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Eunice war Lady Marys Tochter! Es gab nun keinen Zweifel mehr. Seine Vermutung war also doch richtig gewesen. Aber wie war sie nach Südafrika gekommen? Dieses Geheimnis mußte noch gelöst werden.

 

Mrs. Weatherwale war sehr verwundert und dachte einen Augenblick, ihr Besucher sei verrückt geworden.

 

»Würden Sie so gut sein, den Abschnitt, der davon handelt, daß Digby das kleine Kind am Handgelenk verbrannt hat, noch einmal zu lesen«, bat Jim.

 

Nachdem sie ihn besorgt angesehen hatte, kam sie seinem Wunsch nach.

 

»Das kleine Mädchen verschwand bald darauf«, erklärte sie.

 

»Eins der Kindermädchen, die Jane Groat engagiert hatte, nahm es mit sich in einem Boot aufs Meer hinaus, und das Boot muß von irgendeinem großen Schiff gerammt worden sein.«

 

Plötzlich kam Jim ein Gedanke.

 

Welche Schiffe fuhren denn an dem Unglückstag östlich an der Goodwin-Sandbank vorbei (denn dort in der Nähe mußte der Unfall passiert sein)? Das müßte er sofort herausfinden, auch diesen Brief, den Mrs. Groat an ihre Freundin geschrieben hatte, mußte er mitnehmen, um ihn Septimus Salter vorzulegen. Aber Mrs. Weatherwale setzte ihm Widerstand entgegen, und Jim mußte seine ganze Überredungskunst aufwenden, um ihr alle Zusammenhänge zu erklären.

 

»Wie, es handelt sich um das schöne Mädchen, das ich im Hause von Mrs. Groat gesehen habe?«

 

»Ja. Sie hat dieses Kennzeichen am Handgelenk. Es ist eine Brandwunde. Ich besinne mich ganz deutlich darauf. Auch Mrs. Groat muß wissen, daß sie die Tochter Lady Marys ist, denn als sie die Narbe sah, brach sie zusammen.«

 

»Ich möchte nicht, daß Jane Groat in Unannehmlichkeiten kommt. Sie ist stets eine gute Freundin gewesen. Aber schließlich scheint es doch nur recht und billig zu sein, daß das hübsche, junge Mädchen diesen Brief bekommt. Sie haben Glück, ich hätte ihn beinahe verbrannt.«

 

»Gott sei Dank, daß Sie das nicht getan haben«, sagte Jim glücklich.

 

Mit dem nächsten Zug fuhr er nach London zurück und begab sich sofort in das Büro von Mr. Salter.

 

»Wenn Ihre Annahme richtig ist«, sagte der Rechtsanwalt, nachdem er Jim genau zugehört hatte, »dürfte es nicht mehr schwierig sein, das fehlende Glied zwischen dem Verschwinden der kleinen Dorothy und dem Auftauchen der Eunice Weldon in Kapstadt zu finden. Da wir bestimmte Nachricht aus Südafrika haben, daß Eunice Weldon in zartem Alter gestorben ist, kann Eunice nicht das gleiche Mädchen sein. Ich möchte Ihnen den Rat geben, Ihre Nachforschungen zu beschleunigen, denn übermorgen händige ich das große Vermögen der Dantons dem neuen Rechtsanwalt von Mrs. Groat aus, und soweit ich sehen kann, wird Mr. Digby Groat die ganzen Liegenschaften sofort verkaufen. Der Landbesitz ist allein vierhunderttausend Pfund wert. Auf dem Gelände stehen vierundzwanzig Häuser, außerdem gehören sechs ziemlich große Güter dazu. Sie besinnen sich doch, daß er vor einiger Zeit hierher ins Büro kam und Erkundigungen einzog, ob er das Recht habe zu verkaufen. Ich habe mit Bennett – das ist der neue Anwalt – erst heute morgen eine Konferenz gehabt. Daraus ging ziemlich klar hervor, daß Digby beabsichtigt, alles so schnell wie möglich loszuschlagen. Er zeigte Bennett die notarielle Vollmacht, die ihm seine Mutter heute morgen gab.«

 

Der Rechtsanwalt beurteilte Digby Groats Absichten richtig. Das Testament, das Eunice fand, hatte ihn sehr erschreckt. Er war fest entschlossen, nicht länger von der Gnade oder Ungnade einer verrückten alten Frau abhängig zu sein, die ihn so wenig wie er sie leiden mochte. Er hatte seine Mutter veranlaßt, den Anwalt zu wechseln, nicht weil er irgendein Vorurteil gegen die Firma Salter hatte, sondern weil er einen neuen Mann haben wollte, der mit den Verhältnissen nicht so vertraut war.

