21

 

Eunice konnte die alte Frau nur anstarren.

 

»Lesen Sie doch weiter«, brummte Mrs. Groat vorwurfsvoll.

 

Eunice sah später vorsichtig zu ihr hinüber und begegnete ihrem argwöhnischen Blick.

 

Das mußte sie Jim erzählen. Obgleich sie den Groats verpflichtet war, erschien ihr das unbedingt nötig. Jim war so interessiert an der Verfügung über das Dantonsche Erbe; er mußte es unter allen Umständen wissen.

 

Plötzlich begann die alte Frau wieder zu sprechen.

 

»Was habe ich Ihnen eben gesagt?«

 

»Sie haben von Ihrer Jugend gesprochen.«

 

»Habe ich irgend etwas von einem Mann erzählt?« fragte die Alte argwöhnisch. Sie hatte schon wieder alles vergessen.

 

»Nein«, log Eunice. Aber sie sprach so laut, daß jeder andere sofort gewußt hätte, daß sie nicht die Wahrheit sprach.

 

»Seien Sie vorsichtig mit meinem Sohn«, sagte Mrs. Groat nach einiger Zeit, »widersprechen Sie ihm nicht, er ist kein schlechter Bursche –« Sie schüttelte den Kopf und sah scheu zu dem Mädchen hinüber. »In vielen Beziehungen gleicht er genau seinem Vater.«

 

»Mr. Groat?« fragte Eunice. Sie kam sich selbst schlecht vor, daß sie aus der Geistesgestörtheit der alten Frau Vorteile zog. Aber sie beruhigte ihr Gewissen durch den Gedanken, daß Jim ihre Entdeckungen wissen mußte.

 

»Groat!« brummte die alte Frau verächtlich. »Dieser elende Wurm, nein – ja, natürlich war es Groat. Wer denn sonst?« sagte sie.

 

Von draußen kam ein Geräusch, die alte Frau wandte den Kopf nach der Tür und horchte.

 

»Sie werden mich doch nicht allein lassen, Miss Weldon, bis die Krankenpflegerin zurückkommt?« flüsterte sie. »Wollen Sie es mir versprechen?«

 

»Aber gern«, erwiderte Eunice lächelnd. »Ich bin ja hier, um Ihnen Gesellschaft zu leisten.«

 

Die Tür öffnete sich, und Eunice hörte, wie Mrs. Groat tief aufseufzte, als Digby eintrat. Er war im Gesellschaftsanzug und rauchte eine Zigarette.

 

Einen Augenblick lang schien er von der Anwesenheit des jungen Mädchens überrascht zu sein, aber dann lächelte er.

 

»Die Schwester ist wohl ausgegangen? Wie fühlst du dich heute, Mutter?«

 

»Sehr gut, mein Junge«, sagte sie zitternd. »Wirklich sehr gut. Miss Weldon leistet mir Gesellschaft.«

 

»Das ist ja glänzend. Hoffentlich hat dich Miss Weldon nicht zu sehr erschreckt.«

 

»Aber nein«, sagte Eunice ärgerlich. »Wie können Sie denn annehmen, daß ich Ihre Mutter erschreckte?«

 

»Ich dachte, Sie hätten ihr vielleicht etwas von unserem geheimnisvollen Besucher erzählt«, sagte er lachend und nahm sich einen gepolsterten Stuhl. »Du hast doch nichts dagegen, daß ich rauche, Mutter?«

 

Eunice dachte, daß auch der Einspruch Jane Groats nicht den geringsten Eindruck auf ihn gemacht hätte.

 

Aber die alte Frau schüttelte den Kopf und sah Eunice flehend an.

 

»Ich möchte nur die Frau fangen«, sagte Digby und sah dem Rauch seiner Zigarette nach, der zur Decke emporstieg. Mrs. Groat senkte den Blick; sie schien nachzudenken.

 

»Von welcher Frau sprichst du denn, mein Junge?«

 

»Von der Frau, die nachts um das Haus streicht und ihr Zeichen auf der Tür zu meinem Laboratorium zurückgelassen hat.«

 

»Das war sicher ein Einbrecher«, sagte Mrs. Groat wenig besorgt.

 

»Eine Frau und gleichzeitig eine Verbrecherin. Sie ließ deutliche Fingerabdrücke zurück. Ich habe die Fotografie nach Scotland Yard eingesandt, und man hat sie dort mit den Fingerabdrücken einer Frau identifiziert, die eine Gefängnisstrafe in Holloway abgesessen hat.«

 

Eunice wurde durch ein Geräusch aufmerksam und wandte sich nach Mrs. Groat um. Sie hatte sich aufgerichtet und starrte Digby mit ihren dunklen Augen aufgeregt an. Ihr Gesicht zuckte.

 

»Was war das für eine Frau?« fragte sie heiser. »Von wem sprichst du?«

 

Digby schien ebenso erstaunt zu sein wie Eunice, als er den Eindruck wahrnahm, den diese Mitteilung auf seine Mutter machte.

 

»Ich spreche von der Frau, die ins Haus kam und uns hier alle beunruhigte, indem sie ihr Zeichen zurückließ.«

 

»Was meinst du damit?« fragte Mrs. Groat gequält.

 

»Sie hat auf meiner Tür den Abdruck einer blauen Hand –« Bevor er den Satz beenden konnte, war seine Mutter aus dem Bett gesprungen und schaute ihn entsetzt an.

 

»Eine blaue Hand – eine blaue Hand!« rief sie wild. »Wie hieß die Frau?«

 

»Die Polizei hat mir mitgeteilt, daß es Madge Benson ist«, sagte Digby.

 

Eine Sekunde stand Mrs. Groat hochaufgerichtet da.

 

»Eine blaue Hand – blaue Hand«, murmelte sie und wäre zusammengebrochen, wenn Eunice nicht gesehen hätte, daß sie ohnmächtig wurde. Schnell eilte sie auf sie zu und fing sie in ihren Armen auf.