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Ihr Mut sank, und es kam ihr mit niederschmetternder Gewißheit zum Bewußtsein, daß ihre Schicksalsstunde gekommen war. Sie hatte Digby wegen seiner Schurkereien verhöhnt; aber sie wußte, daß er kein Mitleid mit ihr haben würde. Ganz gegen ihre Absicht hatte sie ihn bei seinen Plänen unterstützt, als sie zugab, die Erbin des Dantonschen Vermögens zu sein.

 

Die Tür ihres Raumes wurde zugeschlagen, der Schlüssel umgedreht, und sie blieb allein. Später hörte sie wieder das Summen des Propellers, als der Spanier den Motor reparierte.

 

Sie mußte sehen, fortzukommen – sie durfte nicht hierbleiben; unter allen Umständen mußte sie entfliehen! Aber die Fenster waren befestigt und verriegelt, und es war kein anderer Ausgang als die Tür vorhanden. Ihre einzige Hoffnung blieb Jim, der wahrscheinlich ganz in ihrer Nähe genau wie sie selbst gefangengehalten wurde.

 

Digby verlor keine Zeit. Er schickte Silva mit dem Auto fort, damit er so schnell wie möglich zur Küste fahren und dem Kapitän des ›Pealigo‹ eine Botschaft überbringen solle. Das Schiff sollte sich bereithalten, ihn noch heute abend an Bord zu nehmen. Er schrieb schnell die verschiedenen Signale auf. Wenn Bronson in der Nähe der Küste eine grüne Leuchtkugel abschoß, sollte auf der Jacht ebenfalls ein grünes Licht abgebrannt werden. Ein Boot sollte sofort an der Jacht heruntergelassen werden, um sie auf See aufzufischen.

 

Nachdem der Bote fort war, erinnerte er sich daran, daß er dem Kapitän dieselben Befehle schon gegeben hatte und daß der Spanier unmöglich die Jacht heute abend noch erreichen konnte.

 

In ruhigeren Augenblicken hatte Digby andere Vorbereitungen getroffen. Drei Schwimmwesten waren ausprobiert und ins Flugzeug gebracht worden. Pistolen zum Abschießen von Leuchtkugeln, Landungsfackeln und sonstige Gerätschaften, die zu einem Nachtflug notwendig waren, fanden sich im Gepäckraum der Maschine. Bronson war jetzt vollständig beschäftigt mit dem Motor, denn der Fehler war noch nicht ganz behoben. Digby Groat ging vor dem Hause auf und ab und rauchte vor Ungeduld und Furcht eine Zigarette nach der anderen. Er hatte Eunice noch nicht gesagt, daß sie sich fertig machen solle, damit mußte er bis zum letzten Augenblick warten. Er wollte nicht noch einen Auftritt erleben. Er wollte ihr noch eine Spritze geben; das übrige würde dann leicht sein.

 

Fuentes trat zu ihm auf die Terrasse hinaus, denn er war begierig, die letzten Nachrichten zu erfahren.

 

»Glauben Sie, daß die Auffindung von Villas Leiche die Leute hier auf unsere Spur zieht?«

 

»Wie kann ich das wissen?« fuhr ihn Groat an. »Kommt es darauf an? In einer Stunde werden wir fort sein!«

 

»Sie werden fortkommen«, sagte der Spanier mit Betonung, »aber ich nicht. Ich habe kein Flugzeug, das mich außer Landes bringt. Xavier hat auch keines, aber er ist noch besser daran als ich, er hat das Auto. Können Sie mich nicht mitnehmen?«

 

»Das ist nicht möglich«, erwiderte Digby gereizt. »Heute abend werden sie noch nicht kommen, und Sie brauchen sich deshalb nicht aufzuregen. Bis morgen früh können Sie schon eine weite Strecke zwischen sich und Kennett Hall gelegt haben.«

 

»Was soll denn aus dem Mann werden?« Fuentes zeigte nach dem Westflügel, wo Jim gefangen saß.

 

Plötzlich kam Digby ein Gedanke. Vielleicht konnte er seinen bis dahin treuen Diener, der sklavisch seinen Befehlen gehorcht hatte, veranlassen, noch eine letzte Instruktion auszuführen.

 

»Fuentes, nur von diesem Mann droht Gefahr. Sehen Sie denn nicht ein, daß er uns alle vernichten kann? Aber niemand außer Ihnen und mir weiß, daß er hier ist.«

 

»Und außer diesem niederträchtigen Engländer«, setzte Fuentes hinzu.

 

»Masters weiß nicht, was mit ihm geschehen ist. Sagen Sie doch selbst, sollen wir diesen Mann leben lassen, damit er gegen uns aussagen kann, wenn ein kleiner Schlag über den Schädel genügt, um ihn für immer verstummen zu lassen?«

 

Fuentes richtete seine dunklen Augen auf Digby und zwinkerte. »Nun ja, mein lieber Mr. Groat«, sagte er spöttisch, »dann töten Sie ihn doch. Es ist recht gemein von Ihnen, daß ich zurückbleiben soll, um nachher mit der Leiche aufgefunden zu werden. Ich habe einen fürchterlichen Schrecken vor englischen Gefängnissen und will unter keinen Umständen deswegen meinen Hals riskieren.«

 

»Sind Sie plötzlich so furchtsam geworden?«

 

»Ich fürchte mich genauso wie Sie. Wenn Sie wollen, daß er getötet wird, so tun Sie es doch selbst. Ich weiß nicht einmal, ob ich das zulassen würde; denn Sie werden fortgehen, und ich muß hierbleiben. Nein, nein, wir wollen diesen Kerl in Ruhe lassen. Er ist ganz tüchtig.«

 

Digby wandte sich verärgert ab.

