Kapitel 9

 

9

 

Mit großen, kräftigen Ruderschlägen trieb er das Fahrzeug stromaufwärts, und das Ufer mit seinen Wiesen und malerischen Baumgruppen glitt an ihnen vorüber. »Es gehört schon sehr viel Umsicht und Energie dazu, ein Doppelleben zu führen«, meinte er nachdenklich. »Aber Shelton ist in mindestens sechs verschiedenen Masken aufgetaucht.«

 

»War er eigentlich verheiratet?« fragte sie interessiert.

 

»Das haben wir nie genau feststellen können, aber wahrscheinlich hatte er keine Familie.«

 

Plötzlich fiel ihr ein, daß unter Sheltons Todestag noch ein weiteres Datum eingeschnitten war, und zwar der 1. August 1924. Und heute hatten sie erst den 23. Juli!

 

»Was soll denn am 1. August geschehen?«

 

»Darum handelt es sich ja gerade«, entgegnete er bedrückt. »Außer mir weiß niemand etwas Genaues über die Bande des Schreckens, und ich weiß auch nur sehr wenig. Ab und zu ahnt man ihre Tätigkeit, sieht ihre Verbrechen. Der alte Shelton hat die Banken um eine Million Pfund betrogen, aber seine verschiedenen Existenzen haben viel Geld gekostet und schließlich wieder alles verschlungen. Auch möglich, daß er Geld bei den Rennen verloren hat. Die meisten Verbrecher haben ja irgendeine kostspielige Passion. Die Leute, die er zur Ausführung seiner Pläne brauchte, haben auch viel gekostet. Aber immerhin, eine Million Pfund ist eine große Summe. Die Bande des Schreckens stand immer hinter ihm. Mr. Monkford hatte einen Bruder, der seine Ferien an der Adria verbrachte. Eine Woche nach Sheltons Tod ertrank dieser Mann. Man fand ihn eines Morgens tot in seinem Badeanzug am Ufer auf. Mr. Monkford glaubte an einen Unglücksfall, und in gewisser Weise war es das auch, denn sie hatten den falschen Monkford gefaßt.«

 

»War es denn wirklich ein Mord?« fragte sie mit stockender Stimme.

 

Der Wetter nickte.

 

»Sie fahren wohl mit dem Sechsuhrfünfzigzug nach London zurück?« sagte er dann plötzlich. »Den benütze ich auch. Aber ich muß Ihnen von vornherein sagen, daß ich dritter Klasse fahre. Ich bin Demokrat.«

 

Er ruderte eine Weile schweigend weiter.

 

»Die Bande des Schreckens«, sagte er nach einiger Zeit halb zu sich selbst. »Irgend etwas ist im Gange, aber ich weiß nicht, was es ist. Haben Sie eigentlich unseren Nachbar schon gesehen? Nein? Den müssen Sie kennenlernen, er gehört zu den Sehenswürdigkeiten von Marlow. Übrigens war er auch in der Bank, als ich Shelton verhaftete.«

 

Kurz darauf wichen die Sträucher und Baumgruppen vom Ufer zurück, und Nora sah erstaunt auf einen wunderbar gepflegten Garten. Im Hintergrund erhob sich das Wohnhaus. Es war der schönste Park, den sie jemals gesehen hatte. Der Rasen schimmerte smaragdgrün, und überall standen Bosketts von farbenprächtigen Blumen.

 

In einer offenen Laube saß ein Herr in einem Deckstuhl. Als das kleine Boot am Steg anlegte, erhob er sich langsam. Er war lang und hager, hatte ein ovales, etwas ausdrucksloses Gesicht und trug ein Monokel. Mit müdem Blick beobachtete er die beiden Ankömmlinge.

 

»Hallo, Long«, sagte er gedehnt, als sie näher kamen, und reichte dem Detektiv die Hand.

 

»Darf ich Sie vorstellen? Mr. Crayley – Miß Sanders.«

 

»Wie geht es Ihnen? Nehmen Sie doch Platz.« Die Hand, die er Nora gab, war so weich und schlaff, daß sie kaum einem lebenden Menschen zu gehören schien.

 

»Miß Sanders interessiert sich für Ihren herrlichen Garten und hätte ihn gern einmal näher betrachtet.«

 

»Die Blütenpracht ist wirklich wundervoll«, sagte sie begeistert.

 

»Ja«, entgegnete er gleichgültig. »Gar nicht übel. Ich habe eben einen guten Obergärtner, das ist alles. Zeigen Sie doch bitte der Dame, was es hier zu sehen gibt … und pflücken Sie sich ruhig soviel Blumen, wie Sie wollen.«

 

Schon bevor sie fortgingen, sank er wieder in seinen Sessel und nahm die Zeitung auf.

 

»Was halten Sie von ihm?« fragte Long, als sie außer Hörweite waren.

 

»Er scheint sehr müde zu sein«, erwiderte sie zögernd.

 

Er lachte.

 

»Der ist schon seit seiner Geburt so. Ein ziemlich unbedeutender Mensch. Es war wirklich ein merkwürdiger Zufall, daß er ausgerechnet damals in der Bank sein mußte, als ich Shelton verhaftete. Er half mir dabei, aber Shelton stieß ihn sofort zur Seite. Crayley gehört nun einmal zu den Menschen, die man beiseiteschiebt. Im allgemeinen hält er sich nur während der Saison hier auf. Entweder ist er gerade von Deauville zurück, oder er ist gerade im Begriff, nach Aix zu fahren. Gehen Sie eigentlich zur Golfwoche nach Heartsease?«

 

»Ja«, sagte sie etwas erstaunt.

 

Als sie zu Mr. Crayley zurückkehrten, sprach er gerade mit einer Dame, die anscheinend eine Verabredung mit ihm traf. Sie ruderte gleich darauf fort, aber Nora erhaschte noch einen Blick von ihr und konstatierte, daß sie sehr hübsch und auffallend gut gekleidet war.

 

»Ich danke Ihnen sehr für Ihre Freundlichkeit, daß ich Ihren Garten ansehen durfte«, sagte sie.

 

Crayley reichte ihr wieder seine leblose Hand.

 

»Kommen Sie nächstens einmal wieder«, entgegnete er gelangweilt.

 

Als die beiden zu Monkfords Haus zurückkehrten, sahen sie, daß er oben auf der Terrasse auf- und abging.

 

»Ich sehe Miß Revelstoke nächste Woche in Little Heartsease«, sagte er zu Nora. »Bestellen Sie ihr meinen besten Dank und sagen Sie ihr, daß sie doch auch Golf lernen sollte. Es ist nie zu spät.«

 

Er ließ sie mit seinem Wagen zur Station bringen. Unterwegs fragte Long alle möglichen Dinge. Wie lange sie schon beruflich tätig sei, und was sie zu tun hätte. Sie mußte ihm eingestehen, daß sie schon mehrfach die Stellung hatte wechseln müssen, da sie keine hervorragende Stenotypistin war. Allerdings beherrschte sie drei fremde Sprachen.

 

»Auch Dänisch?« fragte er.

 

»Nein. Nur Deutsch, Französisch, Italienisch und ein wenig Spanisch.«

 

Kapitel 4

 

4

 

Am vierzehnten Juni verließ Inspektor Long mit seinem Wagen um fünf Uhr morgens die Hauptstadt. Die Sonne schien strahlend, und alle Dörfer, durch die er kam, sahen schmuck und freundlich aus.

 

Er hatte gerade eine kleine Ortschaft verlassen und kam wieder auf die Landstraße, die durch grüne Felder führte, als er einen Mann passierte, der am Rand des Weges saß. Im Augenblick erkannte er ihn, bremste und fuhr zu der Stelle zurück. Ulanen-Harry sah ihn ruhig an und rauchte seine Zigarette weiter.

 

»Auf der Walze?« fragte der Wetter liebenswürdig.

 

»Ich habe Arbeit, wenn Sie es wissen wollen – und zwar eine recht lohnende!« Ulanen-Harry warf ihm einen merkwürdigen Blick zu. »Wohin gehen Sie denn, Sie Bluthund?«

 

Arnold lächelte, obwohl er niemals geglaubt hätte, daß er an diesem Morgen lächeln könnte.

 

»Ich bin wieder dabei, Diebe zu fangen«, erwiderte er und schaute über die Felder. Das einzige Gebäude, das man in der Nähe sehen konnte, war eine große, schwarze Scheune. »Sie haben die Nacht nicht im Freien geschlafen, und Sie sind auch noch nicht weit gegangen. Ihre Schuhe sind nicht staubig. Was haben Sie denn wieder vor, Harry?«

 

Der Mann antwortete nicht. Arnold Long zeigte in die Richtung nach Chelmsford, lachte vor sich hin und fuhr weiter.

 

Vor den großen, düsteren Toren des Gefängnisses von Chelmsford hielt er schließlich an, als es gerade sieben schlug. Er klingelte und wurde von dem Portier eingelassen. Ein Wärter brachte ihn dann zu dem Direktor der Anstalt, der allein in seinem kleinen Büro saß.

 

»Hoffentlich ist Ihnen die Sache nicht zu unangenehm. Mir sind solche Sachen immer sehr zuwider.« Arnold nickte.

 

»Ich habe schon den ganzen Weg fest daran gedacht, daß er doch seine Absicht ändern sollte, damit ich ihn nicht mehr zu sehen brauchte.«

 

Der Direktor schüttelte den Kopf.

 

»Das wird nicht der Fall sein. Seine letzte Frage gestern abend war noch, ob Sie kommen würden.«

 

Er erhob sich und führte Long zu Sheltons Zelle. Mit schwerem Herzen betrat der Wetter den engen Raum.

 

Der zum Tode verurteilte Mann saß auf seinem Bett und hatte die Hände in die Hosentaschen gesteckt. Sein Gesicht war mit grauen Bartstoppeln bedeckt, und Arnold erkannte ihn kaum wieder.

 

»Nehmen Sie Platz.«

 

Aber Inspektor Long blieb stehen.

 

»Ich wollte Sie noch sprechen – vor meinem Tode.« Shelton nahm die Zigarette aus dem Mund, blies einige Rauchringe zur Decke empor und beobachtete sie, bis sie sich in Nichts auflösten. »Ich habe vier Menschen umgebracht, und ich bereue es nicht«, sagte er nachdenklich. Dann lächelte er den Wetter plötzlich an, der düster auf ihn niederblickte. »Sie glauben, daß es jetzt mit mir zu Ende geht, aber Sie irren sich schwer! Sie werden mich hängen, und sie werden mich begraben, aber trotzdem lebe ich weiter, und ich fasse Sie, Wetter Long, verlassen Sie sich darauf! Ich zahle es allen Leuten heim, die an meinem Tode schuld sind.« Als er Longs Gesichtsausdruck sah, lächelte er noch rätselhafter. »Sie glauben, daß ich nicht mehr bei Verstand bin, aber es gibt viel Dinge in dieser Welt, von denen Ihre Schulweisheit sich nichts träumen läßt, mein Freund. Die Galgenhand ist kein leerer Wahn – sie existiert!«

 

Er runzelte die Stirne einen Augenblick und schaute auf den Steinfußboden, dann lachte er laut auf.

 

»So, das wäre alles, was ich Ihnen sagen wollte. Denken Sie daran, Mr. Long, die Galgenhand wächst aus dem Grab hervor und packt Sie früher oder später an der Gurgel!«

 

Long antwortete nichts darauf und ging mit dem Direktor zurück.

