8

 

Tage vergingen. Andy beschloß, noch eine weitere Woche zu bleiben. Er suchte Dr. Granitt auf und beriet mit ihm. Der Dorfarzt besuchte Nelson auch, und obwohl er keine Kreislaufstörungen feststellen konnte, ließ er seinen Patienten doch mit dem Eindruck zurück, daß er eine ganze Anzahl böser Leiden habe.

 

Andy hatte Stella nur einmal aus der Entfernung wiedergesehen. Sein Urlaub näherte sich nun seinem Ende, und es wäre wirklich ratsam gewesen, wenigstens die letzte Woche noch mit Fischen und Angeln zu verbringen, wie er es ursprünglich geplant hatte. Aber sein Zimmer im Gästehaus war wirklich schön, der Golfplatz ausgezeichnet, und es war eigentlich kein Grund vorhanden, warum er nun gerade fischen sollte.

 

Am Sonntag ging er sogar zur Kirche. Das geschah etwas plötzlich, denn er hatte noch im Pyjama gesessen, als er Stella Nelson mit ihrem Gesangbuch vorbeigehen sah. Zehn Minuten nach ihr betrat auch er das Gotteshaus und ließ sich auf einer Bank nieder, von der aus er sie gut von der Seite sehen konnte. Nach Schluß des Gottesdienstes wartete er auf sie, und sie gingen zusammen nach Beverley Green zurück.

 

»Ich habe gehört, daß Sie uns morgen verlassen wollen?« fragte Stella.

 

»Ich hatte ursprünglich die Absicht, morgen abzureisen, aber wahrscheinlich werde ich noch einige Tage hierbleiben, wenn man mich nicht aus dem Gästehaus hinauswirft.«

 

»Bei uns wird niemand hinausgeworfen, außer von der Polizei«, sagte sie ein wenig boshaft. Er lachte.

 

Als sie über die Straße gingen, kam ihnen ein Mann entgegen. Er wandte sich plötzlich um und verschwand in einer Seitenstraße.

 

»Es sieht so aus, als ob Mr. Sweeny mir nicht begegnen möchte«, meinte sie lächelnd.

 

»Ich hatte denselben Eindruck. Wer ist eigentlich dieser Mr. Sweeny?«

 

»Er war früher bei Mr. Merrivan als Hausmeister angestellt, aber ich glaube, er mußte die Stelle unter ein wenig sonderbaren Umständen verlassen. Er ist sehr schlecht auf Mr. Merrivan zu sprechen.«

 

Sie war erstaunt, denn sie hatte Sweeny nicht zugetraut, daß er ihr so taktvoll aus dem Wege gehen würde, um sie nicht in Verlegenheit zu bringen und sie an ihre letzte Begegnung zu erinnern.

 

Gleich darauf trafen sie Mr. Merrivan, von dem sie eine Erklärung über Mr. Sweenys Besuch erhielten. Er trat zu ihnen, als sie gerade an der Gartentür des Nelsonschen Hauses standen.

 

»Guten Morgen, Miss Nelson!« sagte er freundlich. »Haben Sie auch diesen niederträchtigen Sweeny getroffen? Dieser gemeine Kerl! Ich hätte nicht gedacht, daß er die Frechheit besitzt, sich in Beverley Green zu zeigen. Ich faßte den Menschen doch ab, als er bei meinem Haus herumspionierte – vielmehr mein Gärtner hat ihn gesehen. Wenn ich nun wie gewöhnlich zur Kirche gegangen wäre, hätte ich wahrscheinlich überhaupt nicht erfahren, daß er hier war. Diese Dienstboten stecken doch alle unter einer Decke.«

 

Andy wunderte sich, daß es ein so großes Verbrechen war, Mr. Merrivans Grundstück zu betrachten. Aber der redselige Mann erzählte ihm, daß Sweeny ein Loch in die Hecke gemacht habe, um hindurchzuspähen, und daß sein wachsamer Gärtner ihn gerade in diesem Augenblick entdeckt hatte.

 

An diesem Tage ereignete sich nichts Besonderes. Das Schicksal, das drohend über Beverley Green hing und es weithin bekannt machen sollte, brach erst in der Nacht herein.

 

Stella saß in der Halle und las. Sie war gerade bei ihrem Vater oben gewesen, um ihn für die Nacht zu versorgen, denn Mr. Nelson hatte den Rat der Ärzte gewissenhaft befolgt und sein Zimmer nicht verlassen, seitdem Andy ihn gewarnt hatte.

 

Sie blätterte gerade eine Seite um, als sie ein leises Klopfen am Fenster hörte. Einen Augenblick lauschte sie, da sie glaubte, sich getäuscht zu haben. Vielleicht tropfte der Wasserhahn in der Küche. Aber dann vernahm sie wieder deutlich dasselbe Geräusch, legte das Buch nieder und stand auf. Sie war keineswegs ängstlich, denn Artur Wilmot hatte sich früher häufig auf diese Weise bemerkbar gemacht.

 

Sie zog den Vorhang beiseite und schaute in den Garten hinaus, konnte aber nichts sehen. Düstere Wolken waren schon am Nachmittag von Südwesten heraufgezogen, und der Mond war nicht zu sehen. Sie ging zur Haustür und wollte eben öffnen, als sie einen Brief auf dem Boden liegen sah. Er mußte unter der Tür durchgeschoben worden sein. Es stand keine Adresse auf dem Umschlag, und nachdem sie einen Augenblick gezögert hatte, riß sie ihn auf. Es war ein vier Seiten langes Schreiben. Zuerst dachte sie, der Brief käme von Artur. Sie hatte in den letzten Tagen noch verschiedene Briefe von ihm erhalten, aber sie hatte sie ungelesen vernichtet.

