Sie hätten sich zu Bett legen und schlafen sollen.«

 

»Was wollen Sie?«

 

»Was könnte ein Mann, der eine so schöne Frau hat, anderes wünschen, als sich mit ihr zu unterhalten und das Vergnügen ihrer Gesellschaft zu genießen?« fragte er heiter.

 

»Bleiben Sie stehen«, rief sie ihn scharf an, als er den Versuch machte, weiter vorzudringen. Ihre gebieterische Stimme veranlaßte ihn, zu gehorchen.

 

»Aber Eunice«, sagte er kopfschüttelnd. »Sie machen soviel Unannehmlichkeiten und Umstände – das ist doch in dieser Situation nur töricht von Ihnen. Sie brauchen nur vernünftig zu sein, dann gibt es nichts in der Welt, was ich Ihnen nicht geben könnte und möchte!«

 

»Sie können mir nichts geben und haben nichts zu verschenken außer dem Geld, das Sie mir gestohlen haben«, sagte sie eisig. »Warum sprechen Sie denn vom Schenken, wenn ich doch diejenige bin, der alles gehört? Sie können höchstens mein Mitleid erregen.«

 

Er starrte sie an und war verblüfft über ihre Ruhe, da sie doch in größter Gefahr schwebte. Er lachte auf und ging langsam auf sie zu. Seine dunklen Augen glühten.

 

»Bleiben Sie stehen!« rief Eunice wieder und zeigte nun die Waffe, um ihrer Aufforderung Nachdruck zu verleihen.

 

Digby starrte auf die Mündung der Pistole, die auf ihn gerichtet war und taumelte zurück. »Legen Sie das Ding weg«, schrie er heiser. »Verdammt, wollen Sie es wohl tun? Sie sind doch überhaupt nicht gewöhnt, mit Feuerwaffen umzugehen! Das Ding könnte ja losgehen!«

 

»Es wird auch losgehen«, sagte Eunice mit tiefer, eindringlicher Stimme. All der Abscheu, der in ihr aufgespeichert war, kam zum Durchbruch. »Digby Groat, ich sage Ihnen, daß ich Sie wie einen Hund erschießen werde und daß ich mich freue, wenn Sie niederstürzen. Ich werde weniger Erbarmen mit Ihnen haben als Sie mit dem Spanier, den Sie ermordeten.«

 

»Legen Sie die Waffe fort! Wer hat sie Ihnen gegeben? Um Gottes willen, Eunice, machen Sie keinen Unsinn damit!«

 

»Es gab Zeiten, da ich Sie sehr gern getötet hätte«, sagte sie. »Hätte ich damals eine Waffe gehabt, lebten Sie nicht mehr.« Als sie sah, wie er sich feige zurückzog, senkte sie die Pistole.

 

Er wischte sich mit einem seidenen Taschentuch den kalten Schweiß von der Stirn. Seine Knie zitterten.

 

»Wer hat Ihnen die Pistole gegeben?« fragte er heftig. »Sie hatten sie noch nicht, als wir von Kennett Hall abfuhren. Wo haben Sie sie her? Haben Sie sie in einer der Schubladen gefunden?« Er sah nach dem Schreibtisch. Eine der Schubladen stand halb offen.

 

»Darauf kommt es gar nicht an, Mr. Groat. Gehen Sie jetzt aus meiner Kabine und lassen Sie mich in Ruhe.«

 

»Ich hatte gar nicht die Absicht, Ihnen irgendwie zu nahe zu treten«, sagte er furchtsam. Er sah noch sehr bleich aus. »Es war nicht nötig, mich mit der Pistole zu bedrohen. Ich wollte Ihnen Gute Nacht sagen.«

 

»Da hätten Sie sechs Stunden früher kommen sollen«, sagte sie ironisch.

 

»Hören Sie mich an, Eunice«, beharrte er und wollte sich ihr wieder nähern. Aber als sie die Pistole wieder auf ihn richtete, sprang er zur Tür. »Wenn Sie mir so drohen, gehe ich«, rief er und schlug die Tür hinter sich zu.

 

Sie lehnte sich gegen die silbernen Bettpfosten, denn sie war am Ende ihrer Kraft. Sie mußte sich jetzt niederlegen und wenigstens etwas ruhen. Schlafen durfte sie ja nicht, da ihr immer noch Gefahr drohte. Sie ging in das nebenan liegende Wohnzimmer, dann in das Bad, um zu sehen, ob man von dort aus in ihre Räume eindringen könne, aber sie war von dieser Seite aus sicher. Sie hatte alle Paneele untersucht, ob sie keine Geheimtüren fände.

 

Kaum hatte sie wieder ihr Schlafzimmer erreicht, als sie plötzlich von hinten angefallen wurde. Digby Groat hatte sich heimlich hereingeschlichen und neben der Tür auf sie gewartet. Seine Hand entwand ihr die Pistole, die Waffe fiel polternd zu Boden. Im nächsten Augenblick schloß er sie in seine Arme.

 

»Ich werde deinen Widerstand brechen«, sagte er atemlos. »Dein Gesicht soll nahe an dem meinen sein, ich will deine schönen Augen sehen, deinen herrlichen Mund fühlen!«

 

Er preßte seine Lippen auf die ihren und drückte begehrliche Küsse auf ihre Wangen, ihren Hals, ihre Augen.

 

Sie fühlte, wie ihre Kräfte versagten. Er preßte sie so stark an sich, daß ihr Rückgrat schmerzte. Der plötzliche Schrecken hatte sie so gelähmt, daß sie sich nicht mehr gegen seine Liebkosungen wehren konnte. Sie blickte starr auf seine Augen, die ihr so nahe waren. Sie war gelähmt wie ein Vogel durch den Blick einer Schlange.

 

»Du bist jetzt mein – hörst du – du wirst Jim Steele vergessen – du wirst alles vergessen und nur noch daran denken, daß ich dich anbete!« Als er sah, daß sie zur Tür schaute, wandte er sich plötzlich um.

 

Der kleine Kapitän stand dort, hatte die Hände in die Hüften gestemmt und beobachtete den Vorgang. Seine Züge waren undurchdringlich und hart.

 

Digby ließ Eunice los.

 

»Was, zum Teufel, haben Sie denn hier zu tun? Machen Sie, daß Sie hinauskommen!« schrie er.

 

»Ein Flugzeug ist hinter uns her. Wir haben einen Funkspruch von ihm bekommen.«

 

Digby erschrak. Mit dieser Möglichkeit hatte er nicht gerechnet.

 

»Was ist es für ein Flugzeug? Wie heißt der Funkspruch?«

 

»›Nichts gesichtet. Fliege nach Süden.‹ Dann ist noch die genaue Lage des Flugzeugs angegeben. Wenn es weiter nach Süden kommt, wird Mr. Steele uns finden.«

 

Digby taumelte einen Schritt zurück.

 

»Steele?« fragte er heiser.

 

Der Kapitän nickte.

 

»Mit diesem Namen war die Botschaft unterzeichnet. Ich glaube, es ist ratsam für Sie, an Deck zu kommen.«

 

»Ich komme an Deck, wann es mir beliebt«, schrie Digby. Der Teufel in ihm erwachte, und er verlor seine Selbstbeherrschung vollständig.

 

»Werden Sie jetzt so gut sein und an Deck kommen?«

 

»Ich werde kommen, wenn ich diese Angelegenheit hier geregelt habe.«

 

»Sie haben erst Ihre Angelegenheiten an Deck zu regeln!«

 

»Machen Sie, daß Sie hinauskommen!« brüllte Digby.

 

Er hatte nicht gesehen, daß der Kapitän eine Bewegung machte; aber plötzlich ertönte ein Schuß, dessen betäubender Knall die enge Kabine erfüllte. Ein Holzpaneel hinter Digbys Kopf splitterte.

 

Groat starrte auf den Revolver in der Hand des Brasilianers. Er hatte die Zusammenhänge im Augenblick noch nicht erfaßt.

 

»Ich hätte Sie ebensogut auch erschießen können«, sagte der Kapitän ruhig. »Aber ich habe zuerst einmal einen Warnungsschuß dicht an Ihrem Ohr vorbei abgegeben. Kommen Sie bitte mit an Deck!«

 

Digby gehorchte.

 

Verstört und bleich lehnte er an der Reling und sah finster auf den Brasilianer, der zwischen ihn und die Frau getreten war, die er hatte demütigen wollen.

 

»Nun sagen Sie mir, was das alles heißen soll, Sie Schwein!«

 

»Ich habe Ihnen vieles zu sagen, was Sie nicht gern hören werden«, entgegnete der Kapitän.

 

Plötzlich dämmerte Digby eine Erkenntnis auf. »Haben Sie ihr den Revolver gegeben?«

 

»Ja. Ich wollte Sie davor bewahren, unüberlegte Handlungen zu begehen, mein Freund. Spätestens in einer Stunde wird Steele uns gesichtet haben. Ich kann Ihnen auf der Karte zeigen, wo er schon ist. Wollen Sie noch mehr Verbrechen begangen haben, wenn er an Bord kommt?«

 

»Das ist meine Sache«, zischte Digby Groat. Sein Atem ging schnell; er fühlte, daß er ersticken würde, wenn die Wut, die sich in ihm aufgespeichert hatte, nicht irgendwie zur Entladung kam.

 

»Aber es ist auch meine Sache, denn ich beabsichtige nicht, in ein englisches Gefängnis zu ziehen. In England ist es mir zu kalt, ich würde den Winter nicht überleben. Es bleibt jetzt nur noch eins übrig. Wir müssen strikt unseren westlichen Kurs einhalten. Hoffentlich bemerkt uns das Flugzeug nicht; wenn es uns entdeckt, ist es zu Ende.«

 

»Machen Sie, was Sie wollen«, sagte Digby, wandte sich kurz um und ging in seine Kabine.

 

Er war geschlagen, und das Ende kam heran. Er nahm aus einer Schublade eine kleine Flasche mit einer farblosen Flüssigkeit und entleerte sie in ein Glas, das er in Reichweite auf den Tisch stellte. Er würde keine großen Schmerzen spüren – ein Schluck, dann schlief er ein, und alles war vorbei. Dieser Gedanke beruhigte ihn.

 

Kapitel 49

 

49

 

Eine kleine Rauchfahne fern im Süden ließ Jim einer falschen Fährte nacheilen, denn das Schiff erwies sich nur als ein Frachtdampfer, der seinen drahtlosen Anruf nicht beantwortet hatte, weil der eine Mann, der den Apparat bedienen konnte, in seiner Kabine schlief. Jim erkannte, den Charakter des Schiffes, als er sich auf zwei Meilen genähert hatte. Sofort warf er seine Maschine herum und verfolgte einen Kurs nach Nordwesten.

 

Er sah sich nach seinem Passagier um; aber Inspektor Maynard fühlte sich sehr wohl auf seinem Sitz.

 

Jim wurde ängstlich. Er konnte höchstens vier Stunden in der Luft bleiben, und zwei waren schon vergangen. Er mußte noch genügend Brennstoff behalten, um das Land wieder zu erreichen. Er durfte höchstens noch eine halbe Stunde weitersuchen.