 

Digby hatte sich dafür entschieden, alle Ländereien und Einkünfte aus dem Dantonschen Erbe in bares Geld umzuwandeln – in bares Geld, über das er disponieren konnte.

 

Das Geheimnis all seiner Geschäfte in der City war die Gründung eines Syndikats, das die Dantonschen Ländereien gegen eine bare Kaufsumme erwerben sollte. Er hatte dabei auch vollen Erfolg gehabt, denn er hatte reiche Finanzleute für seinen Plan interessieren können, und es war alles so weit vorbereitet, daß die Verträge nur noch unterzeichnet zu werden brauchten, um den Abschluß perfekt zu machen.

 

»Genügen denn diese Tatsachen noch nicht, um zu beweisen, daß Eunice die Tochter Lady Marys ist?«

 

»Nein, es muß noch mehr Material beigebracht werden. Aber das dürfte Ihnen doch jetzt nicht mehr schwerfallen. Sie kennen das Datum, an dem das Kind verschwand. Es war der 21. Juni 1911.«

 

*

 

Jim ging zuerst zur Union African Steamship Company und kam gerade dort an, als man die Geschäftsräume schließen wollte.

 

Glücklicherweise traf er noch den stellvertretenden Prokuristen, der ihn in sein Büro nahm und alle Akten durchsuchte.

 

»Keins unserer Schiffe hat die Themse am 20. oder 21. Juni verlassen, nebenbei fährt nur unsere Nebenlinie von dort ab, die Postdampfer gehen von Southampton in See. Das letzte Schiff, das Southampton passierte, war die ›Central Castle‹. Sie beförderte Truppen nach Südafrika und legte in Plymouth am 20. an. An Margate muß sie drei Tage früher vorbeigefahren sein.«

 

»Welche anderen Linien fahren denn nach Südafrika?«

 

Der Geschäftsführer gab ihm eine Liste, die bedeutend größer war, als er vermutet hatte.

 

Er eilte heim, um Lady Mary die Neuigkeiten zu bringen, aber er traf sie nicht zu Hause an. Ihre Bediente, die geheimnisvolle Madge Benson, sagte ihm, daß sie die Wohnung verlassen habe und erst in zwei oder drei Tagen zurückerwartet werde. Nun erinnerte er sich daran, daß Lady Mary ihm von der Absicht gesprochen hatte, nach Paris zu reisen.

 

»Wissen Sie, wo sie in Paris Quartier nehmen wollte?«

 

»Ich wußte nicht einmal, daß sie nach Paris gegangen ist«, sagte sie lächelnd. »Lady Mary erzählt mir niemals etwas von ihren Plänen.«

 

Jim seufzte.

 

Vor morgen konnte er nichts beginnen, er mußte warten. Nun fiel es ihm schwer aufs Herz, daß er sich mit Eunice überworfen hatte. Er mußte lächeln. Was würde sie dazu sagen, wenn sie erführe, daß die Dame, die ihn Jim nannte, ihre eigene Mutter war!

 

Plötzlich kam ihm ein Gedanke. Eine Eunice Weldon mochte ihm wohl vergeben, ihn heiraten und seinen grauen Lebensweg in einen blumigen Glückpfad verwandeln, aber eine Dorothy Danton war eine der reichsten Erbinnen, und Jim Steele war ein armer Mann. Unter diesen Umständen konnte er nicht an eine Ehe denken.

 

Er begann mit seinen Nachforschungen am nächsten Morgen, sobald die Büros geöffnet wurden. Aber er ging von einer Firma zur anderen und wurde stets um eine Hoffnung ärmer. Schließlich machte er traurig seinen letzten Besuch bei der ›African Coastwise Line‹.

 

»Ich glaube, es ist zwecklos, daß Sie dort noch hingehen«, hatte ihm der Sekretär in dem Büro gesagt, in dem er eben vorgesprochen hatte. »Die lassen ihre Dampfer überhaupt nicht von London abfahren. Es ist eine Liverpooler Firma. Soviel mir bekannt ist, haben wir noch niemals ein Schiff dieser Gesellschaft im Londoner Hafen gesehen. Ich weiß es zufällig genau, weil ich früher Zollbeamter war.«

 

Die ›Coastwise Line‹ war eine altmodische Firma und hatte auch ein altmodisches Büro in jenem Teil Londons, an dem die moderne Zeit spurlos vorübergegangen war. Die beiden Seniorchefs waren alte Leute, die fast das Aussehen von Patriarchen hatten.