 

»Was halten Sie davon?« fragte der Beamte und wischte sich den Schweiß von der Stirne. Er sah bleich und verstört aus. »Die Galgenhand – entsetzlicher Gedanke!«

 

»Fürchten Sie sich nicht, mich faßt sie nicht.« Arnold nickte langsam. »Wetten, daß?«

 

Er blieb nicht bis zum Ende da.

 

Dicht vor Chelmsford liegt ein kleines Dorf mit einer sehr alten Kirche. Die Uhr schlug gerade acht. Long hielt den Wagen an und nahm den Hut ab.

 

»Hoffentlich findet der arme Mensch den Frieden«, sagte er vor sich hin, denn in diesem Augenblick endete Clay Sheltons irdische Laufbahn.

 

In der nächsten Sekunde schlug etwas gegen die Windscheibe des Autos, und sie zersplitterte.

 

Ping!

 

Die zweite Kugel pfiff an seinem Kopf vorüber, und die dritte schwirrte dicht an seiner linken Backe vorbei.

 

Er sprang aus dem Wagen und sah sich in der friedlichen Gegend um. Niemand war zu entdecken, auch keine Hecken, wo sich ein Mann verstecken konnte, nur dort hinten –

 

Über einem kleinen Gebüsch schwebte eine blasse Rauchwolke in der Luft. Im Laufschritt eilte er über die Wiese, die ihn davon trennte. Während er lief, vernahm er einen vierten Schuß und warf sich flach auf den Boden. Er hörte das Geschoß nicht einschlagen, erhob sich wieder und lief im Zickzack auf sein Ziel los.

 

Plötzlich packte ihn ein Grausen. Aus dem Grase streckte sich ihm eine weiße Hand entgegen, deren Finger im Krampf erstarrt waren, und die ins Nichts zu greifen schienen.

 

Im nächsten Augenblick hatte er die Stelle erreicht. Ein Mann lag dort auf dem Rücken, und seine Hand zeigte zum blauen Himmel empor. Die andere umkrallte ein Militärgewehr.

 

Kapitel 40

 

40

 

Miß Revelstoke hatte einen aufregenden Vormittag hinter sich.

 

Ihre finanzielle Lage war im Augenblick nicht glänzend, und sie mußte ihre Börsenpapiere mit Verlust verkaufen. Auch Prozesse schwebten gegen sie. Der Tod Joshua Monkfords hatte unvorhergesehene Folgen für sie. Die Bank hatte festgestellt, daß sie ihr Konto um eine bedeutende Summe überzogen hatte, und da sie es nicht abgleichen konnte, ging man auf dem Klageweg gegen sie vor.

 

Vor allem war sie erstaunt, daß ihr Telephon nicht richtig funktionierte. Sie hatte dreimal versucht, mit Heartsease in Verbindung zu kommen, und jedesmal war die Nummer besetzt gewesen. Ebensowenig Erfolg hatte sie, als sie sich mit ihrem Rechtsanwalt verbinden ließ. Die schriftliche Mitteilung, die sie durch eins ihrer Mädchen an Mr. Henry schickte, wurde nicht abgeliefert, aber davon erfuhr sie vorläufig nichts.

 

Sie besaß ein unfehlbares Mittel, sich in kritischen Stunden zu zerstreuen, und auch heute arbeitete sie wieder an einer Stickerei. Als ein Auto vor dem Hause hielt, schaute sie zu dem Fenster hinaus. Wetter Long und zwei andere Polizeibeamte stiegen aus.

 

Das Mädchen eilte gerade den Gang entlang, um die Tür zu öffnen, als Miß Revelstoke sie davon abhielt.

 

»Ich mache selbst auf. Gehen Sie nur wieder.«

 

Sie wartete, bis das Mädchen außer Sicht war, und durchschnitt dann mit einer kleinen Schere die Klingelleitung, die von der Haustür zur Dienstbotenstube führte. Rasch griff sie nach Mantel, Hut und Tasche und ging durch ihr Arbeitszimmer auf den hinteren Hof. Sie öffnete die Tür der Garage, setzte sich ans Steuer ihres Wagens und fuhr davon. In der Nähe der Station Ladbroke Grove hielt sie an, eilte die Treppe hinauf und kaufte eine Fahrkarte nach Liverpool Street. Eine Viertelstunde später verließ der Schnellzug nach Clacton-on-Sea den Bahnhof, und in einem Wagenabteil erster Klasse saß eine Frau, die äußerlich einen vollkommen ruhigen Eindruck machte.

 

Sie blieb allein und veränderte mit Hilfe eines kleinen Reisenecessaires ihr Aussehen vollständig.

 

Clacton-on-Sea ist ein beliebter Ausflugsort, der zu dieser Jahreszeit von Fremden überlaufen ist. Dreimal die Woche kommen Vergnügungsdampfer von Tilbury, und man kann für geringen Preis nach Ostende fahren, sich kurze Zeit dort aufhalten und an einem der nächsten Tage zurückkehren. Der Dampfer ging eine Stunde nach Miß Revelstokes Ankunft, und es gelang ihr, an Bord zu kommen.

 

Von den Touristen wurde kein Paß verlangt. Und selbst wenn dies der Fall gewesen wäre, hätte Miß Revelstoke sich ausweisen können, ohne in Verlegenheit zu kommen.

 

Sie ging durch die belebten Straßen Ostendes und machte in mehreren Läden Einkäufe. Obwohl sie schwarze Hüte haßte, erstand sie einen, ebenso einen altmodischen, schwarzen Mantel und gewöhnliche Schuhe und Unterwäsche. Eine goldumrandete Brille und eine schwere Handtasche vervollständigten ihre Aussteuer. Sie zog sich in einem kleinen Hotel um und wusch ihre Haare mit Sodawasser. Selbst Wetter Long hätte sie jetzt nicht wiedererkannt.

 

Ihre Kleider packte sie in ein Bündel zusammen, zahlte ihre Rechnung und ging zum Bahnhof.

 

Am selben Abend noch erreichte sie Brüssel und übernachtete in einem drittklassigen Hotel. Dem Portier sagte sie, daß sie eine Wallonin sei und ihren Sohn in Ostflandern besuchen wolle. Für eine Wallonin sprach sie allerdings ein etwas zu gutes Französisch, aber der Portier zweifelte keinen Augenblick an ihren Aussagen, da sie ihm nur ein geringes Trinkgeld gab und sich nicht in einem Wagen zum Bahnhof bringen ließ.

 

Von dort aus fuhr sie nach Lüttich und mietete in einem guten Stadtteil ein Zimmer. Sie verbrachte ihre Zeit damit, die englischen Zeitungen durchzulesen, die sie sich unterwegs gekauft hatte.

 

Cravel war tot; Alice und Henry waren verhaftet. Am meisten tat es ihr um Henry leid, denn sie liebte ihn, und ihr Kummer stieg noch, als sie las, daß er vor Gericht nicht erscheinen konnte, weil er nach Meinung der Ärzte den Verstand verloren hatte. –

 

So verging ein Monat. Der Prozeß wurde von Woche zu Woche vertagt. Dann erfuhr Miß Revelstoke aus den Zeitungen, daß der Staatsanwalt die Klage gegen Alice zurückgezogen hatte. Das Mädchen hatte sie nie leiden mögen, denn sie war immer eine Freundin von Jackson Crayley gewesen.

 

Madame Pontière, wie sie sich jetzt nannte, schien sich in Lüttich vollkommen heimisch zu fühlen. Sie hatte sich einen Ausweis von der Polizei verschafft, und nichts schien ihren Frieden zu stören. Die Zeitungen berichteten, daß sie verschwunden sei, und daß man annähme, sie sei nach Amerika gegangen.

 

Aber als sie eines Morgens aus der Kirche trat und das Gebetbuch in der Hand hielt, stand plötzlich ein bekannter Mann vor ihr und zog den Hut.

 

»Also hier leben Sie, Miß Revelstoke?« fragte er höflich.

 

Sie folgte dem Wetter zur Polizeistation, ohne ein Wort zu sagen, aber er hatte das Gefühl, daß sie ihn am liebsten ermordet hätte.

 

Die Auslieferungsverhandlungen zogen sich noch einige Zeit hin, aber schließlich wurde Miß Revelstoke nach England gebracht und zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt.

 

An demselben Tag, an dem Mr. Henry in ein Irrenhaus überwiesen wurde, trat der Wetter in das Büro seines Vorgesetzten und überreichte ihm ein Schriftstück.

 

Colonel Macfarlane las es sorgfältig durch.

 

»Es tut mir wirklich sehr leid«, sagte er dann. »Gerade jetzt, wo Sie zur Beförderung vorgeschlagen worden sind! Sie würden es in der Polizei weit bringen. Aber wenn Sie tatsächlich gehen wollen, kann ich Sie natürlich nicht halten. Und ich glaube auch, daß Sie recht haben, wenn Sie sich mit anderen und schöneren Dingen beschäftigen als mit der Aufklärung von Verbrechen. Wann wollen Sie denn den Dienst quittieren?«

 

»Sofort, wenn es möglich ist.«

 

Der Colonel legte den Brief zu den Schriftstücken, die dringend zu erledigen waren.

 

»Ich will sehen, was ich für Sie tun kann. Es wird vielleicht noch ein oder zwei Tage dauern. Aber warum haben Sie es denn so eilig?«

 

Der Wetter beantwortete diese Frage nur oberflächlich.

 

Er kam in dem Hause seines Vaters an, als gerade Sir Godleys Wagen vor dem Tor hielt, und Nora Sanders ausstieg. Sie hatte sich auf dem Lande erholt und wußte nicht, wie der Prozeß geendet hatte. Als sie es später vom Wetter erfuhr, schauderte sie.

 

»Es ist entsetzlich«, sagte sie leise. »Und doch bin ich in gewisser Weise traurig darüber.«

 

»Ich glaube, ich hätte mehr Grund dazu«, meinte Sir Godley, während er sich eine Zigarre anzündete.

 

»Warum solltest du denn traurig sein?« fragte sie überrascht.

 

Der alte Herr zögerte.

 

»Erzähle ihr ruhig alles«, sagte Arnold.

 

»Weil –«

 

Er blies gerade das Streichholz aus, als das Telephon klingelte. Er nahm den Hörer, und seine Stirne legte sich in Falten, während er lauschte.

 

»Das ist wirklich ungewöhnlich«, sagte er zu dem Gefängnisgeistlichen, der mit ihm sprach. »Aber gut, ich werde kommen.«

 

Er legte den Hörer nieder und sah seinen Sohn an.

 

»Sie möchte mich sprechen«, erklärte er kurz. »Und ich glaube, es ist besser; daß ich zu ihr fahre.«

 

Damit verließ er das Zimmer.

 

Kapitel 41

 

41

 

Sir Godley lehnte sich tiefer in den Wagen zurück und seufzte. Vor fünfundzwanzig oder dreißig Jahren hatten sie sich zum letztenmal gesehen! Die Aussprache würde nicht sehr erfreulich sein, aber er fühlte sich dazu verpflichtet. Er wollte dieses Kapitel seines Lebens ein- für allemal zum Abschluß bringen.

 

Schließlich hielt der Wagen vor dem düsteren Gefängnis von Holloway.

 

Sir Godley ging zu der Loge des Portiers und gab sich zu erkennen. Dann folgte er einer der Wärterinnen, die ihn zu dem Gefängnisgeistlichen führte. Es war ein nervöser junger Mann, der das Amt nur vorübergehend für kurze Zeit verwaltete.