 

Sie las die Unterschrift, hielt einen Augenblick bestürzt inne, begann dann aber doch zu lesen. Je weiter sie kam, desto größerer Schreck ergriff sie. Sie ging in die Küche und trank ein Glas Wasser. Sie las weiter. Jeder Satz traf sie wie ein Dolchstoß. Voller Zorn warf sie das Schreiben ins Feuer. Dann öffnete sie die Schublade eines Schrankes und nahm einen kleinen Revolver heraus, der ihrem Vater gehörte. Vor langer Zeit hatte sie die Waffe einmal weggeschlossen, als sie sich noch von den Drohungen einschüchtern ließ, die er in seiner Trunkenheit ausstieß. Sie zog auch eine kleine grüne Pappschachtel hervor, die mit Patronen gefüllt war. Mit einem Staubtuch reinigte sie den Revolver, öffnete ihn und lud ihn mit drei Patronen. Dann ging sie in ihr Zimmer, zog einen dunklen, weiten Mantel an und steckte die Waffe in die Tasche.

 

Als sie wieder unten in der Halle stand, tat es ihr leid, daß sie den Brief in ihrer Erregung verbrannt hatte. Jetzt war sie wieder vollkommen kühl und ruhig. Sie warf noch ihren Schal um und überzeugte sich, daß sie den Hausschlüssel in der Tasche hatte, bevor sie die Tür zuschlug.

 

An der Gartenpforte blieb sie stehen und schaute zum Gästehaus hinüber. Einen kurzen Augenblick war sie versucht, Andy all ihre Sorgen und ihren Kummer anzuvertrauen – aber sie überwand sich. Wie absurd wäre es gewesen, einem Polizeibeamten zu beichten!

 

Sie ging hinaus ins Dunkel. Es kam ihr zum Bewußtsein, daß ihr nun auch der letzte Hoffnungsschimmer genommen war.

 

Andy Macleod hatte seine Pläne an diesem Tag schon zum drittenmal geändert. Morgen würde er endlich abreisen. Er war eben doch ein sentimentaler Mensch. Dieses Eingeständnis war wirklich beschämend für einen vernünftigen Mann von fünfunddreißig Jahren.

 

Er ging zu Nelsons Haus hinüber. Doch als er sah, daß kein Fenster erleuchtet war, kehrte er wieder in sein Zimmer zurück und versuchte zu lesen. Aber bald legte er das Buch weg und ging zu Bett. Er war schon nach wenigen Minuten fest eingeschlafen.

 

Ein heftiges Klopfen an der Tür weckte ihn plötzlich auf.

 

»Wer ist dort?«

 

»Johnston, der Hausmeister – kann ich Sie einen Augenblick in einer sehr dringenden Sache sprechen?«

 

Andy Macleod machte Licht. Er sah nach der Uhr – es war drei Viertel zwei. Was mochte vorgefallen sein? Er vermutete, daß eine telefonische Nachricht von Scotland Yard für ihn gekommen sei. Wahrscheinlich brauchte man ihn wegen Scotties Verhaftung, und er verwünschte den armen Menschen.

 

Als er aber das Gesicht des Hausmeisters sah, wußte er, daß etwas anderes geschehen sein mußte. Johnstons Gesicht war aschfahl, und seine Lippen zitterten.

 

»Sir«, sagte er atemlos, »es ist etwas Fürchterliches passiert. Mr. Pearson bat mich, Sie zu rufen, bevor ich zur Polizei ginge.«

 

»Was gibt es denn?« fragte Andy schnell.

 

»Mr. Merrivan – Mr. Merrivan«, wimmerte der Mann.

 

»Erzählen Sie doch!«

 

»Tot – ermordet. – ach, es ist zu schrecklich!«

 

»Merrivan – ermordet? Warten Sie einen Augenblick, in ein paar Minuten komme ich hinunter. Machen Sie mir eine Tasse Tee, wenn es möglich ist.«

 

Er zog sich mit größter Eile an und stürzte den heißen Tee hinunter, den ihm der Hausmeister an der Treppe reichte. Jemand anders mußte bereits die örtliche Polizei benachrichtigt haben, denn ein Polizeisergeant öffnete Andy die Tür, nachdem er angeklopft hatte.

 

»Ich bin froh, daß Sie gekommen sind, Sir. – Das ist eine böse Geschichte. Ich habe alle Polizeistationen alarmiert.«

 

»Ist er tot?«

 

»Ja. Es ist sicher schon eine Stunde her, daß er gestorben ist. Ich habe um Doktor Granitt geschickt.«

 

Andy nickte.

 

»Wo liegt er?«

 

»Dort.« Der Sergeant zeigte auf das Arbeitszimmer.

 

Andy öffnete die Tür und betrat den langgestreckten Raum. Alle Lichter waren eingeschaltet. Unwillkürlich wandte er sich nach rechts, wo Mr. Merrivans Schreibtisch stand. Aber dort lag der Tote nicht, sondern am anderen Ende des Zimmers mit den Füßen zum Fenster. Die Arme lagen nach oben, als ob er einen Angreifer abwehren wollte, und die Gesichtszüge waren entsetzlich verzerrt.

 

Er mußte aus nächster Nähe erschossen worden sein, denn Andy sah Pulverspuren auf seiner weißen Weste.

 

Es war nicht nötig, ihn noch genauer zu untersuchen. Ein Blick auf die leblose Gestalt sagte alles.