 

›Der starke Kerl‹ hatte sich in diesem Augenblick mit übermenschlicher Anstrengung auf seine Füße erhoben. Es war ein akrobatisches Meisterstück, und etwas von der Gewandtheit eines Schlangenmenschen gehörte dazu. Er hatte sich mit dem Kopf gegen die Mauer gestützt, während er seine Füße langsam auf den Boden brachte.

 

Der Abend brach schon herein. Nach dem Summen des Motors zu urteilen, war die Reparatur beinahe beendet, und Digby Groat würde nun wohl bald aufbrechen. Als er ihn durch die Spalten der Fensterläden in einer Fliegerjacke sah, wurde er in seiner Ansicht bestärkt. Von Eunice hatte er nichts entdecken können.

 

Er hüpfte vorsichtig zum Fenster und lauschte. Draußen regte sich nichts. Er wartete, bis Bronson den Motor wieder anstellte, drückte mit seinen Ellenbogen eine Glasscheibe ein und hob seine zusammengebundenen Hände mit der größten Anstrengung zu dem zerbrochenen Fenster. Er mußte sich dazu auf die Zehenspitzen stellen. Dann rieb er seine Fesseln an den Glassplittern durch, die noch fest im Rahmen saßen. Seine Hände wurden rot und schwollen an, und er fühlte keine Kraft mehr in den Handgelenken. Sorgfältig massierte er sie, bis er wieder Gewalt über sie bekam.

 

Nachdem er die Hände frei gemacht hatte, war es eine Kleinigkeit, mit den Glassplittern auch die Fußfesseln zu durchschneiden. Aber er war immer noch im Zimmer eingeschlossen. Die Fensterläden würden kein unüberwindliches Hindernis bieten. Er sah sich im Raum um und fand nichts, das er irgendwie als Werkzeug hätte benutzen können. Er trat mit seinen gewandten Füßen gegen die Läden, doch entdeckte er, daß sie aus Eisen waren. Die einzige Möglichkeit blieb also die Tür, und die war zu stark, als daß er sie hätte eindrücken können.

 

Er horchte am Schlüsselloch, es war kein Geräusch wahrzunehmen. Der Himmel wurde dunkler, und die Nacht brach herein. Er wußte, daß das Flugzeug bald starten würde. Der Gedanke machte ihn fast wahnsinnig. Unter Mißachtung aller Vorsicht warf er sich mit seiner Schulter gegen die Türfüllung. Aber sie widerstand, auch den Tritten seiner schweren Stiefel leistete sie Widerstand. Dann hörte er einen Laut draußen, der sein Herz fast stillstehen ließ.

 

Eunice schrie schrill auf. Wieder und wieder warf er sich mit aller Kraft gegen die Tür; sie rückte und rührte sich nicht. Dann hörte er einen Ruf, lief zum Fenster und lauschte. »Die Polizei kommt!« schrie Fuentes. Jim sah ihn vollständig erschöpft am Fenster vorbeischwanken und hörte, daß Digby ihn, scharf anfuhr. Gleich darauf herrschte absolute Stille.

 

Jim wischte sich mit dem Rockärmel den Schweiß von der Stirn. Verzweifelt schaute er sich um. Plötzlich fiel ihm der alte eiserne Rost des Kamins in die Augen, und schon packte er das schwere Gerät und donnerte damit zweimal gegen die Tür. Sie gab endlich nach. Er zwängte sich durch die zertrümmerte Füllung und eilte aus dem Hause.

 

Als er um die Ecke bog, hörte er das Summen des Flugzeugmotors, das plötzlich von dem Knall eines Schusses übertönt wurde. Er sprang über das Geländer, lief durch den Garten und kam gerade noch zurecht, um zu sehen, wie sich die Maschine in die Luft erhob.

 

»Mein Gott«, stöhnte Jim, als sie schnell am dunklen Himmel verschwand.

 

Aus dem hohen Gras in der Nähe des Startplatzes erhob sich eine Hand und sank wieder schwach zu Boden. Jim rannte dorthin und kniete gleich darauf neben Fuentes. Der Mann lag in den letzten Zügen. Jim wußte das, noch ehe er die schwere Wunde in der Brust untersucht hatte.

 

»Er hat mich niedergeschossen«, sagte Fuentes, »und ich war sein Freund … Ich bat ihn nur, mich in Sicherheit zu bringen … Und er hat mich erschossen!«

 

Der Mann lebte noch, als die Polizei kam. Mit ihr erschien auch Septimus Salter, der in seiner Eigenschaft als Friedensrichter die Zeugenaussage des Sterbenden zu Protokoll nahm.

 

»Deswegen kommt Digby Groat an den Galgen, Steele.«

 

Jim antwortete nicht. Er hatte seine eigenen Ansichten darüber, wie Digby Groat enden würde.