 

»Sie ist in wunderbarer Verfassung«, sagte er. Zum erstenmal war er in einer wirklich ernsten Sache zugezogen worden, und er interessierte sich außerordentlich für den Fall der Miß Revelstoke. »Unter gewöhnlichen Umständen hätte ich ja auch keinen Antrag ans Ministerium gestellt, aber sie bestand so sehr darauf. Sie hat Ihnen eine wichtige Mitteilung zu machen, und da Sie der Präsident der Bankiervereinigung sind –«

 

Godley war zu seiner größten Überraschung nach Monkfords Tod dazu gewählt worden.

 

»Ich verstehe vollkommen«, erwiderte er. »Wir wollen zu ihr gehen.«

 

»Die Unterhaltung wird privater Natur sein«, versicherte der Geistliche, »obgleich ich von Amts wegen zugegen sein muß.«

 

Miß Revelstoke war in einer geräumigen Zelle des Erdgeschosses untergebracht.

 

Die Wärterin schloß auf.

 

»Die Tür bleibt offen«, sagte der Kaplan. »Ich warte draußen.«

 

Es kostete Sir Godley doch einige Überwindung, die Schwelle zu überschreiten. Aber er nahm all seine Energie zusammen.

 

Die Frau lehnte mit dem Rücken an der Fensterwand. Sie war sehr gefaßt, und ihre dunklen Augen leuchteten. Gewöhnlich müssen die Gefangenen, die nach Holloway kommen, Gefängnistracht anlegen, aber sie trug noch immer das dunkle Kleid, in dem sie während des Prozesses erschienen war.

 

»Guten Tag, Godley – es ist sehr nett von dir, daß du gekommen bist.«

 

Er nickte leicht mit dem Kopf.

 

»Dein Junge ist allerdings sehr tüchtig. Vermutlich hat er die Begabung von seiner Mutter.«

 

Diese beabsichtigte Kränkung verletzte ihn nicht. Er erkannte nur, daß sich diese Frau nicht im mindesten geändert hatte. Sie trat immer noch so selbstbewußt und anmaßend auf wie früher.

 

»Ich hatte natürlich keine Ahnung, daß er Clays Neffe war. Den Namen hielt ich nur für eine zufällige Übereinstimmung. Hätte ich das gewußt, so hätte es wahrscheinlich für mich und auch für dich einen großen Unterschied gemacht.«

 

Wenn sie hoffte, ihn durch diese Äußerung zum Sprechen zu bringen, täuschte sie sich. Er nickte nur schweigend.

 

»Ich möchte dich bitten, daß du dich um Alice und Henry kümmerst«, sagte sie ruhig. »Alice interessiert mich allerdings nicht besonders, und sie kann sich auch selbst durchs Leben schlagen. Aber Henry ist schwach und man muß für ihn sorgen. Ich würde viel ruhiger sein, wenn ich wüßte, daß sich jemand seiner annimmt.«

 

»Nun gut, das will ich für dich tun«, entgegnete Sir Godley bereitwillig.

 

Sie sah ihn merkwürdig an.

 

»Du hast dich geändert, aber deine Stimme ist dieselbe. Ich würde sie immer wiedererkennen. Das Leben ist doch merkwürdig. Clay ist tot und die anderen auch. Und dein Junge hat das alles vollbracht. Wohin er auch ging, immer folgte ihm der Tod.«

 

Sie sprach ohne Erregung und Bitterkeit, und er wunderte sich über ihre Selbstbeherrschung.

 

»Die Polizeibeamten, mit denen ich gesprochen habe, nennen ihn nur den ›Long mit der glücklichen Hand‹, und ich glaube auch, daß ihm der Zufall viel geholfen hat. Godley, denkst du, ich nehme diese Strafe so leicht hin? Kommt dir das nicht sonderbar vor, da du doch weißt, ein wie umsichtiger Führer Clay war?«

 

»Ja, das habe ich bemerkt.«

 

Sie beobachtete ihn mit ihren dunklen Augen.

 

»Clay war wirklich ein wunderbarer Mann. Er hatte alle Möglichkeiten vorausgesehen. Er wäre auch niemals an den Galgen gekommen. Aber im Handgemenge mit deinem Sohn wurde sein Rock zerrissen, und die dummen Beamten auf der Polizeistation gaben ihm einen anderen.«

 

Er verstand nicht, was sie damit sagen wollte.

 

»Ich kann mich darauf besinnen, aber es wurden doch in den Taschen seines Rocks nur ein paar Papiere gefunden.«

 

Die Antwort schien sie zu belustigen.

 

»Vielleicht denkst du einmal darüber nach.«

 

In diesem Augenblick zeigte sich das ängstliche Gesicht des Gefängnisgeistlichen in der Türe. Er hatte die Uhr in der Hand. Offenbar war die Zeit der Unterredung abgelaufen.

 

»Bitte, bedenke einmal die Tatsachen. Clay würde noch leben – Cravel und Jackson Crayley würden leben. Und der arme Henry säße nicht im Irrenhaus, wenn nicht dein Sohn gewesen wäre.«

 

Er sah sie durchdringend an.

 

»Aber Monkford und die anderen, die er ermordet hat – würden die auch noch leben? Der Richter, der Rechtsanwalt, der Henker?« fragte er mit rauher Stimme. »Ich danke dem Schicksal, daß Arnold so tüchtig war, um Clay Shelton und seine Verbündeten zu erledigen. Wenn du glaubst, daß du mich täuschen kannst, täuschst du dich nur selbst, und wenn du Mitleid oder Mitgefühl in mir wecken willst, vergeudest du nur Zeit.«

 

Sie lächelte und nahm ein zusammengefaltetes Stück Papier vom Tisch auf.

 

»Wenn du das liest, wirst du meinen Standpunkt besser verstehen«, sagte sie.

 

Als er die Hand ausstreckte, um es zu nehmen, ließ sie es vorzeitig fallen, so daß es zu Boden flatterte. Er trat einen Schritt vor, um es aufzuheben.

 

Der Geistliche, der im selben Augenblick in die Tür trat, schrie laut auf und rettete dadurch Sir Godley das Leben. In ihrer erhobenen Hand blitzte eine Klinge, die sie mit aller Gewalt niederstieß. Bei dem Aufschrei neigte sich Sir Godley aber zur Seite, so daß er nur an der Schulter verletzt wurde. Im nächsten Augenblick packte er die Frau. Sie hatte die Stärke eines Mannes und stach noch zweimal mit dem Messer nach seinem Gesicht. Nur um Haaresbreite verfehlte sie ihn. Durch eine übermenschliche Anstrengung gelang es ihr schließlich, ihn abzuschütteln und zurückzustoßen. Sie riß einen Knopf von ihrem Rock ab und führte dann die Hand zum Mund.

 

Inzwischen waren viele Wärterinnen in die Zelle gekommen, und sie leistete keinen Widerstand mehr. Das Dolchmesser fiel auf den harten Flur. Der Griff bestand aus einem Schuhabsatz. Clay Shelton war in der Tat ein guter Führer, der alles vorausgesehen hatte. Während ihrer ganzen Gefangenschaft hatte sich die haarscharfe Klinge stets in ihrem Schuh befunden.

 

Bleich und verstört ging Sir Godley in das Büro des Anstaltsdirektors, der nach einiger Zeit besorgt und verärgert eintrat.

 

»Haben Sie der Frau etwas gegeben?« fragte er.

 

Sir Godley schaute ihn erstaunt an.

 

»Was sollte ich ihr denn gegeben haben?«

 

»Gift!«

 

»Nein, das habe ich nicht getan«, erklärte Sir Godley verwirrt. »Hat sie denn –?«

 

Der Direktor nickte.

 

»Sie ist tot. Ein Knopf an ihrem Rock fehlt. Wahrscheinlich hatte sie das Gift darin verborgen.«

 

Und nun verstand Sir Godley, warum der ausgewechselte Rock daran schuld war, daß Clay Shelton an den Galgen kam.

 

Kapitel 42

 

42

 

Zwei Wochen waren inzwischen vergangen. Die Totenschau für Miß Revelstoke hatte großes Aufsehen erregt, war aber bald wieder vergessen worden. Der Wetter sah seinen Vater nicht, aber Nora Sanders war täglich bei ihm. Sie brauchte seinen Rat, denn sie hatte sich entschlossen, das Testament Monkfords nicht anzuerkennen, da die Unterschrift wahrscheinlich gefälscht war.

 

Sir Godley kam erholt von Bournemouth zurück, aber der Überfall, der auf ihn gemacht worden war, hatte ihn doch mehr mitgenommen, als er zugeben wollte.

 

Als sich am Abend die Dienstboten nach dem Essen zurückgezogen hatten, stützte er die Ellbogen auf den Tisch und wandte sich an Nora.

 

»Hast du den Bericht über die Totenschau gelesen?« fragte er.

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Arnold wollte mir die Zeitung nicht zeigen. Und auch dann hätte ich ihn nicht gelesen. Ich habe nur die Überschrift gesehen: ›Die erstaunliche Geschichte eines Bankiers‹. Warst du das?«

 

»Ja, und es handelt sich um die Geschichte, die ich euch damals erzählen wollte, als ich zum Gefängnis gerufen wurde.«

 

»Wer war eigentlich Miß Revelstoke?« fragte sie.

 

Sir Godley holte tief Atem.

 

»Meine Frau! Die vollständige Geschichte der Bande des Schreckens wurde vor Gericht nicht vorgebracht, und Gott sei Dank war meine Anwesenheit nicht nötig. Clay Shelton war mein Bruder, oder vielmehr mein Halbbruder, ein wilder, gewissenloser Junge, der meinen Vater und später auch mich bestahl. Als unser Vater den Diebstahl entdeckte, brannte Clay von Hause durch. Ich war damals mit einer hübschen Dänin, einer Miß Ostlander, verlobt, die als Gouvernante bei einem Nachbarn angestellt war. Ich traf sie auf einem Gartenfest, verliebte mich in sie und heiratete sie kurz nach dem Verschwinden meines Bruders.«

 

Er streifte die Asche seiner Zigarre ab und lächelte bitter.

 

»Hoffentlich mußt du niemals so traurige Erfahrungen in der Ehe machen wie ich. Äußerlich war sie das liebenswürdigste junge Mädchen, aber an unserem Hochzeitstag erzählte sie mir eine Geschichte, die mich tief unglücklich machte. Sie liebte meinen Bruder und hatte mich nur geheiratet, damit das Kind, das sie erwartete, einen Namen bekam. Warum sie mir das alles sagte, habe ich niemals begriffen. Ich glaube, sie wollte mich nur verletzen oder so abstoßen, daß meine Liebe zu ihr getötet wurde.