 

Er war schon fast verzweifelt, als er in großer Entfernung eine dünne Rauchfahne sah. Das Schiff selbst konnte er noch nicht erkennen. Er sandte einen Funkspruch, aber es kam keine Antwort. Er wartete eine Minute, dann klapperte der Sender wieder. Als das Stillschweigen anhielt, wurde er ärgerlich und funkte in scharfem Ton. Dann hörte er plötzlich einen hohen, schrillen Ton – der Dampfer antwortete.

 

»Was für ein Schiff ist das?«

 

Er wartete und zweifelte nicht, daß es irgendein kleiner Handelsdampfer sein würde. Wieder kam das hohe Summen.

 

»P-e-a-l-i-g-o«, war die Erwiderung.

 

*

 

Digby lehnte sich über die Brüstung, um zu sehen, was die Leute taten, die draußen in einem Boot niedergelassen wurden. Ais er entdeckte, daß sie den alten Namen ›Pealigo‹ zustrichen und ›Malaga‹ daraus machten, war er beruhigt und erfreut.

 

Er ging in bester Stimmung zum Kapitän. »Das war ein guter Gedanke von Ihnen!«

 

Der Kapitän nickte: »Natürlich in Ihrem Auftrag.«

 

»Selbstverständlich!« lächelte Digby. »Auf meinen Befehl.« Er stand neben dem Kapitän und unterhielt sich mit ihm. Es fiel ihm auf, daß der Mann dauernd nach Norden ausschaute und den Himmel absuchte.

 

Der Funker kam die Treppe zur Brücke herauf und überreichte dem Kapitän eine Botschaft.

 

Wenn sie aber entkommen sollten! – Es war immerhin möglich, daß sie allen Verfolgungen entgingen, die die Polizei gegen sie inszeniert hatte. Sie konnten auch das Land erreichen, daß er sich als Ziel gesteckt hatte. Vom Kapitän konnte er nicht erwarten, daß er dieses Risiko auf sich nahm, nachdem er die drahtlose Warnung erhalten hatte. Der wollte sich nach jeder Seite decken.

 

Wenn sie erst weit draußen auf dem offenen Meer waren, entfernt von den allgemeinen Schiffahrtswegen, würde der kleine Brasilianer seine Haltung ändern, und dann –! Digby nickte. Der Kapitän handelte eigentlich ganz klug. Es war Wahnsinn von ihm, daß er die Erfüllung seiner Wünsche jetzt erzwingen wollte.

 

Eunice konnte sich ja nicht vom Schiff entfernen. Sie fuhr mit ihm in derselben Richtung, zu demselben Ziel. Und es würden Wochen kommen, erfüllt von heißem, glühendem Sonnenschein, wo sie auf dem Vorderdeck nebeneinander sitzen und miteinander plaudern würden. Er nahm sich fest vor, jetzt vernünftig zu sein und sich nicht mehr wie ein Höhlenmensch zu gebärden. Wenn sie eine Woche lang hier auf dem Schiff zusammengelebt hatten, und er sie nicht in ihrer Freiheit störte, würde sie auch ihr Betragen ändern – aber immerhin gab es noch ein großes Wenn, das sah er wohl. Steele würde nicht ruhen, bis er ihn gefunden hatte. Aber zu der Zeit konnte sich Eunice auch schon an ihn gewöhnt haben und mit ihrem Los zufrieden sein.

 

Diese Gedanken beruhigten ihn. Er schloß das Glas wieder in den Schrank und schlenderte an Deck zurück. Zum ersten Male sah er das Schiff bei Tage. Es war eine wunderbare Jacht. Die Decks waren schneeweiß gestrichen, die blankgeputzten Messingstücke glänzten, und vorn auf dem Promenadendeck standen unter einem großen Sonnensegel Korbmöbel, die zum Sitzen einluden.

 

Er beobachtete den Horizont; es war kein Schiff in Sicht. Die vielen kleinen Wellen auf der See glitzerten im strahlenden Sonnenschein. Eine tiefschwarze Rauchfahne zog sich vom Schiff weit über das Meer hin, denn der ›Pealigo‹ raste jetzt mit einer Geschwindigkeit von zweiundzwanzig Knoten in der Stunde vorwärts. Der Kapitän betrog ihn also nicht; sie fuhren mit Volldampf nach Westen. Digby Groat war beruhigt.

 

Rechts in der Ferne zeigte sich ein unregelmäßiger, hellroter Streifen; es war die irische Küstenlinie.

 

Die Stühle sahen so schmuck und einladend aus, daß er sich niedersetzte und sich behaglich ausstreckte.

 

Wieder wandten sich seine Gedanken Eunice zu, die eben an Deck kam. Zuerst sah sie ihn nicht und ging zur Reling. Sie atmete freier in der erquickenden Morgenluft.

 

Wie schön sie doch war! Er konnte sich nicht darauf besinnen, einer Frau begegnet zu sein, die eine so schöne Haltung hatte.

 

Sie wandte sich um und machte eine Bewegung, als ob sie in ihre Kabine zurückgehen wollte. Aber er winkte ihr, und zu seinem Erstaunen kam sie näher. »Stehen Sie nicht auf«, sagte sie kühl. »Ich finde schon selbst einen Stuhl. Ich möchte mit Ihnen sprechen, Mr. Groat.«

 

Er schaute sie nur verwundert an.

 

»Ich habe nachgedacht, und ich kann Ihnen vielleicht einen Vorschlag machen, der Sie veranlaßt, den Kurs des Schiffes zu ändern und mich an der Küste von Irland oder England abzusetzen.«

 

»Was könnten Sie mir denn anderes bieten als sich selbst?«

 

»Ich biete Ihnen Geld«, erwiderte sie kurz. »Ich weiß nicht, durch welches Wunder es geschehen ist, aber ich bin die Erbin eines großen Vermögens, und Sie wissen, daß Sie durch meine Erbschaft arm geworden sind.«

 

»Aber abgesehen davon verfüge ich auch über große Mittel«, sagte er offensichtlich erheitert. »Was wollen Sie mir denn anbieten?«

 

»Die Hälfte meines Vermögens; wenn Sie mich nach England zurückbringen.«

 

»Und was wollen Sie mit der anderen Hälfte anfangen?« fragte er ironisch. »Wollen Sie mich damit vor dem Galgen retten? Nein, nein, meine junge Freundin, ich habe mich zu sehr verstrickt, als daß Ihr Plan ausführbar wäre. Ich werde Sie nicht mehr stören und werde warten, bis wir unser Ziel erreicht haben. Dann werde ich Sie um Ihre Hand bitten. Ihr Angebot war fair, das muß ich zugeben. Aber ich bin jetzt zu weit gegangen, um umkehren zu können. Im Augenblick hassen Sie mich, das Gefühl wird sich legen.«

 

»Niemals!« Sie erhob sich und wollte gehen; aber er ergriff sie bei der Hand und zog sie zurück. »Sie lieben einen anderen?«

 

»Sie haben kein Recht, diese Frage an mich zu stellen.«

 

»Ich frage Sie ja gar nicht – ich stelle nur fest. Sie lieben einen anderen – und zwar Jim Steele.« Er beugte sich vor. »Aber merken Sie sich, bevor ich Sie diesem Mann überlasse, bringe ich Sie um!«

 

Sie lächelte nur verächtlich.

 

»Was ist es?« fragte Digby schnell.

 

Ohne ein Wort reichte ihm der Brasilianer das Blatt.

 

›Weißes Schiff nach Westen, sendet Name, Nummer und Heimathafen.‹

 

»Woher kommt das?«

 

Der Kapitän erhob sein Fernglas und suchte wieder den nördlichen Himmel ab. »Ich kann nichts sehen«, sagte er stirnrunzelnd. »Möglicherweise ist es ein Anruf von einer Landstation. Ein Schiff kann ich auch nicht entdecken.«

 

»Wir wollen anfragen, wer es ist«, sagte Digby.

 

Die drei Männer gingen in die Funkkabine, und der Funker hängte die Hörer um. Plötzlich begann er zu schreiben. Digby beobachtete atemlos die Bewegung seines Bleistifts.

 

›Drehen Sie bei, ich komme an Bord.‹

 

»Was soll das heißen?« fragte Digby.

 

Der Kapitän trat unter dem Sonnensegel vor ins Freie und richtete sein Glas aufs neue zum Himmel. »Ich kann es nicht verstehen«, sagte er.

 

»Das Signal kam von ganz nahe, Kapitän, es war kaum drei Meilen entfernt«, unterbrach ihn der Funker.

 

Der Kapitän rieb sich das Kinn. »Dann wäre es das beste, wenn ich stoppte.«

 

»Sie werden keinen solchen Unsinn machen!« rief Digby stürmisch. »Sie werden weiterfahren, bis ich Ihnen den Befehl gebe, zu halten!«

 

Sie gingen zur Brücke zurück. Der Kapitän legte die Hand auf den Maschinentelegrafen. Er war unentschlossen.

 

Plötzlich fiel dicht vor ihnen, keine halbe Meile entfernt, etwas in die See, und das Wasser spritzte hoch auf.

 

»Was war denn das?« fragte Digby.

 

Als Antwort schoß an der Stelle eine große Rauchwolke empor, die sich immer mehr verbreiterte und einen undurchdringlichen Schleier bildete. Der Kapitän hielt sich die Hand über die Augen und schaute empor. Direkt über dem Schiff erblickte er ein silberhelles Flugzeug. Es war so klein, daß er es kaum ausmachen konnte.

 

»Sehen Sie, in der Luft kann sich viel ereignen.« Er drehte den Maschinentelegrafen auf ›Halt‹.

 

»Was war das?« fragte Digby wieder.

 

»Eine Rauchbombe. Und ich ziehe eine Rauchbombe in einer halben Meile Entfernung einer echten Bombe auf mein schönes Schiff vor!«

 

Digby starrte ihn einen Augenblick entsetzt an, dann sprang er mit einem Wutschrei auf ihn zu und riß den Maschinentelegrafen auf ›Volldampf voraus‹. Aber zwei Matrosen packten ihn sofort von hinten, und der Kapitän drehte den Maschinentelegrafen wieder auf ›Halt‹. »Melden Sie dem Flieger, dem Sie eben ja auch den Namen des Schiffes gesendet haben«, wandte er sich an den Funker, »daß ich Mr. Digby Groat in Ketten legen lasse.«

 

Aus dem blauen Himmelsgewölbe fiel das silberhelle Flugzeug herab, kreiste erst in großem Bogen um das Schiff und ging dann wie ein Vogel aufs Wasser nieder, ganz dicht neben der Jacht.

 

Schon vorher hatte der Kapitän ein Boot heruntergelassen, und während sich die Matrosen noch abmühten, Groat in Fesseln zu schließen, der wie ein Wahnsinniger um sich schlug, kam Jim Steele an Bord und folgte dem Kapitän nach unten.

 

Eunice hörte trotz, des Geräusches der Schiffsmaschinen das Summen des niedergehenden Flugzeuges. Sie eilte zum Fenster und zog die seidenen Gardinen fort.

 

Nun konnte sie das weiße Flugzeug sehen, das wie eine Mücke summte und jetzt aus der Sicht verschwand, weil es auf die andere Seite des Schiffes wechselte. Was hatte das wohl zu bedeuten? In diesem Augenblick wurde die Tür aufgerissen. Ein Mann ohne Kragen und Weste, mit verwildertem Haar und zerrissenem Hemd, stand im Eingang. Sein verzerrtes Gesicht blutete. Ein Glied einer Handschelle war um sein Handgelenk befestigt. Es war Digby Groat, der von teuflischer Wut besessen war.

