26

 

Noras Kopf schmerzte noch heftig, als das Telephon klingelte. Der Mann, der die letzte Stunde schweigend neben ihr gesessen hatte, erhob sich geräuschvoll.

 

»Versuchen Sie bloß nicht, durch das Fenster zu verschwinden«, warnte er sie. »Sonst geht es Ihnen schlecht.«

 

Sie hörte, wie seine Schritte in den Nebenräumen auf dem bloßen Fußboden schallten, und sie vermutete, daß er in die Diele gegangen war.

 

Er nahm den Hörer vom Apparat und sprach leise hinein. Offenbar beschwerte er sich über etwas, aber schließlich willigte er widerwillig ein. Dann machte er eine unvorsichtige Bemerkung.

 

»Marlow – gut, ich fahre hin.«

 

Gleich darauf kam er zu Nora zurück.

 

»Machen Sie sich fertig, wir müssen fort.«

 

»Wohin?«

 

»Fragen Sie nicht. Das kann Ihnen gleich sein. Wir haben mindestens eine Meile zu Fuß zu gehen, dann holen sie uns mit dem Wagen ab. Wissen Sie, Ihr Freund ist ein bißchen zu eifrig. Er hat uns schon aufgespürt und ist bis zum Ende der Straße gefahren.«

 

Ihr Herz schlug schneller. Mit dem Freund konnte er nur einen Mann meinen, und sie hatte das Vertrauen, daß der Wetter früher oder später dieses Haus finden würde. Konnte sie ihm nicht eine Nachricht zukommen lassen? Sie hatte weder Bleistift noch Papier, aber als sie mit der Hand über die frischgeputzte Wand fuhr, kam ihr ein Gedanke, und sie kratzte mit dem Fingernagel rasch das Wort »Marlow« ein.

 

»Was machen Sie denn da?« fragte er argwöhnisch und richtete den Strahl seiner Taschenlampe auf sie.

 

»Nichts«, entgegnete sie mit schwacher Stimme. »Ich kann aber wahrscheinlich nicht gehen. Ich bin noch so müde, und mein Kopf schmerzt entsetzlich.«

 

Er öffnete die Tür.

 

»Das Gehen bekommt Ihnen sicher gut.«

 

Er faßte sie fest am Arm und führte sie ins Freie.

 

Gehorsam ging Nora neben dem Mann her. Die frische Abendluft tat ihr wirklich wohl. Durch ein kleines Tor im Zaun verließen sie das Grundstück und kamen auf das freie Feld.

 

Der Mann schien nicht sehr mit der Gegend vertraut zu sein, denn einmal wären sie beinahe in einen kleinen Teich geraten. Schließlich kamen sie auf einen Feldweg und gingen dann durch hohes, taubedecktes Gras, so daß ihre Schuhe und Strümpfe durchnäßt wurden.

 

Nach einer Viertelstunde kamen sie zu einer Hecke und gingen dort entlang, bis sie eine Öffnung fanden. Eine unebene Fahrstraße lag vor ihnen.

 

»Hier ist die Stelle«, sagte er und atmete erleichtert auf.

 

Sie wanderten dann noch zwanzig Minuten weiter, bis sie in die Nähe der Hauptstraße kamen. Dort machten sie halt.

 

»Wenn Sie wollen, können Sie sich setzen. Wir müssen hier ein wenig warten.«

 

Sie war froh, daß sie etwas ausruhen konnte, denn ihre Füße und ihre Beine schmerzten. Müde ließ sie sich auf dem Erdboden nieder.

 

Erst jetzt kam ihr die Gefahr, in der sie schwebte, vollkommen zum Bewußtsein. Sie hatte das ungewisse Gefühl, daß diese Entführung mit der Erbschaft von Monkford zu tun haben mußte, aber sie wunderte sich über den Mut, mit dem sie den Tatsachen gegenübertrat. Der Glaube an Arnold Long gab ihr so große Zuversicht. Er würde ihr sicher helfen.

 

»Stehen Sie auf«, sagte der Mann plötzlich. »Hier ist der Wagen.«

 

Ein Auto war nähergekommen. Die Lampen brannten so düster, daß man sie kaum erkennen konnte. Die Bremsen knirschten, und gleich darauf hielt der Wagen. Der Mann riß schnell die Tür auf, schob Nora ins Innere und stieg dann auch ein.

 

Sie fuhren auf der Bath Road. Bald darauf kamen sie durch eine kleine Stadt, die sie als Slough erkannte, dann durch Maidenhead. Schließlich wandten sie sich nach rechts und fuhren den Hügel hinauf, der nach Quarry Wood und Marlow führte.