 

Damals war ich sehr gutmütig und hatte eine hohe Meinung von den Frauen. Wir waren nach Kopenhagen gefahren. Drei Tage später verließ sie mich und teilte mir in einem Brief mit, daß sie nicht die Absicht hätte, zu mir zurückzukehren, und daß sie dorthin gegangen wäre, wo sie ihr wahres Glück fände. Ich reichte sofort die Klage gegen sie ein, und die Scheidung wurde vom Gericht ausgesprochen. Ich glaube, daß sie dann heirateten –«

 

»Am 9. Februar 1886«, unterbrach ihn der Wetter. »Das ist das dritte Datum, das in die Kabinenwand eingeschnitten war. Das zweite war der Geburtstag seiner Frau. Das vierte der Geburtstag Crayleys – Jackson Crayley Longs.«

 

»Crayley war der Name unseres Familiengutes in Yorkshire«, fuhr Sir Godley fort. »Ich hatte niemals wieder etwas von ihnen gehört, bis mein Geschäftsführer eines Tages aufgeregt in mein Büro kam und mir sagte, daß wir achtzigtausend Pfund auf eine gefälschte Bankanweisung gezahlt hätten. Zuerst hatte ich die Absicht, die Sache der Polizei zu übergeben, und ließ mir die Schriftstücke vorlegen. Auf der Rückseite sah ich in Bleistiftschrift die beiden Buchstaben ›J. X.‹. Sie waren der Aufmerksamkeit des Kassierers entgangen, aber ich erkannte an dem X sofort Johns Handschrift. Mein Bruder hatte also die Papiere gefälscht, und die beiden Buchstaben hatte er gewissermaßen als Herausforderung auf die Rückseite geschrieben. Ich zahlte die achtzigtausend Pfund aus meinem Privatvermögen und setzte eine Annonce in die persönlichen Anzeigen der Times ein: ›J. X. Diesmal habe ich gezahlt, das nächstemal zeige ich dich an.‹ Er hat dann auch niemals wieder versucht, mich zu betrügen, aber kurz darauf begann diese Serie der internationalen Fälschungen, die den Namen Clay Sheltons bekannt und gefürchtet machten.

 

Ich bewunderte seine eiserne Energie und seine Selbstbeherrschung. Er war verheiratet, hatte eine Familie, aber er lebte nur drei Wochen im Jahr mit ihr zusammen. Sie trafen sich gewöhnlich in einem kleinen dänischen Seebad an der Ostsee. Die Kinder wurden in Dänemark erzogen und sprachen infolgedessen ebenso fließend Dänisch wie Englisch. Als sie heranwuchsen, fand Clay den Mut, ihnen seinen wahren Charakter zu enthüllen.

 

Er wußte, daß sie früher oder später entdeckt würden, wenn sie zusammenlebten und kam deshalb zu folgender Lösung. Jedes Familienmitglied wurde zu einer anderen Persönlichkeit abgestempelt. Sie zeigten in der Öffentlichkeit nicht, daß sie miteinander verwandt waren. Nur während der wenigen Wochen an der Ostsee fielen diese Schranken.

 

Ihre Mutter zog dann nach England und ließ sich als unverheiratete Dame mit großem Vermögen dort nieder. Die Jungen wurden unter verschiedenen Namen auf verschiedenen Schulen erzogen, und später ergriffen sie verschiedene Berufe. Crayley wurde Landwirt, verwaltete aber sein Gut schlecht. Dann kauften sie ihm ein Haus in der Nähe des Stroms. Er hatte die Aufgabe, nach dem Festland zu reisen, mit reichen Leuten Bekanntschaft zu schließen und sich nicht nur ihre Unterschriften, sondern auch alle Details aus ihrem Leben zu verschaffen.

 

Henry wurde ein Rechtsanwalt, und Cravel, der zweite Sohn, Hotelbesitzer. Er war ein erfolgreicher Kaufmann und unterhielt auch seine Schwester Alice. Außerdem war er die rechte Hand seines Vaters. Jackson Crayley spielte nur eine untergeordnete Rolle und verdarb gewöhnlich alles. Ich berichte nur, was ich von Arnold gehört habe. Er führte sogar den Tod seines Vaters herbei, weil er ihm in dem Augenblick der Verhaftung eine Pistole zusteckte. Seine Mutter liebte ihn nicht.

 

Crayley war aber ein guter Junge, der seine Tätigkeit haßte. Er suchte immer nach einer Gelegenheit, sich von dieser schrecklichen Gesellschaft zurückzuziehen und ein anständiges Leben zu führen. Seine Schwester Alice unterstützte ihn bei diesen Bestrebungen, und die beiden waren gute Freunde. Nach dem Tode seines Vaters war Cravel der führende Geist, obwohl Miß Revelstoke mit den Verbrechern in Verbindung trat, die die Gewalttaten verüben sollten. Sie verkleidete sich als Mann, setzte eine weiße Perücke auf und engagierte die Leute. Aber Cravel war stets in der Nähe, um den Mörder zu töten, ob dieser sein Ziel erreichte oder nicht.

 

An dem Morgen, an dem Arnold von Chelmsford zurückkam, wurde er von Henry verfolgt, der eine Bombe in seinen Wagen werfen sollte, falls Ulanen-Harry ihn verfehlte. Es war ganz einfach, nicht wahr, Arnold?«

 

Der Wetter nickte.

 

»Ja. In der Seitenstraße stand ein Auto bereit, das anscheinend einem Gemüsehändler gehörte. Sobald Harry tot war, fuhr der Wagen los, nahm Henry und sein Motorrad auf und verschwand.«

 

»Nacheinander brachten sie die Leute um, die sie für den Tod ihres Vaters verantwortlich machten. Crayley verpfuschte gewöhnlich alles, aber hinter Henry und Cravel stand stets diese ungewöhnliche Frau.«

 

»Hat sie mich eigentlich auch mit irgendeiner Nebenabsicht engagiert?« fragte Nora gespannt.

 

»Nein. Es war ein Zufall, daß du angestellt wurdest. Aber nachdem du einmal im Hause warst, benützte sie dich natürlich auch als Werkzeug. An dem Tag, an dem du Monkford besuchtest, wurde sie sich klar darüber, wie sie dich verwenden konnte. Du hast uns ja erzählt, daß sie sagte, Monkford hätte angerufen und wäre des Lobes über dich voll gewesen. Aber Monkford hatte das Telephon nicht angerührt. Dann kam der mysteriöse Ring an, und wieder wurde Monkford vorgeschoben. All dies sollte dir nur die spätere Erbschaft plausibel machen. Das Testament war bereits von Henry aufgesetzt und die Unterschrift gefälscht.

 

Unglücklicherweise gab sie dir einen Ring, den Arnold auf ihrem Jugendbildnis gesehen hatte. Das brachte ihn auf die Spur. Als er zu mir kam und ihn mir beschrieb, konnte ich ihm sagen, daß ich ihn an dem Tag unserer Ankunft in Kopenhagen für sie gekauft hatte.

 

Alice Long berichtete uns alles, was sich an dem Nachmittag vor Monkfords Tod ereignete. Henry und Crayley – ich glaube, Henry kam auf die Idee – erzählten Monkford, daß Arnold über ihn und dich Gerüchte verbreitet hätte, und der Mann war natürlich wütend darüber. Obwohl er dich sicher gern gehabt hat, dachte er doch nicht daran, sich in dich zu verlieben oder dich gar zu heiraten. Im Gegenteil, er war ein eingefleischter Junggeselle. Aber sie wollten unter allen Umständen erreichen, daß er Arnold sein Vertrauen entzog. Darin lag das Teuflische ihres Plans. Wenn er mit dem Wetter schlecht stände, würde er ihn von sich fernhalten, dachten sie. Und er mußte so lange ferngehalten werden, bis sie ihr elendes Werk vollbracht hatten. Wie er starb, weißt du. Das Telephon hatte offenbar Cravel erfunden, der ein ideenreicher Techniker war.

 

Ich kann aufrichtig sagen, daß ich nicht die geringste Ahnung von Miß Revelstokes Identität hatte, selbst nachdem ich von dem Ring gehört hatte. Ich erfuhr erst davon, als ich eines Nachts ausging, um einen Brief zum Kasten zu bringen, und ein Auto an mir vorüberkam. Die Hand des alten Herrn, der darin saß, lag auf dem Fensterrahmen, und ich erhaschte einen Blick seines Gesichts. Eine Sekunde lang streiften mich die dunklen Augen, und ich wäre beinahe vor Schrecken umgefallen. All diese Jahre hatten die Erinnerung an Alicia Ostlander nicht in mir auslöschen können, und instinktiv wußte ich, daß Alicia Ostlander und Miß Revelstoke ein und dieselbe Person waren. Es gab keinen Grund, warum ich sie miteinander in Verbindung bringen sollte, aber ich tat es.

 

Mein Wagen folgte dem anderen, bis wir Colville Gardens erreichten, wo er in der hinteren Einfahrt verschwand. Nun war ich meiner Sache vollkommen sicher. Ich hatte eine kleine Unterredung mit meinem Chauffeur und fragte ihn, ob er dem Wagen folgen wollte, wenn er wieder herauskäme. Der Mann ging auf meinen Vorschlag ein, obwohl er mich wahrscheinlich für etwas verrückt gehalten hat. Ich wußte allerdings nicht, ob Miß Revelstoke in der Nacht noch einmal ausfahren würde; aber während ich noch mit dem Mann sprach, erschien ihr Auto bereits wieder. Glücklicherweise regnete es, sonst hätten wir die Verfolgung des starken Wagens nicht aufnehmen können. Außerhalb der Stadt ging es besser, weil die Straßen glatt und schlüpfrig waren, so daß man vorsichtig fahren mußte. Ich bestimmte den Chauffeur, seine Lampen abzublenden; aber die Mühe hätte ich mir sparen können, denn sie dachte nicht an eine Verfolgung und sah sich kein einziges Mal um.

 

Schließlich kamen wir zu einem Ort, den ich der Beschreibung nach für Heartsease hielt. Der Wagen fuhr durch das Tor, und ich setzte meinen Weg zu Fuß fort.

 

Es regnete jetzt heftig, und ich stellte mich unter eine Zeder, die mir einigen Schutz gewährte. Die Frau war in dem Hotel verschwunden. Dann kam ein Mann heraus und brachte den Wagen fort, vermutlich in die Garage. Ich wartete und wartete und hielt mich beinahe selbst für verrückt. Nach einer Weile machte ich mir klar, daß es vernünftig, sein würde, nach Hause zurückzufahren und meine alarmierten Dienstboten zu beruhigen. Ich ging gerade den Fahrweg hinunter, als zwei helle Lichter vor mir auftauchten. Es blieb mir noch Zeit, mich zu verbergen, dann raste ein Krankenauto vorüber. Es hielt nicht vor dem Haupteingang, sondern an einer Seitentür, die auch Miß Revelstoke benützt hatte.

 

Ich ging zurück und achtete darauf, daß ich immer in Deckung blieb. Sie stellten eine Tragbahre heraus, und ein Mann – es war wohl Cravel – nahm eine Gestalt in die Arme und trug sie ins Hotel. Gleich darauf entfernte sich der Krankenwagen auf dem Weg, den er gekommen war. Meine Neugierde erwachte nun aufs neue. Ich bin zwar nicht mehr der Jüngste, aber doch noch elastisch und kräftig. Die Haupttür zum Hotel konnte ich nicht öffnen, und ich kletterte daher kurz entschlossen an der Vorhalle empor, die oben einen Balkon trug. Dabei verlor ich allerdings meine Brille. Nach fünf Minuten stieg ich ohne weitere Mühe in ein Fenster ein und befand mich im Korridor des ersten Stockwerks, wie ich nachher bemerkte. Irgendwo hörte ich Stimmen, aber es war alles dunkel. Ich tastete mich an der Wand entlang und probierte jede Türklinke. Sie waren alle verschlossen. Schließlich stieg ich zum zweiten Geschoß hinauf, und als ich Miß Revelstokes Stimme hörte, glaubte ich mich plötzlich um dreißig Jahre zurückversetzt. Was sie sagte, interessierte mich in höchstem Maße. Ihr Plan war so kaltblütig und entsetzlich, daß mir die Haare zu Berge stiegen. Ich sah mich nach einem Versteck um und untersuchte auch hier alle Türen, fand sie aber gleichfalls verschlossen. Vorsichtig ging ich zur Eingangshalle hinunter und sah in dem gedämpften Licht einer Lampe die offene Tür des Büros. Ich ging hinein und wagte es, das Licht anzudrehen, weil ich hoffte, hier einen Schlüssel zu finden. Zum Glück entdeckte ich auch den Hauptschlüssel, der an einem Haken des Pultes hing. Ich nahm ihn und ging schnell wieder nach oben. Ich hatte gerade den ersten Stock erreicht, als ich oben Licht sah. Rasch öffnete ich die nächste Tür und schlüpfte hinein, um zu warten, bis sie gegangen waren.«

 

Sir Godley lächelte traurig.