 

Sie wich nach dem Bett zurück, als er auf sie zukam. Heller Wahnsinn loderte in seinen Augen. Und plötzlich trat ein zweiter Mann in den Raum. Groat fuhr herum und begegnete dem stahlharten, kalten Blick Jim Steeles.

 

Mit einem markerschütternden Schrei sprang er wie ein wildes Tier den Mann an, den er so tödlich haßte. Aber er konnte den Schlag mit der schweren Handschelle nicht mehr ausführen, denn Jim traf ihn zweimal mit der Faust, so daß er bewußtlos zu Boden taumelte.

 

Im nächsten Augenblick lag Eunice in den Armen Jims.

 

 

Ende

 

Kapitel 5

 

5

 

Jim sprang auf und starrte verwundert auf diese unerwartete Erscheinung. Einen Augenblick lang standen sie sich schweigend gegenüber, Eunice war starr vor Schrecken und Überraschung.

 

»Jim – Mr. Steele!« sagte sie atemlos.

 

Im nächsten Augenblick legte er den Arm um ihre Schultern.

 

»Was ist geschehen?« fragte er schnell. Seine Stimme klang heiser.

 

Sie zitterte und verbarg ihr Gesicht an seiner Brust. »Ach, es ist schrecklich, ganz schrecklich!« flüsterte sie.

 

»Darf ich fragen, was das alles zu bedeuten hat?« fragte jemand leise. Eunice drehte sich um.

 

Ein Mann stand in der offenen Tür. Im ersten Augenblick erkannte sie ihn nicht. Selbst Jim, der doch Digby Groat schon oft aus der Nähe gesehen hatte, wußte nicht, wer es war, denn er war in einen langen, weißen Mantel gehüllt, der bis auf die Füße reichte. Eine weiße Kappe war so eng über seinen Kopf gezogen, daß die Haare vollständig bedeckt waren, Weiße Gummibänder hielten seine Ärmel nach oben, und seine Hände steckten in braunen Gummihandschuhen.

 

»Darf ich Sie fragen, Miss Weldon, warum Sie mitten in der Nacht vor meiner Haustür stehen, in so leichten Kleidern, die eigentlich nicht für die Öffentlichkeit geeignet sind? Kommen Sie herein und erklären Sie mir alles«, sagte er, als er zurückging. »Grosvenor Square ist nicht an solche nächtlichen Vorführungen gewöhnt.«

 

Sie klammerte sich an Jims Arm und ging mit ihm in die Halle zurück. Digby schloß die Haustür.

 

»Mr. Steele, Sie machen Ihren Besuch zu sehr früher Morgenstunde!«

 

Jim erwiderte nichts. Er achtete nur auf Eunice, die von Kopf bis Fuß zitterte. Er führte sie zu einem Stuhl.

 

»Sicher sind hier nähere Erklärungen notwendig«, sagte er dann kühl, »aber meiner Meinung nach von Ihrer Seite, Mr. Groat.«

 

»Von meiner Seite?« Auf diese Aufforderung war Digby offenbar nicht vorbereitet.

 

»Meine Anwesenheit hier ist schnell erklärt«, sagte Jim. Ich stand eben vor dem Haus, als die Tür aufging und Miss Weldon erschrocken herauseilte. Vielleicht sagen Sie mir, Mr. Groat, wie es kommt, daß diese Dame so außer sich ist?« Eine eisige Drohung lag in seinem Ton, »Ich habe nicht die geringste Ahnung, was das alles zu bedeuten hat. Ich arbeitete die letzte halbe Stunde in meinem Laboratorium. Erst als die Haustür geöffnet, wurde, kam mir zum Bewußtsein, daß irgend etwas nicht in Ordnung sein müßte.«

 

Eunice war wieder zu sich gekommen, und die Farbe kehrte allmählich in ihr Gesicht zurück. Aber ihre Stimme zitterte noch, als sie erzählte, was ihr zugestoßen war. Die beiden hörten ihr aufmerksam zu.

 

Jim beobachtete die Haltung Digbys und war beruhigt, als er sah, daß Digby sich ebensowenig wie er selbst die rätselhafte Erscheinung erklären konnte. Als Eunice zu Ende war, nickte Groat.

 

»Der fürchterliche Schrei, den Sie in meinem Laboratorium hörten«, sagte er lächelnd, »ist bald erklärt. Niemand wurde verletzt, oder wenn er verletzt wurde, war es zu seinem eigenen Vorteil. Mein kleiner Hund hatte sich einen Glassplitter in die Pfote getreten, und ich war gerade dabei, ihn herauszuziehen.«

 

Sie seufzte erleichtert auf.

 

»Es tut mir leid, daß ich soviel Unruhe gemacht habe«, sagte sie bedauernd, »aber ich – ich fürchtete mich zu sehr.«

 

»Sind Sie sicher, daß jemand in Ihrem Raum war?« fragte Digby.

 

»Ganz sicher.«

 

Aus einem ungewissen Gefühl heraus sagte sie ihm aber nichts von der Karte mit der blauen Hand.

 

»Und Sie glauben, daß die Person vom Balkon aus in Ihr Zimmer gekommen ist?«

 

Sie nickte.

 

»Kann ich Ihr Zimmer einmal ansehen?«

 

Sie zögerte einen Augenblick.

 

»Ich möchte erst gehen und ein wenig aufräumen«, sagte sie, denn sie erinnerte sich daran, daß sie die graue Karte auf ihrem Bett hatte liegenlassen. Und sie wollte unter keinen Umständen, daß Mr. Groat sie lesen sollte.

 

Ohne weitere Aufforderung folgte Jim Steele Digby nach oben und ging mit ihm zusammen in den prachtvoll ausgestatteten Raum. Auch er war über die ungewöhnlich schöne Einrichtung erstaunt. Aber der Eindruck, den sie auf ihn machte, sprach nicht zugunsten Digby Groats.

 

»Es stimmt, das Fenster ist nur angelehnt. Sie hatten es vorher bestimmt geschlossen?«

 

Das Mädchen nickte. »Ja, ich besinne mich genau, daß ich das große untere Fenster zugemacht habe. Ich öffnete die beiden Oberfenster, um in der Nacht frische Luft im Zimmer zu haben.«

 

»Aber wenn diese Person vom Balkon hereinkam«, meinte Digby, »wie ist sie denn dorthin gekommen?«

 

Er öffnete das bis zum Fußboden reichende Fenster, trat hinaus und ging den schmalen Balkon entlang bis zu dem viereckigen Balkon über dem Hauptportal. Hier befand sich eine andere große Fenstertür, die auf das Hauptpodest der großen Treppe führte. Er versuchte, sie zu öffnen, aber sie war fest geschlossen. Er ging durch das Zimmer des Mädchens zurück. »Merkwürdig«, sagte er vor sich hin.

 

Erst hatte er angenommen, daß seine Mutter vielleicht das Schlafzimmer des jungen Mädchens nach irgendwelchen glitzernden Schmuckstücken abgesucht hätte. Aber die alte Frau war nicht gewandt und beweglich genug, um den Balkon zu erklettern, auch hatte sie nicht den Mut, mitten in der Nacht einen solchen Raubzug zu unternehmen.

 

»Ich habe den Eindruck, daß Sie geträumt haben müssen, Miss Weldon«, sagte er lächelnd. »Und nun gebe ich Ihnen den guten Rat, sich zu Bett zu legen und zu schlafen. Es tut mir leid, daß Ihr Aufenthalt in meinem Hause mit einem so unangenehmen Vorfall beginnt.«.

 

Er hatte bis jetzt das zufällige Erscheinen Jim Steeles nicht erwähnt und sprach auch nicht darüber, bis sie sich von Eunice verabschiedet hatten und wieder unten in der Halle standen.

 

»Das ist ja ein merkwürdiges Zusammentreffen, daß Sie gerade vor der Tür waren. Was machten Sie dort? Haben Sie etwa Daktyloskopie dort studieren wollen?«

 

»Ja, so etwas Ähnliches.«

 

Mr. Groat zündete sich eine Zigarette an.

 

»Ich dachte, Sie seien tagsüber so beschäftigt, daß Ihnen keine Zeit übrigbliebe, sich nachts auf dem Grosvenor Square herumzutreiben.«

 

»So, meinen Sie?«

 

Digby lachte plötzlich.

 

»Sie sind ein merkwürdiger Mensch«, sagte er. »Kommen Sie einmal mit, ich will Ihnen mein Laboratorium zeigen.«

 

Auch Jim hatte den Wunsch, es zu sehen, und die Einladung ersparte ihm die Frage, woher der schreckliche Schmerzenslaut gekommen war, den Eunice gehört hatte.

 

Sie gingen durch den langen Gang und traten durch die weiße, rohrgeflochtene Tür in einen großen Anbau. Die Wände waren fensterlos und mit weißen Kacheln bedeckt. Der Raum wurde tagsüber durch ein großes Oberlicht erleuchtet, das nachts von blauen Gardinen verhüllt war. Der Raum wurde durch zwei starke Lampen erhellt, die von der Decke herabhingen.

 

In der Mitte stand ein kleiner, eiserner Tisch, dessen Füße mit Hartgummirollen versehen waren. Die Platte war weiß emailliert, und merkwürdige Schrauben waren in Zwischenräumen auf der Oberfläche angebracht.

 

Jim interessierte sich weniger für den Tisch als für das Tier, das darauf geschnallt war. Sein Körper wurde durch zwei eiserne Federn darauf festgehalten, von denen sich eine, über den Hals und die andere über das Rückgrat spannte. Die vier Pfoten waren durch dünne Schnürbänder befestigt. Der rauhhaarige Terrier sah Jim mit einem flehenden Blick an, der fast menschlich war. Jim hatte sofort Mitgefühl mit dem armen Tier.

 

»Ist das Ihr Hund?«

 

Digby sah ihn von der Seite an.

 

»Ja, er gehört mir. Warum fragen Sie?«

 

»Sind Sie denn mit Ihrer Operation fertig, und haben Sie ihm den Glassplitter aus der Pfote gezogen?«

 

»Nein, ich bin noch nicht ganz fertig«, sagte Digby kühl.

 

»Sie halten Ihren Hund aber nicht sehr sauber, wenn ich mir die Bemerkung gestatten darf.«

 

Digby wandte sich um.

 

»Was, zum Teufel, wollen Sie damit sagen?«

 

Jim ließ sich nicht beirren. Er sah Digby fest an:

 

»Ich habe den Eindruck, daß das nicht Ihr Hund ist, sondern ein armer Terrier, der sich verlaufen hat. Sie haben ihn vor einer halben Stunde auf der Straße gefunden und ihn in das Haus gelockt.«

 

»Nun – und?«

 

»Ich will Ihnen alle weitere Mühe ersparen und Ihnen sagen, daß ich Sie dabei beobachtet habe.«

 

Digbys Augen wurden klein.