 

Nora überlegte, wohin man sie wohl bringen würde. Doch nicht nach Monkfords Haus? Plötzlich dachte sie an Jackson Crayleys schönes Anwesen. Offenbar war das das Ziel ihrer Fahrt, denn der Wagen bog von der Hauptstraße ab, bevor sie die Marlow-Brücke erreichten. Durch das Fenster sah sie das Haus von Mr. Monkford, und das nächste Grundstück gehörte ja Mr. Crayley. Aber zu ihrem Erstaunen fuhr der Wagen weiter und hielt erst am Ende einer Wiese. Der Mann packte sie wieder am Arm und eilte mit ihr durch das Gras, bis sie an den Fluß kamen. Dicht neben dem Ufer lag ein großes Motorboot. Er half ihr an Deck, und der Chauffeur machte das Fahrzeug los.

 

»Wir fahren durch die Temple-Schleuse, aber denken Sie an das, was ich Ihnen schon zu Anfang sagte. Nur Sie und ich sind an Bord. Sie wissen, daß ich fünfzehn Jahre Zuchthaus bekomme, wenn man mich fängt, und da ist mir schließlich alles gleich, selbst wenn es ein Menschenleben kostet. Wenn Sie schreien, drehe ich Ihnen das Genick um und werfe Sie ins Wasser, bevor der Schleusenwärter erfährt, was los ist.«

 

Nora schauderte, drückte sich in eine Ecke und schwieg. Nach einiger Zeit rief der Mann:

 

»Schleuse, ahoi!«

 

Dann verlangsamte das Motorboot die Geschwindigkeit und hielt an. Erst nach einer Weile setzte es die Fahrt vorsichtig fort. Nora hörte das Rasseln der Schleusentore. Das Motorboot stieg mit dem einströmenden Wasser höher und höher, bis es das Niveau des Schleusenrandes erreicht hatte. Der Mann am Steuer wechselte einige gleichgültige Bemerkungen mit dem Wärter, dann fuhren sie weiter stromauf.

 

Westlich von Temple machte der Strom eine Biegung, und das linke Ufer wurde durch überhängende Bäume beschattet. Dorthin steuerte der Mann das Boot, und sie näherten sich einem Holzhaus. Das Gebäude stand so dicht am Wasser, daß die Veranda von Pfählen getragen wurde, die ins Wasser gerammt waren.

 

»Steigen Sie aus«, befahl der Mann mit rauher Stimme, und sie gehorchte.

 

Er folgte ihr, nahm einen Schlüssel aus der Tasche, und nach einigen Anstrengungen gelang es ihm, die Haustür zu öffnen. Nachdem sie hineingegangen waren, riegelte er die Tür von innen zu. Dann steckte er ein Streichholz an, schaute sich um und fand eine Kerze.

 

Der Raum war vornehm ausgestattet, aber überall lag dicker Staub. Verschiedene Reproduktionen von Gemälden aus der italienischen Frührenaissance schmückten die Wände, und vor den Fenstern hingen schwersamtene Vorhänge.

 

»Sie kennen das Haus wohl?« fragte der Mann. »Früher wohnte Mr. Shelton hier.«

 

»Shelton!« rief Nora, und eine unaussprechliche Furcht packte sie. Es war ihr, als ob der Geist dieses Verbrechers immer noch in dem Hause weilte.

 

Der Mann sah auf seine Armbanduhr, ging im Zimmer auf und ab und schaute zum Fenster hinaus. Als er einen der Vorhänge beiseitezog, bemerkte sie, daß die Fenster vergittert waren. Das war also die unheimliche Stätte, an der Clay Shelton seine dunklen Pläne vorbereitet hatte. An diesem selben Tisch, auf dem man jetzt die Spuren der Mäuse sehen konnte, hatte er wichtige Dokumente so hervorragend gefälscht, daß man sie nicht von den Originalen unterscheiden konnte.

 

»Ich gehe hinaus, um nach dem Boot zu sehen«, sagte der Mann, »bleiben Sie hier.«

 

Er schloß die Tür leise hinter sich, und sie hörte, wie sich der Schlüssel im Schloß drehte. Der Bootsmotor wurde angelassen, aber sie vernahm es kaum, denn ihre Gedanken beschäftigten sich noch zu stark mit Clay Shelton.

 

Sie stand direkt der Tür gegenüber, die wahrscheinlich in ein Schlafzimmer führte, und als sie zufällig auf die Klinke sah, bemerkte sie, daß diese langsam heruntergedrückt wurde. Langsam, langsam … dann öffnete sich die Tür nach innen, und eine lange, blasse Hand schob sich um die Kante.