 

»Hier hätte meine Geschichte enden können. Als ich den Fuß behutsam vorschob, berührte ich nichts. Ich hatte eine Schachtel Streichhölzer in der Tasche, steckte eins an und bemerkte nun die Löcher im Boden und in der Decke. Das obere war durch die Unterseite eines Teppichs verdeckt. Es war nicht schwer zu vermuten, daß bauliche Veränderungen in dem Haus vorgenommen wurden, denn Gerüste und Werkzeuge deuteten darauf hin.

 

Ich hatte die Tür von innen verriegelt, als ich eintrat, und wartete nun geraume Zeit. Ich hoffte, daß die drei anwesenden Leute weggehen würden. Aber dauernd schien der eine oder andere auf der Treppe oder wenigstens in Hörweite zu sein. Stunde auf Stunde verging, dann hörte ich plötzlich zu meiner Verwunderung und Freude Arnolds Stimme, der wenige Schritte von mir entfernt die Treppe hinaufging. Ich wartete und wunderte mich, was geschehen würde.

 

Nach einem langen, beängstigenden Schweigen hörte ich Schritte in dem Zimmer über mir und auch wieder Arnolds Stimme. Das Loch in der Decke war, wie ich schon erzählte, von einem Teppich bedeckt, und sonderbarerweise war mein erster Gedanke, daß Arnold herunterstürzen könnte. Ich hörte ihn sprechen und Cravel antworten. Ich hatte meinen Mund gerade geöffnet, um ihn zu warnen, als der Teppich schon nachgab. Arnold fiel herunter, stieß gegen einen Gerüstbalken und warf mich um. Aber ich konnte ihn im letzten Augenblick noch packen und in Sicherheit bringen.

 

Es wurde mir bald klar, daß wir uns beide in einer sehr gefährlichen Lage befanden, und ich war froh, daß ich meine Pistole eingesteckt hatte. Glücklicherweise war Arnold bewußtlos und konnte seine Gegenwart nicht verraten. Nach einer halben Stunde wurde es oben still.

 

Wasser war nicht in der Nähe, und ich konnte seine Wunde nicht verbinden. Aber ich merkte, daß er nicht ernstlich verletzt war. Als er wieder zur Besinnung kam, waren die Leute oben schon gegangen. Ich sagte ihm, wer ich war, und was sich ereignet hatte. Auch von dem Hauptschlüssel erzählte ich ihm.

 

Vom Fenster aus sah ich den Wagen, in dem offenbar Miß Revelstoke und ihr Sohn Henry das Hotel verließen. Arnolds erster Gedanke galt dir, Nora, und als ich nach einer kleinen Weile bemerkte, daß Cravel in dem Polizeiauto wegfuhr, durchsuchten wir das Haus. Wir begannen im Erdgeschoß und arbeiteten uns allmählich hoch. Ich hatte eigentlich geglaubt, sie würden sich nicht die Mühe machen, dich in ein oberes Stockwerk zu bringen.

 

Wir hatten den ersten Stock erreicht, als wir hörten, daß Cravel zurückkam. Wieder versteckten wir uns in Nr. 3 und warteten, bis er aus seinen Zimmern nach unten ging.

 

›Jetzt wollen wir es riskieren‹, meinte Arnold und stieg hinauf. Die erste Tür, die wir öffneten, führte zu Cravels Wohnung.

 

Wir hüllten dich dann in eine Decke und trugen dich nach Nr. 3. Natürlich hätten wir dem Mann begegnen können, und Arnold fürchtete, daß er in diesem Fall schießen würde. Dann erschien, wie durch ein Wunder, die Berkshire-Polizei, die Rouch telephonisch herbeigerufen hatte. Als sie nach Nr. 3 kamen und Cravel seinen Hauptschlüssel holen wollte, riegelte Arnold die Tür auf, zeigte sich dem Inspektor und überredete ihn, Cravel in ein Gespräch zu verwickeln, damit wir dich in Sicherheit bringen konnten. Nun kennst du die ganze Geschichte.«

 

»Eine verflucht gute Geschichte«, sagte der Wetter. »Sie hat nur den einen Fehler, daß sie nicht genügend Licht auf meinen Scharfsinn und meine Tüchtigkeit wirft, aber ich habe ja noch genug Zeit, dich mit meinen glänzenden Eigenschaften bekannt zu machen.«

 

Nora lächelte ihn glücklich an.

 

 

Ende

 

 

 

 

 

Ende März 1932 erscheint

in der »Neuen Ausgabe« von Edgar Wallace
Louba der Spieler

Preis M. 1.50

 

Kapitel 5

 

5

 

Arnold schaute entsetzt in das Gesicht des toten Ulanen-Harry und wollte seinen Augen nicht trauen. Eine kurze Untersuchung ergab, daß der Mann aus nächster Nähe von hinten erschossen worden war. Der Lauf des Gewehrs war noch heiß. Als Long die Kammer aufriß, sah er noch einige Patronen im Magazin. Ein paar Schritte davon entfernt befand sich die Hecke, und dahinter entdeckte er einen Abhang, der steil zur Straße abfiel. Kein Lebewesen war dort zu sehen, aber auf der Straße unten zeigten sich Räderspuren. Er kletterte wieder die Anhöhe hinauf und neigte sich gerade über den Toten, als er das Rattern eines Motorrades hörte. Er schaute sich rasch um und sah die Lederkappe des Fahrers.

 

Der Mann fuhr auf die Chaussee, wo der Detektiv seinen Wagen hatte stehen lassen. Long gab ihm ein Signal, zu halten. Der Fremde beachtete es jedoch nicht, obwohl er es gesehen haben mußte. Nur einen Augenblick schien er das Tempo zu verlangsamen, als er das Auto passierte, und kurz darauf verschwand er hinter den großen Erlen bei einer Straßenbiegung.

 

Der Inspektor sah sich nach Hilfe um. Die Schüsse mußten gehört worden sein. In einiger Entfernung entdeckte er eine schwarze Scheune, die ihm sonderbar bekannt vorkam, und er erinnerte sich daran, daß er am frühen Morgen Harry dort gesehen hatte.

 

Es blieb ihm nichts anderes übrig, als in das nächste Dorf zu fahren und Hilfe zu holen. Halbwegs war er schon zu seinem Wagen gekommen, als plötzlich eine große Flammengarbe daraus emporschoß. Er hörte eine laute Explosion und sah viele Metall- und Holzteile durch die Luft wirbeln.

 

Long stand einen Augenblick starr vor Schrecken, dann eilte er zu der Unglücksstelle. Das Auto bestand nur noch aus einer Masse von Blech und rauchenden Trümmern.

 

Kurz darauf kam ein Polizist auf einem Rad die Straße entlang, der die Explosion auch gehört hatte.

 

»Was ist denn mit Ihrem Wagen passiert? Ist er in die Luft geflogen?« fragte er atemlos.

 

»Er ist durch eine Bombe gesprengt worden«, erwiderte der Wetter grimmig.

 

»Eine Bombe?« wiederholte der Mann verblüfft.

 

Der Wetter kümmerte sich nicht weiter um das zertrümmerte Auto. Mit wenigen Worten klärte er den Polizisten auf und führte ihn zu der Stelle, wo der Tote im Grase lag.

 

»Auf der Straße unten sind Wagenspuren«, sagte er. »Aber wenn wir kein Flugzeug haben, zweifle ich stark daran, daß wir die Täter fassen können.«

 

Um fünf Uhr abends kam er nach Scotland Yard und berichtete Colonel Macfarlane, der ihm mit düsterem Gesichtsausdruck zuhörte.

 

»Die ganze Sache ist einfach unerklärlich, ich möchte fast sagen, unmöglich. Shelton ist doch um acht Uhr gehängt worden, und es besteht nicht der geringste Zweifel, daß er tot ist. Hatten Sie denn nicht die Möglichkeit, den Motorfahrer oder das Auto zu verfolgen?«

 

»Nein. Lassen Sie mir ein bis zwei Wochen Zeit. Wir haben es hier mit der Bande des Schreckens zu tun!«

 

Macfarlane runzelte die Stirne.

 

»Ich verstehe Sie nicht ganz. Shelton arbeitete doch vollkommen auf eigene Faust. Er hatte keine Bande, die ihm half, und auch keine Freunde. Soweit wir es beurteilen können, gibt es keinen Menschen auf der Welt, der sich darum kümmert, ob er lebendig oder tot ist.«

 

Der Wetter biß sich auf die Lippe.

 

»Das stimmt alles, und dennoch glaube ich nicht an die Galgenhand. Es gibt einen harten Kampf, denn die Bande des Schreckens wird uns keine Ruhe lassen. Den Ulanen-Harry haben sie in ihre Dienste genommen, denn sie wußten, daß er ein guter Schütze war. Er sollte mich auf meinem Rückweg von Chelmsford erledigen. Und es war ja leicht, ihn dazu zu überreden, denn er haßte mich im Grund seiner Seele. Als sie aber sahen, daß er sein Ziel verfehlte, haben sie ihn rücksichtslos über den Haufen geschossen. Und hätte er mich tatsächlich getroffen, dann hätten sie ihn erst recht kalt gemacht. Er unterschrieb sein Todesurteil in dem Augenblick, in dem er den Auftrag annahm.«

 

*

 

In den nächsten Monaten fand Long neues Interesse am Leben und war eifrig an der Arbeit. Das Bewußtsein, ständig in Gefahr zu schweben, verlieh ihm neue Spannkraft und Energie. Er war davon überzeugt, daß hinter Shelton eine Bande stand, die schrecklicher war als jede bisher bekannte Verbrecherorganisation, und es reizte ihn, seine Kraft und Klugheit mit dem Können dieser Leute zu messen.

 

Er hatte Ulanen-Harrys Spur bis zu dem Augenblick zurückverfolgen lassen, in dem der Mann das Gefängnis in Dartmoor verlassen hatte, und er hatte alle Leute verhört, mit denen der Sträfling in Berührung gekommen war. Aber niemand konnte ihm auch nur die leiseste Angabe machen, die zur Entdeckung seiner Auftraggeber geführt hätte.

 

Das nächste Jahr brachte eine Katastrophe nach der anderen, denn die Bande des Schreckens plante Mord auf Mord und führte ihre Untaten auch aus.

 

Kapitel 6

 

6

 

Obwohl Miß Revelstoke schon in vorgeschrittenem Alter stand, gehörte sie nicht zu den schrullenhaften Frauen, die sich langhaarige, teure Schoßhunde hielten oder andere Extravaganzen liebten. Sie war groß und stattlich und kleidete sich modern. In ihrem etwas blassen Gesicht glühten ein Paar dunkle, tiefe Augen, die ihren Zügen einen eigentümlichen Reiz verliehen.