 

»Ach, sehen Sie einmal an«, sagte er höflich. »Dann sind Sie also hinter mir hergewesen und haben mich beobachtet?«

 

»Das gerade nicht«, erwiderte Jim ruhig. »Ich habe nur meine Neugierde etwas befriedigt.«

 

Bei diesen Worten legte er seine Hand auf den Hund und streichelte seine Ohren freundlich.

 

Digby lachte.

 

»Nun, wenn Sie das alles wissen, dann kann ich Ihnen auch sagen, daß ich im Begriff bin, eine interessante Operation an dem Tier vorzunehmen. Ich will einen Teil seines Gehirns entfernen, um zu sehen –«

 

Jim schaute sich um.

 

»Wo haben Sie denn Ihre Betäubungsmittel?« fragte er freundlich. Es war ein böses Anzeichen, wenn er so leise und liebenswürdig sprach.

 

»Betäubungsmittel? Großer Gott, Sie werden doch nicht glauben, daß ich mein Geld verschwende, um einen Hund zu chloroformieren?«

 

Digbys Hand lag dicht vor dem Kopf des Hundes, und das unvernünftige Tier neigte sich vor und leckte ihm die Hand.

 

»Du verdammtes, schmutziges Vieh!« rief er und wischte seine Hand mit einem Tuch ab. Er nahm eine dichte Gummikappe und streifte sie über Mund und Nase des Tieres.

 

»Nun versuche noch einmal zu lecken«, sagte er lachend. »Nun kann das Vieh auch keinen Spektakel mehr machen. Sie sind ein wenig zu weichherzig, Mr. Steele. Sie wissen doch, daß die medizinische Wissenschaft ihre großen Fortschritte den Tierversuchen verdankt.«

 

»Ich kenne wohl den Wert der Vivisektion, aber sie muß unter gewissen Vorsichtsmaßregeln vorgenommen werden. Alle anständig denkenden Ärzte, die mit lebenden Tieren experimentieren, betäuben sie, bevor sie das Messer gebrauchen. Und alle Ärzte müssen ein Zeugnis und einen Erlaubnisschein von der Ärzteschaft haben, bevor sie solche Experimente machen dürfen. Wollen Sie so liebenswürdig sein, mir diesen Schein zu zeigen?«

 

Digbys Züge verdüsterten sich.

 

»Belästigen Sie mich hier nicht«, sagt er unwirsch. »Ich brachte Sie hierher, um Ihnen mein Laboratorium –«

 

»Und wenn Sie mich nicht mitgenommen hätten«, unterbrach ihn Jim, »dann wäre ich doch hereingegangen, denn ich hätte mich unter keinen Umständen mit Ihrer Erklärung zufriedengegeben. Ich weiß schon, daß Sie mir sagen wollen, daß der Hund sich nur fürchtete und nur so furchtbar heulte und winselte, als Sie ihm dieses schreckliche Eisenband um den Hals legten. Ich gebe Ihnen drei Minuten Zeit, Mr. Groat, den Hund von seinen Fesseln zu befreien.«

 

Digby war furchtbar wütend.

 

»Und wenn ich es nicht tue?« fragte er, schwer atmend.

 

»Dann werde ich mit Ihnen dasselbe machen, was Sie mit dem Hund gemacht haben. Glauben Sie nicht, daß ich dazu, imstande wäre?«

 

Einen Augenblick herrschte tiefes Schweigen.

 

»Nehmen Sie jetzt die Klammern von dem Hund!«

 

Ihre Blicke maßen sich. Böser Haß glühte in Digbys Augen, aber dann fügte er sich, und in einer Minute war das Tier frei. Jim nahm den kleinen, zitternden Hund in seine Arme und streichelte ihn. Digby beobachtete die Szene düster, seine Zähne knirschten vor Wut.

 

»Ich werde Ihnen das nicht vergessen, und es soll Ihnen noch leid tun, daß Sie mich bei meiner Arbeit gestört haben!«

 

Jim sah ihn fest an.

 

»Ich habe mich noch niemals im Leben vor einer Drohung gefürchtet«, erwiderte er ruhig, »ich tue es auch jetzt nicht. Ich gebe gern zu, daß die Wissenschaft die Vivisektion braucht, aber nur unter gewissen Voraussetzungen. Leute Ihrer Art, die nur darauf bedacht sind, harmlose Tiere zu quälen, um ihre grausamen, wollüstigen Begierden zu befriedigen, bringen selbst die vornehmste Wissenschaft in Mißkredit. Mr. Groat, ich habe Sie durchschaut, Sie haben nicht die leiseste Absicht, der Wissenschaft zu dienen oder der leidenden Menschheit zu helfen. Als ich in dieses Laboratorium trat«, sagte er, als er schon auf der Türschwelle stand, »habe ich zwei Tiere gesehen – das größere von beiden lasse ich zurück.«

 

Er schlug die Tür zu und trat in den Gang hinaus. Digbys Eitelkeit war maßlos gekränkt.

 

Plötzlich kam Jim wieder zurück zu ihm.

 

»Haben Sie die Tür nach der Straße geschlossen, als Sie nach oben gingen?«

 

Digby runzelte die Stirn und vergaß im Augenblick die Beleidigung, die Jim ihm zugefügt hatte.

 

»Ja – warum fragen Sie?«

 

»Sie steht weit offen. Vermutlich hat der mitternächtliche Besucher Ihr Haus verlassen.«

 

Kapitel 6

 

6

 

Im hellen Sonnenschein des Morgens vergaß Eunice ihre Furcht und schämte sich wegen ihres Betragens in der Nacht. Aber die graue Karte war eine Tatsache. Sie zog sie unter ihrem Kissen hervor und grübelte darüber nach. Es mußte jemand in ihrem Zimmer gewesen sein. Und der Betreffende war nicht ihr Feind. Plötzlich kam ihr ein Gedanke, der ihr Herzklopfen verursachte. Konnte Jim –? Aber sie schüttelte den Kopf. Eine innere Stimme sagte ihr, daß es Jim nicht gewesen war. Unmöglich konnte es seine Hand gewesen sein, die sie berührt hatte, denn sie kannte deren Form ganz genau und erinnerte sich zu gut an seinen warmen und starken Händedruck.

 

Sie ging zum Frühstück ins Speisezimmer und fand dort Mr. Groat, einen tadellos gekleideten Weltmann. Er war froh und guter Laune, und man konnte ihm nicht das geringste Zeichen von Ermüdung anmerken, obgleich er sich erst um vier Uhr zur Ruhe gelegt hatte.

 

Er begrüßte sie höflich.

 

»Guten Morgen, Miss Weldon, ich hoffe, Sie haben sich von Ihrem nächtlichen Schrecken erholt?«

 

»Es tut mir so leid, daß ich Ihnen Umstände und Mühe gemacht habe«, sagte sie bedauernd und lächelte ihn an.

 

»Ach, das ist nicht der Rede wert«, entgegnete er herzlich. »Ich war nur froh, daß unser Freund Steele zugegen war, der Sie beruhigen konnte. – Miss Weldon, ich muß mich noch bei Ihnen entschuldigen ich habe Ihnen gestern abend eine kleine Lüge gesagt.«

 

Sie sah ihm voll ins Gesicht.

 

»So? Es wird nicht so schlimm gewesen sein«, meinte sie lachend.

 

»Ich erzählte Ihnen doch, daß ich meinem kleinen Hund einen Glassplitter aus der Pfote gezogen hätte. Es war aber in Wirklichkeit gar nicht mein Hund, ich hatte ihn auf der Straße aufgelesen und wollte ein kleines Experiment mit ihm machen. Sie wissen, daß ich Arzt bin?«

 

Sie zitterte.

 

»Also daher kamen die entsetzlichen Laute?« fragte sie etwas erschreckt.

 

Er schüttelte den Kopf.

 

»Nein, der Hund fürchtete sich nur. Ich hatte ihn überhaupt noch nicht verwundet und wollte es auch gar nicht tun. Ihr Freund hat mich dann aber überredet, den armen Kerl laufen zu lassen.«

 

Sie atmete erleichtert auf.

 

»Darüber freue ich mich sehr. Es wäre mir schrecklich gewesen, wenn Sie es getan hätten.«

 

Er lachte leise, als er seinen Platz bei Tisch einnahm.

 

»Steele dachte zuerst, daß ich meine Tierversuche mache, ohne die Tiere zu chloroformieren, aber das ist natürlich absurd. Es ist sehr schwer, Leuten, die nicht vom Fach sind, zu erklären, welche Fortschritte die medizinische Wissenschaft durch die Tierversuche gemacht hat. Natürlich werden alle diese Experimente durchgeführt, ohne daß die Tiere auch nur den geringsten Schmerz spüren«, sagte er leichthin. »Ich würde ebensowenig daran denken, einen kleinen Hund zu verletzen, als Sie mit dem Messer zu schneiden.«

 

»Davon bin ich auch überzeugt«, sagte sie dankbar.

 

Digby Groat war ein schlauer Mann. Er wußte genau, daß Jim wieder mit Eunice zusammentreffen und ihr von seinem Erlebnis im Laboratorium auf seine Art erzählen würde. Es war daher notwendig, daß er ihr die Geschichte zuerst mitteilte, denn er wollte sie nicht irgendwie verletzen, sondern in möglichst gute Beziehungen zu ihr kommen. Er hatte sie zu seinem eigenen Vorteil und zu seinem Amüsement in das Haus gebracht, und er erkannte jetzt, daß sie noch viel schöner und begehrenswerter war, als er sich jemals vorgestellt hatte.

 

Digby war ein Kenner weiblicher Schönheit und war eigentlich vor dem Frühstück etwas bange gewesen, denn das schöne Aussehen der Frauen verträgt selten helles Tageslicht. Er war noch niemals wirklich verliebt gewesen, obgleich er schon viele Frauen kennengelernt und wieder verabschiedet hatte. Aber Miss Weldon hatte von allen bis jetzt den tiefsten Eindruck auf ihn gemacht. Sicher würde sie ihm einige Wochen die Langeweile verkürzen und ihn den grauen Alltag vergessen lassen, bis wieder eine neue Sensation kam.

 

Die Probe fiel glänzend für sie aus. Ihre zarte Haut, durch kein Verschönerungsmittel berührt, war fleckenlos rein, ihre glänzenden Augen strahlten, und ihr ganzes Aussehen sprach von Gesundheit und Natürlichkeit. Ihre Hände waren vollkommen.

 

Eunice selbst fühlte sich weder von ihm angezogen noch durch ihn abgestoßen. Digby Groat war für sie einer der vielen, denen man im Leben begegnet, die man sieht oder nicht sieht, die interessant oder unangenehm wirken können. Mit einigen wird man vorübergehend bekannt, spricht mit ihnen, einige sieht man nur im Vorübergehen, und sie verschwinden aus dem Gesichtskreis, um nie wieder aufzutauchen.