 

Als Jim eintrat, saßen sich die beiden an einem gemeinsamen Schreibpult gegenüber.

 

Jim wurde mit altmodischer Liebenswürdigkeit begrüßt. Ein Bürodiener, der fast ebenso alt war wie die Inhaber der Firma, brachte ihm einen Sessel.

 

Die beiden Herren hörten seinen Erklärungen zu.

 

»Ich glaube, daß niemals einer unserer Dampfer durch die Straße von Dover gefahren ist«, sagte der eine kopfschüttelnd.

 

»Obwohl unser Hauptbüro hier in London ist, gehen doch alle unsere Dampfer von Liverpool ab.«

 

»Dann hat es ja keinen Zweck, daß ich Sie weiter belästige«, sagte Jim mit schwerem Herzen.

 

»Aber Sie belästigen uns durchaus nicht«, sagte einer der beiden Partner. »Um der Sache auf den Grund zu gehen, können wir ja unsere Fahrtenliste vom Juni 1911 durchsehen.«

 

Er klingelte und gab einem Sekretär den Auftrag, sie zu bringen. Gleich darauf kam der Mann mit einem großen Buch zurück und legte es auf den Tisch. Jim beobachtete den älteren Herrn genau, als er sorgfältig die langen Listen durchlas. Plötzlich hielt er an.

 

»Erinnern Sie sich noch«, sagte er zu seinem Teilhaber, »daß wir damals eine Fahrt für die ›Union Africa Line‹ übernommen hatten, weil sie zu stark beschäftigt war?«

 

»Ja, ich kann mich genau besinnen. Es war die ›Battledore‹, die wir damals von Tilbury abgehen ließen. Sie war das einzige unserer Schiffe, das von der Themse ausfuhr.«

 

»An welchem Tag fuhr sie denn ab?« fragte Jim begierig.

 

»Um acht Uhr morgens am 21. Juni. Lassen Sie mich einmal sehen.« Er erhob sich und ging zu der großen Karte, die an der Wand hing. »Dann muß sie ungefähr um zwölf Uhr an dem Leuchtturm von North Foreland vorbeigekommen sein. Und wann ereignete sich der Unglücksfall?«

 

»Um Mittag«, antwortete Jim heiser.

 

»Ich kann mich nicht besinnen, daß etwas Besonderes von der Fahrt berichtet wurde.«

 

»Kann man denn nicht irgendwie herausfinden, was auf dieser Reise passierte?«

 

»Da müßten wir das Logbuch des Schiffes einsehen. Hoffentlich sind wir dazu in der Lage. Die ›Battledore‹ wurde während des Krieges torpediert, aber Captain Pinnings, der das Kommando über das Schiff führte, lebt.«

 

»Und sein Logbuch?« fragte Jim.

 

»Darüber müssen wir Nachforschungen anstellen. Alle Logbücher werden in unserem Büro in Liverpool aufbewahrt. Ich werde heute noch schreiben und unseren Geschäftsführer dort bitten, das Buch herzuschicken, wenn es noch in unserem Besitz ist.«

 

»Es ist äußerst dringend«, sagte Jim ernst. »Sie waren so liebenswürdig zu mir, daß ich Sie nicht drängen würde, wenn es nicht eine so äußerst wichtige Sache wäre. Könnte ich denn nicht nach Liverpool reisen und das Logbuch einsehen?«

 

»Die Mühe kann ich Ihnen sparen«, sagte der eine Teilhaber.

 

»Unser Geschäftsführer aus Liverpool kommt morgen nach London. Er kann das Buch mitbringen, wenn es noch existiert. Ich werde nach Liverpool telefonieren lassen.«

 

Damit mußte sich Jim zufriedengeben, obwohl es ein Verlust von weiteren vierundzwanzig Stunden war.

 

Er berichtete Mr. Salter, was er erreicht hatte, und entschied sich dann zu einer kühnen Tat. Vor allem mußte Eunice beschützt werden, und obgleich ihm nichts von einer unmittelbaren Gefahr bekannt war, mußte er doch unter allen Umständen versuchen, sie sobald wie möglich aus dem Hause am Grosvenor Square zu entfernen. Wenn doch nur Lady Mary in London gewesen wäre!

 

Er fuhr zu dem Hause Digby Groats und wurde sofort in dessen Arbeitszimmer geführt.

 

»Wie geht es Ihnen, Mr. Steele? Nehmen Sie bitte Platz. Hier sitzt man viel bequemer als unter dem Tisch.«

 

Jim lächelte.

 

»Nun, was kann ich für Sie tun?«

 

»Ich möchte Miss Weldon sehen.«

 

»Ich glaube, die Dame ist ausgegangen, aber ich will einmal nachsehen lassen.« Er klingelte. Gleich darauf trat ein Mädchen ein.