 

Ihr Haus in Colville Gardens war in jeder Beziehung neuzeitlich und geschmackvoll ausgestattet, und Nora Sanders, die Sekretärin, fühlte sich in ihrem künstlerisch eingerichteten Zimmer sehr wohl.

 

An einem schönen Sommertag saß Miß Revelstoke an ihrem Schreibtisch und schrieb eine Adresse auf ein längliches Paket.

 

»Sie werden in Mr. Monkford einen sehr interessanten Herrn kennenlernen«, sagte sie dabei zu Miß Sanders. »Er ist sehr humorvoll wie die meisten etwas untersetzten Leute. Ist das Paket auch zu schwer für Sie?«

 

Nora wog es in der Hand. Es war leichter, als sie erwartet hatte.

 

»Wahrscheinlich lädt er Sie zum Tee ein. Ich speise heute abend erst um neun, eine halbe Stunde später als sonst. Mr. Henry kommt zum Essen, und er würde untröstlich sein, wenn er Sie nicht anträfe.«

 

Nora lachte. Miß Revelstoke hatte schon mehr als einmal angedeutet, daß der hübsche Rechtsanwalt nur ihrer Sekretärin wegen so häufig ins Haus kam.

 

»Sagen Sie Mr. Monkford, daß er mir nicht mehr zu schreiben braucht. Er kann die Statuette ruhig behalten. Wir sehen uns ja nächste Woche in Little Heartsease.«

 

Nora fuhr nach Marlow und freute sich, daß sie einmal wieder ins Freie kam.

 

Harry, der Bootsmann von Meakes, richtete sich auf, wischte die schweißbedeckte Stirn mit dem nackten, braunen Arm ab und sah die junge Dame, die vor ihm stand, respektvoll und wohlwollend an.

 

»Sie wollen zu Mr. Monkford?«

 

Er schützte die Augen mit der Hand gegen die Sonnenstrahlen und zeigte den Fluß hinauf, der an dieser Stelle eine scharfe Biegung nach der Temple-Schleuse zu machte.

 

»Von hier aus können Sie das Haus nicht sehen«, sagte er. »Es ist ein altes Gebäude. Aber wenn Sie den Fußweg entlanggehen, stoßen Sie darauf.«

 

Er sah sie ungewiß von der Seite an. Noch zwölf Boote hatte er sauber zu machen, und für eine Gesellschaft, die jeden Augenblick eintreffen konnte, mußte er einen Vierruderer in Ordnung bringen. Aber das Mädchen war hübsch, schlank und biegsam. Um ihre roten Lippen und in ihren grauen Augen spielte ein verführerisches Lächeln.

 

»Es ist ein ziemlich langer Weg. Sie müssen über die Brücke, die zweite Straße rechts gehen und dann an der Ecke abbiegen, wo das Denkmal steht – ich glaube, ich rudere Sie lieber hin, Miß.«

 

»Sie sind sehr liebenswürdig.«

 

Der Mann brachte das Boot an den Steg, und sie stieg ein. Er war sehr gesprächig, während er stromauf ruderte.

 

»… Hier in dem Loch, über das wir jetzt fahren, lebt die größte Forelle der ganzen Gegend. Manche Leute sagen, daß sie schon dreißig Jahre alt ist. Viele haben versucht, sie zu fangen; aber es ist noch keinem gelungen.«

 

Sie zeigte höfliches Interesse, um den Alten nicht zu verletzen.

 

»Sehen Sie, dort liegt Sheltons Boot.« Er deutete mit dem Kopf auf ein ziemlich verwahrlost aussehendes Motorboot, das am Ufer vor einem leerstehenden Hause vertäut war. Es zeigte schnittige Form und mußte früher einmal blendend weiß gewesen sein. Aber jetzt machte es einen unansehnlichen, vernachlässigten Eindruck. Sie dachte einen Augenblick darüber nach, wer Shelton wohl sein mochte, aber der Bootsmann gab ihr sofort Auskunft.

 

»Shelton ist gehängt worden, weil er einen Polizisten erschossen hat. Er war der größte Urkundenfälscher, der jemals existierte – wenigstens sagen die Zeitungen so.«

 

Sie sah ihn erstaunt an, dann wanderten ihre Blicke wieder zu dem Boot am Ufer.

 

»Was, er ist gehängt worden?«

 

»Ja. In dem Haus dort hat er gewohnt, und mit dem Motorboot hat er seine Reisen gemacht. Nach seinem Tod hat man das Haus und das Boot verkauft. Aber sehen Sie, dort an der Ecke wohnt Mr. Monkford. Der hat Shelton an den Galgen gebracht«, erklärte Harry feierlich. »Er und Mr. Long, der berühmte Detektiv. Der ist gerade zu Besuch bei ihm. Ich habe gesehen, wie er heute nachmittag in einem Boot hinruderte.«

 

Sie wußte wohl, daß Joseph Monkford eine prominente Persönlichkeit in Bankkreisen war. Miß Revelstoke, die ihn schon lange kannte, hatte ihr das ausführlich erzählt. Er hatte sich durch eigene Tüchtigkeit emporgearbeitet, war jetzt der leitende Direktor der Southern & City Bank und als solcher Vorsitzender der Bankiervereinigung.

 

»Ja, er und der Wetter Long haben Shelton gehängt. Aber Sie haben doch sicher davon gehört. Die Geschichte hat doch erst vor einem Jahr gespielt.«

 

Nora schüttelte den Kopf. Sie las niemals die Mordberichte in den Zeitungen.

 

Das Haus kam jetzt in Sicht. Es stand zwischen hohen Pappeln, und eine große, grüne Rasenfläche breitete sich von der Terrasse bis zum Ufer aus.

 

Harry legte am Landungssteg an. Sie stieg mit ihrem kleinen Paket aus dem Boot und griff nach ihrer Handtasche, um dem Mann ein Geldstück zu geben.

 

»Nein, danke schön, Miß.«

 

Mit einem kräftigen Ruderschlag stieß er das Boot wieder vom Ufer ab und winkte ihr einen fröhlichen Abschiedsgruß zu.

 

»Mr. Monkford fährt Sie später sicher im Auto zur Station«, rief er ihr noch zu.

 

Sie lächelte ihn dankbar an und ging dann über den gutgepflegten Rasen zur Terrasse.

 

Kapitel 7

 

7

 

»Mr. Monkford hat gerade Besuch«, sagte der Diener, der sie einließ und ihr das kleine Paket abnahm.

 

Aber schon nach wenigen Sekunden erschien der Hausherr in dem kleinen Salon, in dem sie wartete.

 

»Kommen Sie herein, Miß Sanders. Hat Ihnen Miß Revelstoke die Statuette für mich mitgegeben? Das ist ja glänzend!«

 

Miß Revelstoke und Mr. Monkford sammelten klassische Altertümer. Die alte Dame hatte die Plastik, die Nora brachte, von einem Antiquitätenhändler erworben, wollte sie aber Monkford überlassen, weil die Darstellung sie abstieß.

 

»Kommen Sie doch, bitte, hier herein. Das Paket muß aber ziemlich schwer gewesen sein«, meinte er. »Wenn ich genau gewußt hätte, wann Sie ankamen, hätte ich meinen Wagen zur Bahn geschickt… Darf ich Ihnen einen meiner Freunde vorstellen?«

 

Sie war ihm in die große Bibliothek gefolgt, von wo aus man den Strom übersehen konnte. Am Fenster stand ein Herr und schaute mit düsteren Blicken über den Rasen nach dem Wasser hin. Er kam ihr bekannt vor, und als sich ihre Blicke trafen, erkannten sie sich gegenseitig.

 

»Mr. Long – Miß Sanders.«

 

Sie hatte den Namen doch schon gehört! Plötzlich erinnerte sie sich wieder an die Geschichte, die ihr der Bootsmann von Shelton erzählt hatte. Das war also der Wetter Long, der berühmte Detektiv!

 

Er sah Nora interessiert an. Sie fühlte, wie seine Blicke sie durchdrangen, aber es war ihr sonderbarerweise nicht unangenehm. Seine Augen besaßen geradezu hypnotische Gewalt und Stärke. Unwillkürlich hatte sie den Eindruck, daß er über ungewöhnliche Kraft und Energie verfügen mußte.

 

Monkford ging zum Kamin und drückte die Klingel.

 

»Wir wollen erst Tee zusammen trinken. Das andere hat Zeit bis später.«

 

Er packte das Paket aus und schälte einen kleinen Holzkasten aus dem grauen Papier. Ein Gegenstand lag darin, der von einer Tuchhülle umgeben war.

 

»Ein wundervolles Stück«, sagte er, als er die Figur in der Hand hielt.

 

Auch der Wetter kam langsam vom Fenster zum Tisch und betrachtete sie interessiert.

 

Es handelte sich um eine nackte Frauengestalt, die aus Ebenholz geschnitzt war. Sie stand mit erhobenem Kinn und blickte trotzig drein.

 

»Wirklich ein ausgefallen schönes Stück«, wiederholte Monkford. »Sagen Sie Miß Revelstoke, daß ich sehr stolz auf den Besitz dieser Statuette bin.«

 

Noras Gedanken waren abgeschweift, und sie stellte plötzlich eine unüberlegte Frage.

 

»Wer war eigentlich Shelton?«

 

Ein peinliches Schweigen folgte, und ihr Herz schlug unwillkürlich schneller, als sie sah, daß sich Mr. Monkford verfärbte.

 

»Ach, es tut mir leid – ich hätte nicht so dumm fragen sollen«, sagte sie verlegen.

 

Der Bankdirektor sah verstört aus, obwohl er eben noch vergnügt und heiter gewesen war. Aber um Longs Lippen spielte ein fast unmerkliches Lächeln.

 

»Shelton war ein bekannter Urkundenfälscher, der einen Polizisten erschossen hat«, erklärte er einfach. »Ich habe ihn verhaftet, und bei der Gelegenheit tötete er den Beamten, der mich begleitete. Deshalb kam er an den Galgen. Niemand vermutete, daß er eine Schießwaffe bei sich hätte. Er muß tatsächlich von Sinnen gewesen sein. Wir wollten ihn doch nur wegen Betrugs und Urkundenfälschung verhaften. Ich muß allerdings sagen, daß er mehr Geld aus amerikanischen und englischen Banken gezogen hat als irgend jemand sonst. Wir konnten ihn vorher niemals fassen.«

 

Er warf einen schnellen Blick auf den Bankdirektor.

 

»Mr. Monkford und ich haben ihm eine Falle gestellt, und auf diese Weise gelang seine Verhaftung. Die Schießerei war allerdings eine Überraschung für alle Beteiligten. Ich allein bin verantwortlich dafür, daß er an den Galgen kam. Ich hätte ihn nur schon niederknallen sollen, bevor er Gelegenheit hatte, selbst zu feuern.«

 

Rein gefühlsmäßig erkannte Nora, daß er diese Geschichte nur erzählte, um Monkford zu beruhigen und von der Verantwortung zu entlasten. Sie verstand allerdings nicht, warum er das tat. Shelton hatte seine Strafe doch nur zu Recht erhalten, und Monkford brauchte sich keine Vorwürfe darüber zu machen, bei der Verhaftung eines Verbrechers und Mörders mitgewirkt zu haben. Longs nächste Worte brachten ihr eine gewisse Erklärung.