 

»Meine Mutter kommt niemals zum Frühstück herunter«, erwähnte Digby im Laufe der Unterhaltung. »Glauben Sie, daß Ihre Beschäftigung Sie befriedigen wird?«

 

»Ich weiß noch nicht, worum es sich handelt.«

 

»Meine Mutter ist ein wenig sonderbar, ich möchte fast sagen, exzentrisch. Aber ich glaube, Sie sind verständig genug, um mit ihr fertig zu werden. Die Arbeit wird in der ersten Zeit gerade nicht sehr schwer sein. Ich hoffe, daß Sie später vielleicht fähig sein werden, mir bei meinen anthropologischen Studien zu helfen.«

 

»Das klingt schrecklich wichtig. Was bedeutet das?«

 

»Ich studiere Gesichter und Köpfe«, sagte er leichthin, »und habe zu diesem Zweck viele Fotografien aus allen Teilen der Welt gesammelt. Mit der Zeit will ich eine Sammlung von über einer Million Bildern zusammenbringen. Diese Wissenschaft ist in unserem Lande bis jetzt sehr vernachlässigt worden. Die Italiener haben viel darin geleistet. Wahrscheinlich haben Sie schon von Mantegazza und Lombroso gehört?«

 

Sie nickte.

 

»Das sind die großen Kriminalisten, nicht wahr?« sagte sie zu seinem Erstaunen.

 

»Ach, Sie haben sich schon etwas damit beschäftigt?«

 

»Das ist sehr verlockend für mich!« Sie sah ihn begeistert an.

 

»Ich würde Ihnen sehr gern bei dieser Arbeit helfen, wenn Ihre Mutter nicht zu viel Arbeit für mich hat.«

 

»Die wird Ihnen schon freigeben können.«

 

Ihre Hand lag auf dem Tisch ganz nahe bei der seinen, und er war in Versuchung, sie zu streicheln. Aber er beherrschte sich und berührte sie nicht. Er wußte menschliche Charaktere gut und schnell zu beurteilen. Wenn es eine andere Frau gewesen wäre, hätte er seine Hand liebenswürdig auf die ihre gelegt; sie hätte verwirrt gelacht, die Augen niedergeschlagen, und das übrige hätte sich dann schon gefunden. Aber bei Eunice durfte er nicht so vorgehen, sonst würde sie wahrscheinlich heute abend nicht mehr im Hause sein. Aber er konnte ja warten, und sie war es auch wert, daß man auf sie wartete, denn sie war wirklich entzückend. Die halbe Freude des Lebens liegt in der Jagd nach Vergnügen, und die Jagd danach ist nur eine Form heftigen Vorgenusses. Manche Menschen finden die größte Befriedigung darin, sich in ihrer Phantasie Freuden auszumalen, die früher oder später in Erfüllung gehen müssen, und Digby Groat gehörte zu diesen.

 

Als sie aufschaute, begegnete sie einem seiner brennenden Blicke und errötete. Mit Überwindung sah sie ihn noch einmal an; aber nun war nichts Ungewöhnliches mehr an ihm zu sehen.

 

Kapitel 7

 

7

 

Die ersten Tage in ihrer neuen Stellung waren eine harte Probe für Eunice Weldon.

 

Sie beklagte sich am dritten Tag während des Frühstücks bei Digby, daß Mrs. Groat ihr überhaupt nichts zu tun gebe.

 

»Ich fürchte, daß ich hier überflüssig bin«, sagte sie. »Es ist nicht recht, daß ich unter diesen Umständen Gehalt von Ihnen annehme.«

 

»Warum denn?« fragte er schnell.

 

»Ihre Mutter zieht es vor, ihre Briefe allein zu schreiben. Außerdem scheint ihre Korrespondenz wenig umfangreich zu sein!«

 

»Ach was, Unsinn!« erwiderte er scharf. Als er aber sah, daß er sie durch seinen Ton beleidigte, sprach er liebenswürdig weiter. »Meine Mutter ist nicht daran gewöhnt, daß man ihr hilft, sie ist eine der Frauen, die alles allein tun wollen. Deshalb sieht sie ja auch so angegriffen und alt aus, weil sie sich so sehr abgearbeitet hat. Es gibt hundert Aufgaben, die sie Ihnen übertragen könnte. Aber Sie müssen es der alten Frau zugute halten, Miss Weldon. Es dauert lange Zeit, bevor sie Zutrauen zu fremden Menschen faßt.«

 

»Das kann ich verstehen«, erwiderte sie und nickte.

 

»Meine arme Mutter ist ganz auf sich beschränkt«, meinte er lächelnd, »aber ich bin sicher, daß sie Ihnen noch genügend zu tun gibt, wenn sie Sie erst kennenlernen wird.«

 

Nach dem Frühstück ging er gleich in das kleine Wohnzimmer seiner Mutter. Er fand sie nicht dort, sondern in ihrem Ankleidezimmer, wo sie dicht am Kamin neben einem offenen Feuer saß. Er schloß die Tür sorgfältig und ging zu ihr hinüber. Sie schaute ihn furchtsam an.

 

»Warum gibst du dem Mädchen nichts zu tun?« fragte er. scharf.

 

»Ich habe doch nicht so viel zu tun«, entgegnete sie weinerlich. »Hör, Digby, das ist eine ganz überflüssige Ausgabe, ich kann sie gar nicht leiden.«

 

»Du wirst ihr von heute ab Arbeit geben – ich möchte dir das nicht noch einmal sagen müssen!«

 

»Sie wird mich nur ausspionieren. Du weißt doch, daß ich seit Jahren keine Briefe mehr geschrieben habe, mit Ausnahme des Briefes an den Rechtsanwalt, den ich auf deine Veranlassung hin schrieb.«

 

»Also du wirst ihr Arbeit geben«, wiederholte Digby Groat. »Hast du mich verstanden? Lasse sie doch alle die Rechnungen durchsehen, die du in den letzten Jahren bekommen hast. Sie soll sie sortieren und alle Ausgaben sorgfältig in ein Buch eintragen. Auch deine Bankabrechnungen kannst du ihr geben. Sie soll die Schecks damit vergleichen. Verdammt noch einmal – wenn du nur wolltest, hättest du wirklich genug für sie zu tun! Das kannst du doch wahrhaftig veranlassen; es ist schauderhaft, daß ich dich immer beaufsichtigen muß!«

 

»Ich will es tun, Digby«, erwiderte sie schnell. »Du bist wieder recht hart und böse zu mir. Ich hasse dies ganze Haus!«, rief sie plötzlich heftig. »Ich hasse die Leute hier im Hause. Heute morgen habe ich in ihr Zimmer gesehen, das sieht ja aus wie ein Palast. Es muß ja Tausende von Pfund gekostet haben, nur diesen Räum einzurichten. Das ist doch einfach eine Sünde, so viel für ein einfaches Mädchen auszugeben!«

 

»Das geht dich gar nichts an! Du sollst ihr für die nächsten vierzehn Tage Arbeit geben!«

 

Eunice war überrascht, als Mrs. Groat sie rufen ließ.

 

»Ich habe etwas für Sie zu tun, Miss – ich kann mir Ihren Namen nicht merken.«

 

»Eunice«, sagte das junge Mädchen lächelnd.

 

»Ich kann den Namen Eunice nicht leiden«, murmelte die alte Frau vor sich hin. »Die letzte hieß Lola, eine Ausländerin – ich war froh, als sie ging. – Haben Sie denn keinen anderen Namen?«

 

»Weldon ist mein Familienname. Sie können mich ›Weldon‹ oder ›Eunice‹ nennen, oder wie es Ihnen beliebt, Mrs. Groat.«

 

Die alte Frau räusperte sich.

 

Vor ihr stand eine große Schublade mit Schecks, die von der Bank zurückgekommen waren.

 

»Sehen Sie diese Papiere durch«, sagte sie, »und machen Sie irgend etwas damit. Ich weiß nicht, was.«

 

»Soll ich sie vielleicht an die Rechnungen heften, zu denen sie gehören?«

 

»Ja, das meine ich. Sie wollen es doch nicht hier machen? Aber es ist doch besser, daß Sie nicht damit aus meinem Zimmer gehen; ich wünsche nicht, daß die Dienstboten in meinen Abrechnungen herumschnüffeln.«

 

Eunice stellte die Schublade auf den Tisch, nahm die Rechnungen und die Abschnitte des Scheckbuches, holte sich eine kleine Flasche Leim und machte sich an die Arbeit. Ihre goldene Armbanduhr, ein Geschenk ihres verstorbenen Vaters, legte sie auf den Tisch, weil sie sie bei der Arbeit störte. Mrs. Groats habgierige Blicke waren sofort darauf gerichtet, und mit einem Male rückte sie näher.

 

Die Arbeit schien sehr umfangreich zu sein, aber Eunice ging methodisch vor, und als der Gong zu Tisch rief, war sie schon fertig.

 

»Bitte, Mrs. Groat«, sagte sie lächelnd, »ich habe alle Schecks aufgearbeitet.«

 

Sie stellte die Schublade beiseite und wollte ihre Armbanduhr wieder anlegen, aber sie war verschwunden. In diesem Augenblick öffnete sich die große Tür, und Digby Groat trat herein.

 

»Hallo, Miss Weldon«, sagte er zuvorkommend, »es ist Zeit zum Lunch. Hast du nicht den Gong gehört, Mutter? Du mußt Miss Weldon jetzt gehen lassen.«

 

Eunice schaute sich überall um.

 

»Haben Sie irgend etwas verloren?« fragte Digby schnell.

 

»Ich kann meine Armbanduhr nicht finden; ich habe sie vor einiger Zeit hier auf den Tisch gelegt, und sie ist jetzt nicht mehr da.«

 

»Vielleicht ist sie in der Schublade«, stammelte die alte Frau und vermied es, ihren Sohn anzusehen.

 

Digby schaute sie einen Augenblick an und wandte sich dann an Eunice.

 

»Würden Sie so liebenswürdig sein und Jackson den Auftrag geben, meinen Wagen um drei Uhr bereitzuhalten?« sagte er freundlich.

 

Er wartete, bis das Mädchen die Tür geschlossen hatte.

 

»Wo ist die Uhr?« fragte er rauh.

 

»Die Uhr, Digby?«

 

»Willst du die Uhr hergeben?« schrie er, und sein Gesicht wurde dunkel vor Wut.

 

Sie steckte die Hand zögernd in die Tasche und holte die Uhr hervor. »Sie sieht doch so schön aus«, stotterte sie.

 

Digby riß sie ihr aus der Hand.

 

Gleich darauf kam Eunice wieder zurück.

 

»Wir haben sie gefunden«, sagte Digby lächelnd. »Sie war unter den Tisch gefallen.«

 

»Ich dachte, da hätte ich auch nachgesehen. Sie ist nicht sehr wertvoll, aber sie dient einem doppelten Zweck.« Sie legte die Uhr um ihr Handgelenk.

 

»Welchen anderen Zweck hat sie denn noch; als die Zeit anzugeben?« fragte Digby.

 

»Ich verdecke damit eine häßliche Narbe«, sagte sie und zeigte ihr Handgelenk. Er sah einen runden, roten Fleck, etwa so groß wie ein Halbschillingstück, der wie eine alte Brandnarbe aussah.

 

»Das ist ja merkwürdig«, meinte Digby, als er darauf schaute. Plötzlich hörte er einen unterdrückten Aufschrei seiner Mutter. Sofort wandte er sich nach ihr um und blickte in ihr verzerrtes Gesicht. Ihre Augen starrten auf Eunice.

 

»Digby, Digby!« schrie sie mit gebrochener Stimme. »O mein Gott!«

 

Sie fiel über den Tisch, und bevor er sie erreichen konnte, war sie auf den Boden gesunken.

 

Er beugte sich über seine Mutter und wandte sich dann langsam zu dem erschrockenen Mädchen.