 

»Bitte, rufen Sie Miss Weldon hierher.«

 

»Es ist gerade nicht notwendig, daß ich sie hier spreche«, erklärte Jim.

 

»Machen Sie sich keine Sorge«, sagte Digby lächelnd. »Ich werde Sie sofort allein lassen.«

 

Das Dienstmädchen kehrte mit der Nachricht zurück, daß Eunice nicht zu Hause sei.

 

»Nun gut«, sagte Jim, nahm seinen Hut mit einem Lächeln und verabschiedete sich von dem ebenfalls sehr höflichen Mr. Groat. »Ich werde draußen warten, bis sie zurückkommt.«

 

»Sie besitzen eine bewunderungswürdige Dickköpfigkeit«, murmelte Digby, »vielleicht kann ich sie selbst finden.«

 

Er ging hinaus und kam in einigen Minuten mit Eunice zurück.

 

»Dem Mädchen ist nicht richtig Bescheid gesagt worden, Miss Weldon ist tatsächlich nicht ausgegangen.«

 

Er machte eine kurze, höfliche Verbeugung vor ihr und verließ den Raum.

 

Eunice legte die Hände auf den Rücken und schaute den Mann an, auf den sich ihre ganzen Hoffnungen und Wünsche konzentriert hatten und über dessen Verhalten sie so ungeheuer empört war.

 

»Sie wollten mich sprechen, Mr. Steele?«

 

Ihre Haltung erschütterte sein Selbstbewußtsein, so daß er im Moment alles vergaß, was er ihr sagen wollte und sich so sorgfältig zurechtgelegt hatte.

 

»Ich möchte Sie bitten, dieses Haus zu verlassen, Eunice.«

 

»Haben Sie wieder einen neuen Grund?« fragte sie sarkastisch, obgleich sie sich selbst wegen ihres Tones böse war.

 

»Ich habe den besten aller Gründe dafür«, sagte er verbissen. »Ich bin fest davon überzeugt, daß Sie die Tochter Lady Mary Dantons sind.«

 

»Das haben Sie mir früher auch schon erzählt.«

 

»Bitte, hören Sie auf mich, Eunice«, bat er. »Ich kann Ihnen den Beweis bringen, daß Sie die Tochter Lady Marys sind. Die Narbe am Handgelenk hat Ihnen Digby Groat beigebracht, als Sie noch ein kleines Kind waren. Es gibt keine Eunice Weldon, ich kann Ihnen beweisen, daß das Mädchen dieses Namens im Alter von einem Jahr in Kapstadt starb.«

 

Sie sah ihn fest an. Ihr Blick war kühl und hart, und sein Mut sank. »Das ist ja eine äußerst romantische Geschichte! Haben Sie mir vielleicht sonst noch etwas zu sagen?«

 

»Nur noch, daß die Dame, die Sie in meiner Wohnung sahen, Ihre Mutter ist.«

 

Ihre Augen wurden größer, und er sah, wie ein flüchtiges Lächeln über ihre Züge glitt, gleich einem Sonnenstrahl an einem Wintertage.

 

»Wirklich, Jim, Sie sollten Geschichten schreiben! Und wenn es Sie interessiert, kann ich Ihnen ja sagen, daß ich dieses Haus in ein paar Tagen verlassen werde, um meine alte Stelle wieder anzutreten. Sie brauchen mir gar nicht zu erklären, wer die Dame war, die unglücklicherweise kein Telefon, aber den Schlüssel zu Ihrer Wohnung besaß.« Ihr Ärger betäubte alles Mitleid und alle Sympathie für ihn. »Ich will Ihnen nur sagen, daß Sie meinen Glauben an Männer mehr erschüttert haben, als es jemals Digby Groat oder irgendein anderer fertiggebracht hätte. Sie haben mich so tief verletzt, daß ich Ihnen nicht verzeihen kann.«

 

Einen Augenblick zitterte ihre Stimme, aber mit einer außerordentlichen Willensanstrengung riß sie sich zusammen.

 

»Leben Sie wohl, Jim.« Mit diesen Worten verließ sie das Zimmer.

 

Er war verwirrt und betäubt. Ihre Verachtung traf ihn wie ein Peitschenhieb, und die Ungerechtigkeit ihres Urteils machte ihn sprachlos.

 

Einen Augenblick fühlte er Ärger und Zorn in sich aufsteigen, aber er überwand sich. Nun konnte er gehen, denn er hatte keine Hoffnung mehr, sie wiederzusehen.