 

»Der arme Mr. Monkford hat sich über die Sache halb tot gegrämt. Er hat sich nämlich in den Kopf gesetzt…«

 

»Ach … wir wollen lieber über etwas anderes sprechen. Hier ist der Tee«, sagte der Bankier mit heiserer, unsicherer Stimme.

 

Er konnte seine Erregung nicht verbergen. Sein Gesicht sah aschfahl aus, und seine Hände zitterten, als er die Figur wieder aufnahm und betrachtete.

 

Während des Tees kam kaum ein Gespräch in Gang, und später trat Nora auf den Rasen hinaus. Sie hatte noch zwei Stunden Zeit, bevor der Zug zur Stadt zurückfuhr, und sie glaubte, daß die beiden Herren allein miteinander sprechen wollten. Aber darin täuschte sie sich.

 

Sie war gerade am Ufer angelangt, als sie eine Stimme hinter sich hörte. Sie wandte sich um und sah Arnold Long vor sich.

 

»Mr. Monkford ist in sein Zimmer gegangen, um sich etwas auszuruhen«, sagte er.

 

»Und ich bin daran schuld«, erwiderte sie mit aufrichtigem Bedauern. »Ich weiß gar nicht, wie ich dazu kam, diese verhängnisvolle Sache zu erwähnen. Morde sind mir etwas Verhaßtes, und ich spreche sonst nie darüber. Auch in den Zeitungen lese ich nie die Berichte über Verbrechen.«

 

Sie war begierig, mehr über ihn und seinen Beruf zu erfahren.

 

»Sie sehen wirklich nicht wie ein Detektiv aus!«

 

Der Wetter seufzte.

 

»Es ist mir auch schon zum Bewußtsein gekommen, daß ich ein sehr schlechter Detektiv bin. Damals, als ich Sie zum erstenmal sah, war ich allerdings noch sehr von meiner Tüchtigkeit überzeugt. Aber bis dahin hatte ich eben fabelhaftes Glück gehabt. Das war alles.«

 

»Wann haben Sie mich denn schon gesehen?«

 

»In der Southern Bank. Sie besinnen sich doch auch noch darauf – wetten, daß?«

 

Sie war wütend über ihn, aber nur einen kurzen Augenblick.

 

»Es ist erst ein Jahr her«, fuhr er fort. »Damals war ich noch ein froher junger Mann, aber jetzt fühle ich mich, als ob ich hundert Jahre alt wäre.«

 

»Wieso denn?« fragte sie freundlich.

 

»Weil ich schwere Sorgen habe. Nächste Woche werden sie Monkford ermorden, und ich weiß nicht, wie ich es verhindern könnte.«

 

Kapitel 8

 

8

 

Sie sah ihn erschrocken und ungläubig an.

 

»Das ist doch nicht Ihr Ernst?«

 

Er nickte düster.

 

»Ich sage es Ihnen, weil ich fühle, daß ich Ihnen vertrauen kann. Ich kenne Sie, und Sie kennen mich. Es war eine Verständigung auf den ersten Blick. Ich wußte sofort über Ihren Charakter Bescheid, als ich Sie damals in der Southern Bank sah. Aber wir wollen jetzt nicht mehr über diese unangenehmen Sachen sprechen. Darf ich Sie ein wenig auf den Fluß hinausrudern? Vergessen Sie alles, was ich Ihnen von Mr. Monkford gesagt habe. Er ist ja noch am Leben.«

 

Schweigend ging sie mit ihm zum Landungssteg und stieg in das kleine Boot ein. Sie freute sich über seinen Vorschlag, denn trotz ihrer kurzen Bekanntschaft war ihr seine Gesellschaft sehr angenehm. Er übte einen starken Einfluß auf sie aus, dem sie sich nicht verschloß. In seiner Gegenwart fühlte sie sich sicher, und sie wußte instinktiv, daß man sich auf ihn verlassen und ihm vertrauen durfte. Sonst war sie im Umgang mit Männern und Frauen sehr vorsichtig, und sie wunderte sich über sich selbst, daß die Persönlichkeit eines ihr fast fremden Mannes sie so stark faszinieren konnte.

 

»Wie alt sind Sie?« fragte er plötzlich, während er auf den Strom hinausruderte.

 

»Beinahe dreiundzwanzig – schon sehr alt.«

 

»Sie sehen aber durchaus nicht alt aus. Ich hielt Sie für höchstens zwanzig. Sind Sie böse, wenn ich Ihnen sage, daß Sie sehr schön sind?«

 

Sie lachte.

 

»Nein, darüber freue ich mich nur«, gestand sie offen.

 

Das Boot glitt leicht den Strom hinunter.

 

»Sie haben die schönsten Augen, die ich jemals an einer Frau gesehen habe«, sagte er nach einer Weile.

 

Sie erhob warnend den Finger.

 

»Mr. Long, ich glaube, Sie wollen mit mir flirten!«

 

»Nein, ich konstatiere nur Tatsachen. Sind Sie eigentlich verlobt?«

 

»Nein.«

 

Er holte tief Atem.

 

»Sonderbar.«

 

Plötzlich zog er die Ruder ein und hielt sich an einem Zweig am Ufer fest. Als sie aufschaute, sah sie zu ihrem Erstaunen, daß sie sich dicht neben Sheltons Motorboot befanden.

 

»Ich möchte Ihnen etwas zeigen«, sagte er und sprang an Bord. Dann beugte er sich nieder, reichte ihr die Hand und half ihr, hinaufzusteigen.

 

Als sie das Boot jetzt nahe vor sich sah, bemerkte sie den Verfall deutlicher.

 

Der Wetter öffnete die Tür zu der kleinen Kabine.

 

»Kommen Sie einmal hierher.«

 

Sie folgte ihm. Es herrschte vollkommene Dunkelheit in dem Raum, da alle Läden geschlossen waren, und er steckte ein Streichholz an.

 

»Sehen Sie, das klingt fast wie eine Prophezeiung.«

 

In eine Täfelung war eine Anzahl von Daten eingeschnitten.

 

1. Juni 1854 J. X. T. L.

6. September 1862.

9. Februar 1886.

11. März 1892.

4. September 1896.

12. September 1898.

30. August 1901.

14. Juni 1923.

1. August 1924.

 

In der vorletzten Zeile war hinter dem Datum ein kleines Kreuz eingeritzt.

 

Nora betrachtete die Zahlen erstaunt.

 

»Hat Mr. Shelton die Daten eingeschnitten? Was bedeuten sie denn?«

 

»Sie verraten allerhand«, erwiderte er vorsichtig. »14. Juni 1923 – das ist leicht erklärt. An diesem Tage wurde er gehängt!«

 

Sie schrak zurück. Das lange Wachsstreichholz ging aus, und einen Augenblick standen beide im Dunkeln. Plötzlich überkam Nora eine ungewöhnliche Furcht, und sie eilte an ihm vorbei ans offene Deck, in das Sonnenlicht. Er folgte ihr sofort und schloß die Tür der Kabine. Aus seinem Benehmen folgerte sie, daß er der augenblickliche Besitzer des Bootes war.

 

»Diese eingeschnittenen Daten habe ich im vorigen Jahr entdeckt, als ich das Boot kaufte und es näher untersuchte. Es war zuerst ein anderes Brett darüber geschraubt.«

 

»Aber er konnte doch nicht den Tag seines Todes vorauswissen?«

 

»Nein. Dieses Datum ist von der Bande des Schreckens eingeritzt worden.«

 

Nora sah ihn groß an. Scherzte er?

 

»Davon habe ich noch nie etwas gehört«, sagte sie schließlich.

 

»Wir wollen wieder in unser Boot steigen«, erwiderte er nur.

 

Kapitel 32

 

32

 

Der Wetter nickte.

 

»Führen Sie die Dame herein.«

 

Gleich darauf trat sie ins Zimmer, wie immer elegant gekleidet. Aber ihr Gesicht hatte sich vollkommen verändert. Sie war nicht mehr die heitere junge Dame, die er das letztemal in Heartsease gesehen hatte. Ihre Züge waren hart und verbittert, und sie sah aus, als ob sie in der letzten Zeit wenig geschlafen hätte. Schweigend starrte sie ihn an, bis der Diener gegangen war.

 

»Nein, ich danke. Ich möchte mich nicht setzen«, erwiderte sie auf seine Einladung. »Schätzen Sie Ihr Leben?« fragte sie dann unvermittelt.

 

»Sehr.«

 

»Crayley liebte das Leben auch.«

 

Ihr Benehmen war so seltsam, daß er glaubte, sie hätte sich dem Alkohol ergeben oder vielleicht ein Rauschgift genommen.

 

»Jackson Crayley liebte das Leben, obwohl Sie ihn für einen Trottel hielten. Sie glaubten, der Rosengarten und seine Blumen interessierten ihn nicht, aber ich sage Ihnen, daß er sich an den Farben berauschte, und daß der Duft der Blumen ihm das Dasein schön und begehrenswert machte. Jackson umgab sich mit kostbaren und schönen Dingen. Und jetzt ist er tot – tot.« Sie bedeckte die Augen mit der Hand und schwankte einen Augenblick. Er fürchtete, sie würde umsinken, und rückte einen Stuhl für sie zurecht.

 

»Nein, ich will stehen«, sagte sie ungeduldig. »Ich will Ihnen auch noch etwas anderes sagen – ich hasse Sie!« Sie sprach ganz leise.

 

Er zweifelte nicht an ihren Worten, denn Haß sprühte aus ihren Augen, und Haß sprach aus ihren verbissenen Zügen.

 

»Ich hasse Sie«, wiederholte sie. »Sie wissen nicht, wie sehr ich Sie hasse. Aber ich will nicht, daß Sie sterben – können Sie das verstehen? Ich will nicht, daß Sie umkommen!«

 

Bei den letzten Worten schlug sie mit der Hand auf den Tisch.

 

»Sie sollen leben! Oh, ich bin es satt, all dies viele Blutvergießen!« Sie streckte die Arme aus, und er glaubte, sie würde in Tränen ausbrechen. Aber sie beherrschte sich. »Eigentlich sollte es mir ja gleichgültig sein, ob Sie sterben oder nicht, aber ich mag keine Leichen mehr sehen.«

 

Sie schaute ihn durchdringend an.

 

»Wollen Sie sich nicht mehr mit dem Fall beschäftigen und die anderen in Ruhe lassen?«

 

»Aber warum denn? Selbst wenn ich mich von der Bearbeitung des Falles zurückzöge, wie könnte ich ihrer Rache entgehen?«

 

»Reisen Sie ein paar Monate ins Ausland – zwei Monate – ein Monat genügt.«

 

Sie sprach sehr erregt und atmete schnell. Jede Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen, und ihre Wangen und Lippen waren bleich.

 

»Ich muß Ihnen noch etwas sagen«, fuhr sie atemlos fort. »Neulich wären Sie beinahe ermordet worden. Ich wurde mit anderen ausgeschickt, um Sie daran zu hindern, eine Schußwaffe zu ziehen. Erinnern Sie sich an den Abend? Ich habe Ihnen nachher vorgelogen, daß man mich entführen wollte. Sie haben ja gleich gesehen, daß ich nicht die Wahrheit sagte. Ich wußte es in dem Augenblick, als Sie mich fragten, in welchem Theater ich gewesen wäre. Aber es ist mir gleich, was Sie jetzt mit mir machen. Ich wünschte nur, daß Sie mich ins Gefängnis steckten und mich so lange dort behielten, bis alles – alles vorüber ist. Ich habe Ihnen doch nun genug erzählt – haben Sie es nicht gehört? Ich war an dem Mordanschlag auf Sie beteiligt!«

 

»Wer war denn der Mann, der auf mich geschossen hat?«

 

Sie warf den Kopf ungeduldig zurück.