 

»Sie hat sich so über die kleine Narbe auf Ihrer Hand aufgeregt«, sagte er langsam. »Was bedeutet das?«

 

Kapitel 43

 

43

 

Ihr Mut sank, und es kam ihr mit niederschmetternder Gewißheit zum Bewußtsein, daß ihre Schicksalsstunde gekommen war. Sie hatte Digby wegen seiner Schurkereien verhöhnt; aber sie wußte, daß er kein Mitleid mit ihr haben würde. Ganz gegen ihre Absicht hatte sie ihn bei seinen Plänen unterstützt, als sie zugab, die Erbin des Dantonschen Vermögens zu sein.

 

Die Tür ihres Raumes wurde zugeschlagen, der Schlüssel umgedreht, und sie blieb allein. Später hörte sie wieder das Summen des Propellers, als der Spanier den Motor reparierte.

 

Sie mußte sehen, fortzukommen – sie durfte nicht hierbleiben; unter allen Umständen mußte sie entfliehen! Aber die Fenster waren befestigt und verriegelt, und es war kein anderer Ausgang als die Tür vorhanden. Ihre einzige Hoffnung blieb Jim, der wahrscheinlich ganz in ihrer Nähe genau wie sie selbst gefangengehalten wurde.

 

Digby verlor keine Zeit. Er schickte Silva mit dem Auto fort, damit er so schnell wie möglich zur Küste fahren und dem Kapitän des ›Pealigo‹ eine Botschaft überbringen solle. Das Schiff sollte sich bereithalten, ihn noch heute abend an Bord zu nehmen. Er schrieb schnell die verschiedenen Signale auf. Wenn Bronson in der Nähe der Küste eine grüne Leuchtkugel abschoß, sollte auf der Jacht ebenfalls ein grünes Licht abgebrannt werden. Ein Boot sollte sofort an der Jacht heruntergelassen werden, um sie auf See aufzufischen.

 

Nachdem der Bote fort war, erinnerte er sich daran, daß er dem Kapitän dieselben Befehle schon gegeben hatte und daß der Spanier unmöglich die Jacht heute abend noch erreichen konnte.

 

In ruhigeren Augenblicken hatte Digby andere Vorbereitungen getroffen. Drei Schwimmwesten waren ausprobiert und ins Flugzeug gebracht worden. Pistolen zum Abschießen von Leuchtkugeln, Landungsfackeln und sonstige Gerätschaften, die zu einem Nachtflug notwendig waren, fanden sich im Gepäckraum der Maschine. Bronson war jetzt vollständig beschäftigt mit dem Motor, denn der Fehler war noch nicht ganz behoben. Digby Groat ging vor dem Hause auf und ab und rauchte vor Ungeduld und Furcht eine Zigarette nach der anderen. Er hatte Eunice noch nicht gesagt, daß sie sich fertig machen solle, damit mußte er bis zum letzten Augenblick warten. Er wollte nicht noch einen Auftritt erleben. Er wollte ihr noch eine Spritze geben; das übrige würde dann leicht sein.

 

Fuentes trat zu ihm auf die Terrasse hinaus, denn er war begierig, die letzten Nachrichten zu erfahren.

 

»Glauben Sie, daß die Auffindung von Villas Leiche die Leute hier auf unsere Spur zieht?«

 

»Wie kann ich das wissen?« fuhr ihn Groat an. »Kommt es darauf an? In einer Stunde werden wir fort sein!«

 

»Sie werden fortkommen«, sagte der Spanier mit Betonung, »aber ich nicht. Ich habe kein Flugzeug, das mich außer Landes bringt. Xavier hat auch keines, aber er ist noch besser daran als ich, er hat das Auto. Können Sie mich nicht mitnehmen?«

 

»Das ist nicht möglich«, erwiderte Digby gereizt. »Heute abend werden sie noch nicht kommen, und Sie brauchen sich deshalb nicht aufzuregen. Bis morgen früh können Sie schon eine weite Strecke zwischen sich und Kennett Hall gelegt haben.«

 

»Was soll denn aus dem Mann werden?« Fuentes zeigte nach dem Westflügel, wo Jim gefangen saß.

 

Plötzlich kam Digby ein Gedanke. Vielleicht konnte er seinen bis dahin treuen Diener, der sklavisch seinen Befehlen gehorcht hatte, veranlassen, noch eine letzte Instruktion auszuführen.

 

»Fuentes, nur von diesem Mann droht Gefahr. Sehen Sie denn nicht ein, daß er uns alle vernichten kann? Aber niemand außer Ihnen und mir weiß, daß er hier ist.«

 

»Und außer diesem niederträchtigen Engländer«, setzte Fuentes hinzu.

 

»Masters weiß nicht, was mit ihm geschehen ist. Sagen Sie doch selbst, sollen wir diesen Mann leben lassen, damit er gegen uns aussagen kann, wenn ein kleiner Schlag über den Schädel genügt, um ihn für immer verstummen zu lassen?«

 

Fuentes richtete seine dunklen Augen auf Digby und zwinkerte. »Nun ja, mein lieber Mr. Groat«, sagte er spöttisch, »dann töten Sie ihn doch. Es ist recht gemein von Ihnen, daß ich zurückbleiben soll, um nachher mit der Leiche aufgefunden zu werden. Ich habe einen fürchterlichen Schrecken vor englischen Gefängnissen und will unter keinen Umständen deswegen meinen Hals riskieren.«

 

»Sind Sie plötzlich so furchtsam geworden?«

 

»Ich fürchte mich genauso wie Sie. Wenn Sie wollen, daß er getötet wird, so tun Sie es doch selbst. Ich weiß nicht einmal, ob ich das zulassen würde; denn Sie werden fortgehen, und ich muß hierbleiben. Nein, nein, wir wollen diesen Kerl in Ruhe lassen. Er ist ganz tüchtig.«

 

Digby wandte sich verärgert ab.

 

›Der starke Kerl‹ hatte sich in diesem Augenblick mit übermenschlicher Anstrengung auf seine Füße erhoben. Es war ein akrobatisches Meisterstück, und etwas von der Gewandtheit eines Schlangenmenschen gehörte dazu. Er hatte sich mit dem Kopf gegen die Mauer gestützt, während er seine Füße langsam auf den Boden brachte.

 

Der Abend brach schon herein. Nach dem Summen des Motors zu urteilen, war die Reparatur beinahe beendet, und Digby Groat würde nun wohl bald aufbrechen. Als er ihn durch die Spalten der Fensterläden in einer Fliegerjacke sah, wurde er in seiner Ansicht bestärkt. Von Eunice hatte er nichts entdecken können.

 

Er hüpfte vorsichtig zum Fenster und lauschte. Draußen regte sich nichts. Er wartete, bis Bronson den Motor wieder anstellte, drückte mit seinen Ellenbogen eine Glasscheibe ein und hob seine zusammengebundenen Hände mit der größten Anstrengung zu dem zerbrochenen Fenster. Er mußte sich dazu auf die Zehenspitzen stellen. Dann rieb er seine Fesseln an den Glassplittern durch, die noch fest im Rahmen saßen. Seine Hände wurden rot und schwollen an, und er fühlte keine Kraft mehr in den Handgelenken. Sorgfältig massierte er sie, bis er wieder Gewalt über sie bekam.

 

Nachdem er die Hände frei gemacht hatte, war es eine Kleinigkeit, mit den Glassplittern auch die Fußfesseln zu durchschneiden. Aber er war immer noch im Zimmer eingeschlossen. Die Fensterläden würden kein unüberwindliches Hindernis bieten. Er sah sich im Raum um und fand nichts, das er irgendwie als Werkzeug hätte benutzen können. Er trat mit seinen gewandten Füßen gegen die Läden, doch entdeckte er, daß sie aus Eisen waren. Die einzige Möglichkeit blieb also die Tür, und die war zu stark, als daß er sie hätte eindrücken können.

 

Er horchte am Schlüsselloch, es war kein Geräusch wahrzunehmen. Der Himmel wurde dunkler, und die Nacht brach herein. Er wußte, daß das Flugzeug bald starten würde. Der Gedanke machte ihn fast wahnsinnig. Unter Mißachtung aller Vorsicht warf er sich mit seiner Schulter gegen die Türfüllung. Aber sie widerstand, auch den Tritten seiner schweren Stiefel leistete sie Widerstand. Dann hörte er einen Laut draußen, der sein Herz fast stillstehen ließ.

 

Eunice schrie schrill auf. Wieder und wieder warf er sich mit aller Kraft gegen die Tür; sie rückte und rührte sich nicht. Dann hörte er einen Ruf, lief zum Fenster und lauschte. »Die Polizei kommt!« schrie Fuentes. Jim sah ihn vollständig erschöpft am Fenster vorbeischwanken und hörte, daß Digby ihn, scharf anfuhr. Gleich darauf herrschte absolute Stille.

 

Jim wischte sich mit dem Rockärmel den Schweiß von der Stirn. Verzweifelt schaute er sich um. Plötzlich fiel ihm der alte eiserne Rost des Kamins in die Augen, und schon packte er das schwere Gerät und donnerte damit zweimal gegen die Tür. Sie gab endlich nach. Er zwängte sich durch die zertrümmerte Füllung und eilte aus dem Hause.

 

Als er um die Ecke bog, hörte er das Summen des Flugzeugmotors, das plötzlich von dem Knall eines Schusses übertönt wurde. Er sprang über das Geländer, lief durch den Garten und kam gerade noch zurecht, um zu sehen, wie sich die Maschine in die Luft erhob.

 

»Mein Gott«, stöhnte Jim, als sie schnell am dunklen Himmel verschwand.

 

Aus dem hohen Gras in der Nähe des Startplatzes erhob sich eine Hand und sank wieder schwach zu Boden. Jim rannte dorthin und kniete gleich darauf neben Fuentes. Der Mann lag in den letzten Zügen. Jim wußte das, noch ehe er die schwere Wunde in der Brust untersucht hatte.

 

»Er hat mich niedergeschossen«, sagte Fuentes, »und ich war sein Freund … Ich bat ihn nur, mich in Sicherheit zu bringen … Und er hat mich erschossen!«

 

Der Mann lebte noch, als die Polizei kam. Mit ihr erschien auch Septimus Salter, der in seiner Eigenschaft als Friedensrichter die Zeugenaussage des Sterbenden zu Protokoll nahm.

 

»Deswegen kommt Digby Groat an den Galgen, Steele.«

 

Jim antwortete nicht. Er hatte seine eigenen Ansichten darüber, wie Digby Groat enden würde.

 

Kapitel 44

 

44

 

Der Rechtsanwalt erzählte Jim, wie er hergekommen war.

 

»Ich begleitete die Polizei, weil ich den Platz genau kenne«, sagte Mr. Salter. »Sie sehen ganz verstört aus, mein Freund. Können Sie sich nicht etwas hinlegen und schlafen?«

 

»Ich darf nicht schlafen, bevor ich nicht meine Hand auf Digby Groat gelegt habe. Was haben Sie in der Zeitung gelesen? Erzählen Sie! Woher wußte man, daß es Villa war?«

 

Salter teilte ihm mit, daß man die Quittung in Villas Tasche gefunden hatte.

 

»Es scheint so, daß er auf Groats Veranlassung die Jacht des Brasilianers Maxilla kaufte. Es ist der ›Pealigo‹ –«

 

»Dann ist er zu dem Schiff geflogen! Wo liegt die Jacht?«

 

»Das habe ich auch herausbringen wollen, aber niemand weiß es. Sie hat Le Havre vor ein paar Tagen verlassen, und es ist unbekannt, mit welcher Bestimmung sie abgefahren ist. Sicherlich hat sie einen britischen Hafen angelaufen. Lloyds erhalten doch Nachricht von jedem Schiff, ganz gleich, ob es eine Jacht, ein Passagier- oder ein Frachtdampfer ist. Alle Hafenbehörden benachrichtigen Lloyds sofort.«

 

»Sicher ist er zu der Jacht geflogen«, wiederholte Jim.

 

»Dann muß sie irgendwo in einem Hafen liegen«, meinte der alte Salter. »Wir können ja eine Radiomeldung durchgeben –«

 

Jim unterbrach ihn kopfschüttelnd.

 

»Bronson wird auf dem Wasser niedergehen und die Maschine versenken. Das ist eine sehr einfache Sache. Es ist keinerlei Gefahr damit verbunden, wenn die Insassen mit Schwimmwesten versehen und nicht festgeschnallt sind. Es ist entsetzlich, daß Sie nicht eher gekommen sind.« Er ging unruhig auf und ab. »Würden Sie etwas dagegen haben, wenn ich mich kurze Zeit zurückziehe? Ich muß allein sein, um nachzudenken.«

 

In der Tür drehte sich Jim noch einmal um.

 

»Um keine Zeit zu verlieren, Mr. Salter, haben Sie irgendwelchen Einfluß bei der Admiralität? Ich möchte, daß Sie ein Wasserflugzeug für mich leihen.«

 

Der Rechtsanwalt schaute nachdenklich drein. »Das kann ich schon in Ordnung bringen. Ich werde mich sofort telefonisch mit dem Ersten Lord der Admiralität in Verbindung setzen.«

 

Während der Rechtsanwalt telefonierte, aß Jim eilig etwas. Die Anstrengungen der letzten vierundzwanzig Stunden hatten ihn mitgenommen. Die Gewißheit, daß Digby Groat vor Gericht gestellt würde, beruhigte ihn nicht. Wenn nur Eunice gerettet worden wäre, hätte er sich damit zufrieden gegeben, daß Digby entkam. Er würde nicht die Hand erhoben haben, um ihn anzuhalten. Aber Eunice war in den Händen dieses gemeinen Menschen, und dieser Gedanke war ihm unerträglich.

 

Der Polizeisergeant lud ihn ein, zu dem verhafteten Masters mitzukommen. Er fand den sonst so harten Mann in elender Verfassung.

 

»Ich wußte, daß er mich noch hineinziehen würde«, jammerte Masters. »Und dabei habe ich eine Frau und drei Kinder! Ich habe mir früher nie etwas zuschulden kommen lassen, nicht einmal eine Wilddieberei. Können Sie nicht ein Wort für mich einlegen, Sir?«

 

Wenn Jim nicht in dieser ernsten Lage gewesen wäre, hätte er über diese Unverschämtheit lachen können. »Ich kann nur aussagen, daß Sie den Versuch machten, mich zu strangulieren, und ich zweifle sehr, daß das eine Empfehlung für Sie sein wird.«

 

»Aber ich schwöre Ihnen bei allem, was mir heilig ist, daß ich das nicht beabsichtigte«, rief der Mann aufgeregt. »Er hat mir doch befohlen, einen Strick um Ihre Schultern zu werfen. Unglücklicherweise glitt er ab und packte Sie am Hals. Wie konnte ich denn wissen, daß die Dame nicht seine Frau war? Er sagte doch, sie sei mit Ihnen durchgebrannt.«

 

»Das hat er Ihnen erzählt?«

 

»Jawohl, Sir. Ich sagte noch zu ihm, daß die Dame keinen Trauring trage, aber er beteuerte, daß er mit ihr verheiratet sei und sie auf eine Seereise mitnehmen würde.«

 

»Auf See?«

 

Masters nickte. »Ja. Er sagte auch, daß sie nicht ganz richtig im Kopf sei und daß ihr die Seereise gut bekommen würde.«

 

Jim fragte ihn genau aus, ohne eine weitere Information aus ihm herauszubekommen. Masters wußte nichts von dem Dampfer, auf dem Digby mit Eunice abfahren wollte, auch nichts von dem Hafen, von dem aus sie an Bord zu gehen beabsichtigten.

 

»Ich glaube nicht, daß der Mann irgendwie in die Pläne Groats eingeweiht war«, sagte Jim später zu dem Sergeanten. »Er war nur ein kleiner Angestellter, und es lohnt sich kaum, eine Anklage gegen ihn zu erheben.«

 

Der Sergeant schüttelte den Kopf. »Wir müssen ihn festhalten, bis die Leichenschau vorüber ist«, sagte er düster. »Wenn ich denke, daß ich einen so großen Fall direkt vor mir hatte und trotzdem nichts gesehen habe!«

 

Jim lächelte traurig. »Das ist uns allen so gegangen, und wir waren blinder als Sie!«

 

Eine neue Spritze hatte ausgereicht, um Eunice zur Ruhe zu bringen. Sie wußte, daß Widerstand vergeblich war. Digby konnte sie leicht überwältigen und lange genug festhalten, um diese verteufelte Nadelspitze in ihren Arm zu stoßen.

 

Sie hatte sich zuerst gewehrt und geschrien, als er ihren Arm berührte. Diesen Schrei hatte Jim gehört.

 

»Ich will mit Ihnen gehen, ich verspreche, daß ich Ihnen keine Schwierigkeiten mache«, rief sie, »bitte, legen Sie dieses fürchterliche Instrument fort.«

 

Doch die Zeit drängte, und es war sicherer, sie wehrlos zu machen.

 

Der Propeller drehte sich schon langsam, als sie ihre Sitze bestiegen.

 

»Hier ist noch Platz für mich! Es muß noch Platz sein!«

 

Digby schaute in das verzerrte Gesicht des Spaniers, der hinter ihm hergelaufen war.

 

»Aber, Fuentes, es ist kein Platz für Sie! Das habe ich Ihnen doch schon vorhin gesagt. Sie müssen sehen, wie Sie fortkommen!«

 

»Ich will mit Ihnen fliehen!«

 

Zum Schrecken Digbys klammerte sich der Mann verzweifelt an den Rand der Sitze. Jeden Augenblick wurde die Gefahr, entdeckt zu werden, größer. Er griff zu seiner Pistole. »Lassen Sie los, oder ich erschieße Sie!«

 

Fuentes hatte jede Vernunft verloren und ließ nicht locker.

 

Man hörte Stimmen von der Straße her und, von einer Panik ergriffen, schoß Digby. Er sah, wie der Mann niederstürzte, und rief Bronson zu: »Los!«

 

Eunice sah entsetzt zu. Es war unheimlich, welche Veränderung mit Digby vorgegangen war. Er schien zusammengesunken und kleiner zu sein. Sein Gesicht war verzogen und verzerrt, als ob er einen Schlaganfall, erlitten hätte.

 

Sie dachte auch, daß dies der Fall sei, aber langsam erholte er sich wieder.

 

Er hatte einen Menschen getötet! Der Schrecken über seine Tat kam über ihn. Die Furcht vor den Konsequenzen überwältigte ihn und trieb ihn zu einer plötzlichen Raserei. Er hatte einen Menschen getötet! Er, der so sorgfältig alles getan hatte, um einer Bestrafung aus dem Wege zu gehen, der seine Freunde und Verbündeten in Gefahr gebracht hatte, um selbst sicher zu sein, er mußte jetzt vor dem Arm der Gerechtigkeit fliehen, die nicht ruhen würde, bis sie ihn gefaßt hatte.

 

Und sie hatte ihn gesehen, diese Frau an seiner Seite. Sie würde als Zeugin vor Gericht erscheinen und gegen ihn aussagen. Und dann würde man ihn henken – in dem kleinen Raum, von dem Jim Steele gesprochen hatte. Die Gedanken durchzuckten sein Gehirn. Aber als sich das Flugzeug vom Boden erhoben hatte, wurde er wieder ruhiger.

 

Kapitel 45

 

45

 

Er würde einfach angeben, daß Bronson ihn getötet habe. Das war die beste Verteidigung für ihn. Bronson, der ihn jetzt rettete und im Fall der Not sein Leben für ihn gelassen hätte, wollte er die Tat in die Schuhe schieben.

 

Das Flugzeug lag ruhig in der Luft, und der Motor arbeitete tadellos. Der Abendwind, blies, und die Maschine schaukelte von einer Seite auf die andere. Zuerst fühlte sich Eunice elend, aber sie nahm sich zusammen und gewöhnte sich allmählich an diese Bewegung.

 

Sie konnte jetzt das Meer sehen. Die Lichtgarben der Leuchttürme erschienen von links und rechts. Bristol, ein einziges Lichtermeer, kam in Sicht. Kleine Lichter waren auf dem Strom und in der Bucht zu sehen, in die er mündete.

 

Sie überflogen die nördliche Küste des Kanals von Bristol, wandten sich dann nach Westen, dem Ufer folgend, und dann plötzlich nach Süden. Das Land mit seinem Lichtgürtel blieb hinter ihnen. Zwanzig Minuten später feuerte Bronson die Signalpistole ab. Eine leuchtende grüne Kugel erschien, und sofort kam von See aus die Antwort. Digby zog die Schnallen an der Schwimmweste des Mädchens enger an und kontrollierte seine eigene.

 

»Machen Sie auch meinen Schwimmgürtel fest«, rief Bronson durch das Telefon.

 

Digby erfüllte seinen Wunsch. Er machte sich lange damit zu schaffen und band auch noch einen anderen festen Riemen daran.

 

In langem Gleitflug ging die Maschine in der Richtung des grünen Lichts nieder, das dauernd brannte. Eunice konnte nun die eleganten Umrisse der Jacht und die grünen und roten Lichter an Bord erkennen.

 

Das Flugzeug beschrieb einen Kreis und kam immer niedriger und niedriger, bis es nur noch einige Meter über dem Meeresspiegel war. Bronson brachte den Motor zum Stehen und setzte die Maschine ins Wasser. Sie waren nicht mehr als fünfzig Meter von dem wartenden Rettungsboot entfernt.

 

Plötzlich sank das Flugzeug, aber sie schwammen auf dem Wasser. Es war ein merkwürdiges, nicht unangenehmes Gefühl, denn das Wasser war ungewöhnlich warm. Sie hörte einen Schrei und wandte sich um, aber Digby faßte ihre Hand.

 

»Bleiben Sie dicht bei mir, Sie können in der Dunkelheit verlorengehen.«

 

Sie wußte, daß er nur an sich selbst dachte. Plötzlich flackerte ein Lichtschein auf, der von dem Boot ausging, das auf sie zuruderte. Sie schaute sich wieder um.

 

»Wo ist der Flugzeugführer?«

 

Bronson war nirgends zu sehen. Digby gab sich nicht die Mühe, zu antworten. Er streckte seine Hand aus und packte den Rand des Bootes. In der nächsten Minute wurde auch Eunice aus dem Wasser gezogen. Sie befanden sich in einem kleinen Kutter, der mit braunen Männern besetzt war. Zuerst dachte sie, es seien Japaner.