 

»Das kann ich Ihnen nicht sagen – Sie wissen selbst, daß ich Ihnen das nicht sagen werde. Aber ich war an dem Plan beteiligt – genügt das nicht? Können Sie mich nicht verhaften? Deshalb bin ich hergekommen! Und ich wollte Sie warnen.«

 

»Wer war der Mann, der auf mich geschossen hat?« fragte er noch einmal.

 

»Was kommt es denn darauf an? Glauben Sie wirklich auch nur einen Augenblick, daß ich es Ihnen sagen würde?«

 

»War es Ihr Bruder?«

 

»Nein, mein Bruder war an dem Abend in Little Heartsease. Das ist Ihnen gut genug bekannt, denn Sie haben sich genau darüber informiert. Am nächsten Tage sind Sie ja hingefahren, um ihn zu sprechen. Und Sie haben durch einen Ihrer Leute die Dienerschaft und die Kellner verhören lassen, und selbst die Gäste haben Sie ausgefragt!«

 

»War es Henry?«

 

»Nein«, sagte sie verächtlich. »Ich habe viel gewagt, als ich hierherkam. Warum betrachten Sie eigentlich dauernd meine Hände? Dreimal hätte ich Sie schon ermorden können, wenn ich gewollt hätte! Sie halten das natürlich für eine eitle Prahlerei, aber es ist die reine Wahrheit.«

 

In seinem Gesicht drückten sich Zweifel aus.

 

»Sie scheuen sich vor mir, weil ich eine Frau bin, und Sie würden zögern, auf mich zu feuern. Aber, selbst wenn ich ein Mann wäre, könnten Sie mich weder fassen noch erschießen.«

 

Sie hob plötzlich die Hand über den Kopf und schnalzte mit den Fingern. Grelles Licht blitzte auf, und er fuhr geblendet zurück. Als er die Augen wieder öffnete, konnte er nichts erkennen. Erst später sah er eine dicke, weiße Wolke, die sich an der Decke entlangzog.

 

»Magnesium«, sagte sie ruhig. »Ich hatte die Augen geschlossen, als ich es abbrannte, aber Sie hatten sie offen. Wie einen Hund hätte ich Sie niederschießen können, wenn ich gewollt hätte. Glauben Sie mir jetzt?«

 

Arnold atmete schwer.

 

»Ja, ich glaube Ihnen. Von dieser Seite habe ich Sie noch nicht kennen gelernt, Miß Cravel.«

 

»Sie kennen mich noch lange nicht«, erwiderte sie verächtlich. »Dreimal hat man einen Versuch gemacht, Sie zu ermorden, und dreimal ist es fehlgeschlagen. Aber schließlich müssen Sie doch noch daran glauben, Wetter Long.« Sie sah ihm fest ins Gesicht. »Ich bin heute gesprächig, und ich werde Ihnen noch etwas mitteilen. Ich fürchte mich davor, daß sie Sie ermorden, und ich fürchte mich davor, daß es ihnen mißlingt. Denn wenn sie diesmal keinen Erfolg haben, werden sie gefangen, und dann ist alles zu Ende. – Wollen Sie mich jetzt verhaften? Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie es täten. Ich bin nicht von Sinnen, Wetter Long. Aber es ist mir alles zuwider – es ist alles so entsetzlich!«

 

Er nahm den Brief aus der Tasche und reichte ihr das Blatt. Sie hatte kaum den Anfang gelesen, als sie ihn wieder zurückgab.

 

»Ich weiß alles. Gehen Sie hin?«

 

Er nickte.

 

»Am sechzehnten?«

 

Wieder nickte er.

 

»Was erwarten Sie denn dort?«

 

»Schwierigkeiten.«

 

»Ja, die Hölle wird Ihnen schon heiß gemacht werden«, sagte sie zwischen den Zähnen. »Sie wissen nicht, was in Heartsease auf Sie wartet.«

 

Die Warnung machte Eindruck auf ihn, aber er antwortete nicht. Er beobachtete sie, während sie den verräucherten Handschuh auszog und gegen einen anderen wechselte, den sie aus ihrer Handtasche nahm.

 

»Es läßt sich nichts mit Ihnen anfangen. Ich fürchtete es schon. Wo ist denn Miß Sanders?«

 

»In einem Krankenhaus.«

 

»Und Sie glauben, daß sie dort sicher ist?« fragte sie lächelnd.

 

»Ich sollte es wenigstens annehmen. Ein Detektiv bewacht die Vorderseite des Gebäudes, ein anderer die Rückseite.«

 

»Und sie holen Miß Sanders doch heraus, wenn sie wollen.«

 

»Wetten, daß nicht?«

 

»Die Wette verlieren Sie!«

 

Sie wollte noch etwas sagen, änderte aber ihre Meinung und ging zur Tür. Dort blieb sie stehen und wandte sich noch einmal um.

 

»Ihre Bande des Schreckens braucht Nora Sanders«, sagte sie, und ihre Lippen zuckten. »Braucht sie dringend! Den Grund ahnen Sie nicht.«

 

»Weil sie kein Geld mehr hat«, entgegnete er prompt.

 

Sie schaute ihn erstaunt an.

 

»Woher wissen Sie denn das?«

 

»Die Bande hat keine Mittel mehr.«

 

»Glauben Sie?« fragte sie leise. »Nun, hüten Sie auf jeden Fall Miß Sanders.«

 

Er fühlte, daß diese Warnung aufrichtig gemeint war. Noch lange, nachdem Alice Cravel gegangen war, wanderte er in seinem Zimmer auf und ab.

 

Dann setzte er sich an seinen Schreibtisch und skizzierte den Plan des Krankenhauses. Er hatte die größten Anstrengungen gemacht, um eine nochmalige Entführung Noras zu verhindern. Von allen Seiten betrachtete er den Plan und überlegte jede Möglichkeit eines Angriffs. Das Ende der Bande des Schreckens stand bevor, aber die Leute würden sich nicht ohne Kampf ergeben.

 

Er ging zu dem Krankenhaus, um noch einmal mit der Vorsteherin zu sprechen. Sie war eine pflichteifrige, zuverlässige Frau und wies den Gedanken, daß Miß Sanders aus dem Hospital entführt werden könnte, weit von sich.

 

»Sie ist doch vollkommen sicher hier, besonders da das Haus von Detektiven bewacht wird.«

 

Als er neben der Vorsteherin in der Halle stand, hörte er ein Stöhnen von oben. Die Frau lächelte.

 

»Das ist eine Frau, die mit den Nerven zusammengebrochen ist. Sie wurde heute nachmittag eingeliefert. Sie ist hysterisch und glaubt, daß sie schwer krank sei. Wenn sie nur Ruhe geben wollte!«

 

»Stört sie denn die anderen Patienten nicht?«

 

»Heute abend kommt sie wieder fort. Ich habe dem Arzt, der sie behandelt, schon gesagt, daß ich sie nicht länger behalten kann. Der jungen Frau fehlt nicht mehr als mir und Ihnen. Sie kann ebenso gut gehen und laufen wie jeder andere Mensch, aber sie besteht darauf, daß sie getragen wird.«

 

Long kehrte beruhigt zu seiner Wohnung zurück, Trotzdem verachtete er Alices Warnung nicht. Sein Diener war ausgegangen, hatte aber eine kurze Notiz auf dem Tisch zurückgelassen.

 

»Bitte, rufen Sie Sergeant Rouch an.«

 

Der Wetter ging zu dem Telephon.

 

»Ich glaube, daß ich den Verbindungsmann zwischen der Bande und der Unterwelt gefunden habe«, erklärte Rouch. »Kann ich zu Ihnen kommen?«

 

»Ja, kommen Sie gleich«, erwiderte Long.

 

Eine Viertelstunde später stand der Sergeant vor ihm. Er hatte einen bleichen Mann mitgebracht, der als einer der besten Spitzel in London galt und in der Unterwelt bekannt war. Er bildete eine Ausnahme unter den Polizeispitzeln, denn es gelang ihm, sich unter den Verbrechern eine gewisse Achtung zu sichern.

 

»Sagen Sie jetzt dem Inspektor, was Sie mir vorher berichtet haben«, forderte ihn Rouch auf.

 

»Sie suchen nach dem Professor. Ich habe ihn oft in Bermondsey und Deptford gesehen. Er kennt alle großen Kanonen: Kallini, Jacobs und den Griechen Paul.«

 

»Wie sieht er denn aus?«

 

»Er ist nicht so groß wie Sie, aber doch größer als ich. Und ziemlich schlank. Trägt immer schwarzen Anzug und Künstlerkrawatte.«

 

»Wie alt?«

 

»Das weiß ich nicht. Er scheint aber schon ziemlich alt zu sein. Er hat lange, weiße Haare, und deshalb nennen sie ihn auch den Professor. Er trifft die Leute immer draußen im Freien. In Deptford erzählt man, daß er ein großer Hehler aus dem Westen ist. Aber ich habe niemals gehört, daß er irgend etwas von den Leuten gekauft hat, er hat sie immer nur zu Gewalttaten engagiert.«

 

»Wissen Sie nicht einen Platz, wo man ihn beobachten könnte?«

 

»Nein. Wenn er kommt, schickt er gewöhnlich vorher eine Botschaft an den Betreffenden und gibt darin den Ort der Zusammenkunft an. Und die Leute sagen darüber nichts. Wissen Sie, wen er vor langer Zeit engagiert hat? Den Ulanen-Harry! Den kannten Sie doch? Ein Farmer hat ihn seinerzeit aus Versehen auf dem Feld erschossen.«

 

Auf diese Weise war der Tod des Ulanen-Harry in der Öffentlichkeit erklärt worden.

 

Der Wetter gab dem Mann den Auftrag, Scotland Yard sofort zu benachrichtigen, wenn sich der Professor irgendwo sehen ließe, oder wenn man erwartete, daß er auftauchen würde. Zum erstenmal, seitdem ihn der Schatten Clay Sheltons bedrohte, fühlte er sich bedrückt, denn die volle Energie und Tätigkeit der Bande des Schreckens richtete sich jetzt gegen Nora Sanders.

 

Er war müde und erschöpft. Wenigstens eine Nacht mußte er sich Ruhe gönnen. Das hatte er verdient. Er grinste, als er sich entkleidete und dann ins Badezimmer ging.

 

Das Rauschen des Wassers übertönte das Klingeln des Telephons, und er hörte es erst, als er ins Wohnzimmer zurückkehrte, um seine Pantoffeln anzuziehen. Schnell nahm er den Hörer ab.

 

Er glaubte, daß Sergeant Rouch ihn vielleicht noch einmal sprechen wollte, aber er erkannte Alice Cravels Summe, obwohl sie verstellt klang.

 

»Sind Sie am Apparat, Mr. Long? Holen Sie Nora Sanders sofort aus dem Krankenhaus. Gefahr im Verzug!«

 

»Warum?«

 

»Halten Sie sich nicht länger auf. Sie haben höchstens noch eine halbe Stunde Zeit. Wenn Sie bei Verstand sind, tun Sie, was ich Ihnen sage.«

 

»Aber –«, begann er, als sie das Gespräch durch Einhängen bereits beendete.