 

»Wo ist Bronson?« fragte sie aufs äußerste erschreckt, aber Digby erwiderte nichts. Er saß unbeweglich und vermied es, sie anzusehen. Sie hätte vor Entsetzen laut aufschreien mögen. Bronson war mit dem Flugzeug versunken. Den Riemen, mit dem Digby Bronsons Schwimmweste befestigte, hatte er an den Sitz selbst angeschnallt, und zwar so fest, daß es dem Flieger unmöglich war, sich zu befreien.

 

Digby stieg zuerst an Deck. Er wandte sich um und reichte ihr die Hand.

 

»Willkommen an Bord des ›Pealigo‹«, sagte er spöttisch.

 

Es war also doch nicht Furcht, was ihn vorhin hatte schweigen lassen. Sie konnte nur mit Abscheu auf diesen Mann blicken.

 

»Willkommen, meine kleine Braut«, sagte er noch einmal.

 

Sie wußte nun, daß der Mann,, der nicht gezögert hatte, zwei seiner Kameraden kaltblütig zu morden, kein Mitleid mit ihr haben würde.

 

Eine weißgekleidete Stewardeß näherte sich ihr und sagte etwas zu ihr in einer Sprache, die sie nicht verstand. Aber sie vermutete, daß die Frau sie in ihre Kabine führen sollte. Sie war froh, von Digbys Gesellschaft befreit zu sein, ging die Treppe hinunter durch einen mit Rosenholz getäfelten Gang und kam dann in ihre Kabine. Der Luxus, mit dem dieser Raum ausgestattet war, machte trotz allem Eindruck auf sie. Der Brasilianer mußte ein Vermögen auf die Einrichtung dieses Schiffes verschwendet haben.

 

Der Salon nahm die ganze Breite der Jacht ein. Er erhielt sein Licht durch künstlerisch verzierte Fenster. Ein großer, mit schwerer Seide bezogener Diwan stand an der einen Seite des Raumes, an der anderen eine massiv silberne Bettstelle, die mit rosenfarbigen Vorhängen drapiert war. Mit roter Seide verhangene Beleuchtungskörper erhellten den Raum.

 

Eunice war neugierig, ob noch eine andere Frau an Bord war. Sie fragte die Stewardeß, aber die verstand kein Englisch, und die paar Brocken Spanisch, die Eunice gelernt hatte, reichten nicht aus, um sich mit ihr zu unterhalten.

 

Hinter den seidenen Vorhängen entdeckte sie eine Tür, die zu einem kleinen Wohnzimmer führte, und dahinter lag ein Badezimmer.

 

Auf dem Bett waren neue Kleider und Wäsche für sie ausgebreitet. Es war an alles bis in die letzte Kleinigkeit gedacht. Sie entließ die Stewardeß und verriegelte die Tür. Dann zog sie sich um. Zum drittenmal wechselte sie ihre Kleider vollständig, seitdem sie Groats Haus am Grosvenor Square verlassen hatte.

 

Das Schiff war jetzt in Fahrt. Sie konnte das Stampfen der Maschinen deutlich wahrnehmen, auch das leise Schaukeln, das die wenig bewegte See hervorbrachte.

 

Sie war gerade fertig, als Digby Groat sich meldete.

 

»Wollen Sie nicht mit nach oben kommen zum Essen?« sagte er.

 

Er war genau wie früher, vollständig beherrscht und ruhig.

 

Sie schrak zurück und wollte die Tür wieder schließen, aber er packte sie einfach am Arm und zog sie auf den Gang hinaus. »Sie werden sich anständig betragen, während Sie an Bord sind«, sagte er rauh.

 

»Ich bin hier der Herr und habe zu befehlen, und ich wüßte nicht, warum ich jetzt noch besonders höflich zu Ihnen sein sollte.«

 

»Sie gemeiner Mensch, Sie Schuft!« rief sie in flammendem Zorn.

 

Er lachte über ihre ohnmächtige Wut. »Glauben Sie ja nicht, daß Sie frei von Strafe ausgehen, weil Sie eine Frau sind. Seien Sie vernünftig, und kommen Sie mit zum Speisezimmer.«

 

»Ich will nicht essen!«

 

»Sie gehen sofort mit mir in den Speisesalon, ob Sie essen wollen oder nicht!«

 

Außer ihnen nahm niemand an der Tafel Platz. Ein dunkler Steward bediente sie. Auch dieser Raum war aufs prächtigste ausgestattet. Das ganze Schiff war ein Palast in kleinem Maßstab, mit hängenden, prächtigen Kronleuchtern, herrlichen Blumen und Marmorkaminen.

 

Ein hervorragendes Essen wurde aufgetragen, aber Eunice dachte, sie müßte ersticken, wenn sie auch nur einen Bissen nähme.

 

»Essen Sie!« sagte Digby und begann selbst mit der Suppe.

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Wenn Sie nicht wollen«, fuhr er böse fort und kniff die Augenlider zusammen, »wenn Sie hier widerspenstig sind, meine Freundin, dann werde ich schon einen Weg finden, Sie zu zwingen. Erinnern Sie sich daran?« Er zog den verhaßten schwarzen Kasten aus der Tasche und legte ihn auf den Tisch. »Wenn ich Ihnen eine Spritze gebe, folgen Sie mir!«

 

Sie nahm gehorsam ihren Löffel und begann zu essen. Er beobachtete sie mit einem ironischen Lächeln.

 

Zu ihrem Erstaunen erkannte sie, daß sie hungrig war und lehnte auch die späteren Gänge nicht ab. Nur den Wein, den der Steward für sie eingegossen hatte, wollte sie nicht trinken. Digby drängte sie auch nicht dazu.

 

»Sie sind töricht, Eunice, wirklich töricht.« Er steckte sich eine Zigarre an, ohne um Erlaubnis zu fragen, lehnte sich in seinen Stuhl zurück und schaute sie kritisch an. »Ein wunderbares Leben erwartet Sie, wenn Sie nur vernünftig sind. Warum machen Sie sich denn Gedanken wegen eines solchen Menschen wie Steele – er ist doch ein armer Bettler, der keinen Pfennig in der Tasche hat!.«

 

»Sie vergessen, daß ich kein Geld brauche, Mr. Groat.« Wenn er Jim erwähnte, fühlte sie sich immer besonders von ihm abgestoßen. »Ich besitze das Geld und die Liegenschaften, die Sie mir stehlen konnten, aber wenn Sie erst verhaftet und im Gefängnis sind, werde ich alles wiederbekommen, was Sie jetzt im Besitz haben, einschließlich dieser Jacht, wenn sie Ihnen gehört.«

 

Er lachte über ihre Antwort. »Ich liebe Ihren klaren Verstand. Sie können mich nicht ärgern, mein Liebling. Ich freue mich, daß Sie unsere Jacht lieben, auf der wir unsere Flitterwochen verbringen werden.«

 

Sie erwiderte nichts.

 

»Wenn Sie wüßten, wie sehr ich Sie liebe –«, er lehnte sich über den Tisch, nahm ihre Hand und sah sie begehrlich an, »wenn Sie wüßten, Eunice, daß ich bereit bin, mein Leben dafür zu geben, Sie glücklich zu machen, würde Sie das nicht umstimmen können?«

 

»Nichts kann meine Gefühle gegen Sie ändern! Sie könnten sich meine Dankbarkeit nur erringen, wenn Sie das Schiff im nächsten Hafen anlegen lassen und mich zur Küste bringen.«

 

»Und was soll dann aus mir werden?« fragte er kühl. »Versuchen Sie doch einmal so vernünftig wie schön zu sein, Eunice. Ich werde mich freuen, wenn ich Sie glücklich machen kann, solange ich dazu in der Lage bin. Aber ich wünsche nicht, ins Gefängnis oder an den Galgen zu kommen.« Er zitterte, und war wütend auf sich selbst, daß er sich so schwach zeigte. Und er haßte sie, weil sie es bemerkt hatte.

 

»Wohin geht diese Fahrt?« fragte sie.

 

»Das Schiff fährt nach Südamerika. Vielleicht interessiert es Sie, daß wir einer Route folgen, die gewöhnlich nicht genommen wird. Wir werden an der Küste von Irland entlangfahren und den Weg einschlagen, den die Seeleute die westliche Linie nennen. Erst wenn wir in einer Entfernung von etwa tausend Meilen von Long Island sind, werden wir uns nach Süden wenden. Hierdurch vermeiden wir es, von den amerikanischen Schiffen gesichtet und erkannt zu werden, und wir vermeiden ebenfalls –«

 

Der Mann, der in diesem Augenblick eintrat, mußte nach Eunices Vermutung der Kapitän sein. Er trug drei goldene Reifen ums Handgelenk, aber er konnte ihr als Seemann nicht gefallen. Er war klein und hatte einen lahmen Fuß. Sein lederartiges Gesicht und sein steifes, schwarzes Haar bestärkten sie noch mehr in ihrer Ansicht, daß es ein japanisches Schiff sein müsse.

 

»Darf ich Ihnen den Kapitän vorstellen?« sagte Digby. »Es wäre gut, wenn Sie sich mit ihm etwas anfreundeten.«

 

Eunice dachte bei sich, daß die Möglichkeit, sich mit diesem Mann zu verständigen, oder gar Freundschaft mit ihm zu schließen, sehr gering sei.

 

»Haben Sie etwas Besonderes, Kapitän?« fragte Digby auf portugiesisch.

 

»Wir haben soeben eine drahtlose Botschaft bekommen. Ich dachte, es sei gut, wenn Sie sie sehen und lesen würden.«

 

»Ich habe ganz vergessen, daß wir drahtlose Telegrafie an Bord haben«, erwiderte Digby, als er die Nachricht entgegennahm.

 

›An alle Schiffe, die nach Westen und nach Süden fahren sowie nach England zurückkehren. Achten Sie auf die Jacht ›Pealigo‹. Berichten Sie drahtlos Lage und Kurs an Polizeiinspektor Rite, Scotland Yard.‹

 

Eunice verstand nicht, worüber die beiden sprachen, aber sie sah, wie Digbys Stirn sich runzelte, und vermutete, daß es eine schlechte Nachricht war. Und wenn sie für ihn schlecht war, dann war sie gut für sie.

 

Ihre Stimmung wurde besser.

 

»Eunice, ich glaube, Sie gehen jetzt besser zu Bett. Ich muß noch mit dem Kapitän sprechen.«

 

Sie erhob sich, aber nur der Kapitän stand auf.

 

»Bleiben Sie doch sitzen«, sagte Digby verächtlich. »Sie sind doch nicht hier an Bord, um Mrs. Digby Groat Aufmerksamkeiten zu erweisen.«

 

Eunice hatte die letzten Worte nicht mehr gehört, denn sie war so schnell wie möglich aus dem Speisezimmer gegangen. Sie kehrte zu ihrer Kabine zurück, schloß die Tür und wollte den Riegel vorschieben, aber zu ihrem Entsetzen sah sie, daß er während des Abendessens abgeschraubt worden war. Auch fand sie keinen Schlüssel, mit dem sie die Tür hätte abschließen können.