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Diesmal wollte Andy nicht wieder bis zum Morgen auf eine Erklärung warten, die wahrscheinlich sehr einfach sein würde. Er ging auf das Haus zu. In der Eingangshalle wurde gerade Licht gemacht. Er klopfte leise an die Haustür, und Stella antwortete sofort: »Wer ist dort?« Ihre Stimme klang ängstlich.

 

»Ich bin es – Andy.«

 

»Ach, du!« Er hörte, wie sie die Sicherheitskette löste und den Riegel zurückschob. »Ach, Andy!« rief sie, als er ihr entgegentrat, und fiel ihm schluchzend in die Arme. »Ich fürchte mich so, ich bin außer mir vor Angst!«

 

»Heute nacht scheinen sich alle Leute zu fürchten und den Verstand zu verlieren.« Andy strich über ihr braunes Haar. »Was hast du denn gesehen?«

 

»Hast du denn nichts gesehen?« fragte sie und schaute ihn an.

 

Von oben hörte man die Stimme Mr. Nelsons.

 

»Es ist Andy, Vater. Willst du nicht herunterkommen?«

 

»Ist etwas nicht in Ordnung?« Nelson knöpfte seinen Schlafrock zu, als er die Treppe herabkam.

 

»Das eben will ich gerade ausfindig machen«, erwiderte Andy. »Halb Beverley Green scheint diese Nacht in Aufruhr zu sein.«

 

Mr. Nelsons Schlafrock hatte eine dunkelrote Farbe. Der Maler schien eben aufgewacht zu sein.

 

»Haben Sie vorhin geklopft? Ich könnte schwören, daß jemand geklopft hat.«

 

»Nein, Vater, das war nicht Andy«, sagte Stella zitternd.

 

»Hat denn jemand geklopft?« fragte Andy. Sie nickte.

 

»Ich habe einen sehr leichten Schlaf und habe das Klopfen sofort gehört. Ich dachte, du seiest es und öffnete das Fenster, um hinunterzusehen. Und ich sah auch jemand unten auf dem Weg stehen, er war deutlich zu sehen.«

 

»Wie war er denn gekleidet? Trug er einen Schlafrock?«

 

»Hast du ihn gesehen? Wer war es, Andy?«

 

»Erzähl doch weiter, Liebling – was geschah dann?«

 

»Ich rief hinunter: ›Wer ist dort?‹ Er antwortete zuerst nicht, aber dann fragte er mit einer tiefen Stimme: ›Haben Sie Ihren Schal bekommen?‹ Ich wußte nicht gleich, was er meinte, aber plötzlich erinnerte ich mich an den Schal, der im Obstgarten gefunden wurde. ›Ja‹, sagte ich, ›wer sind Sie denn?‹ Aber er sagte nichts mehr, und ich sah, wie er fortging. Ich saß lange im Dunkeln und überlegte, wer es gewesen sein konnte. Es war nicht deine Stimme, es war auch nicht die Stimme eines anderen Bekannten, wenn nicht – aber das ist unmöglich!«

 

»Glaubst du, es war Merrivans Stimme?« fragte Andy ruhig.

 

»Natürlich nicht, aber sie war genauso tief wie die seine, und je länger ich darüber nachdachte, desto ängstlicher wurde ich. Ja, ich dachte, es wäre Mr. Merrivans Stimme gewesen, aber ich konnte es nicht glauben. Dann drehte ich das Licht in meinem Zimmer an und ging hinunter. Ich wollte mir ein Glas Milch holen und meinen Vater wecken. Und dann kamst du, Andy.«

 

»Das ist sehr merkwürdig.« Andy erzählte ihnen, was er gesehen und gehört hatte. »Johnston ist vollkommen fertig, Sie müssen dafür sorgen, daß er Urlaub bekommt, Mr. Nelson.«

 

»Aber wer könnte denn das gewesen sein? Glauben Sie, daß uns jemand einen Schrecken einjagen wollte?«

 

»Das wäre ihm ja vollkommen gelungen«, meinte Andy.

 

»Ich nehme an«, sagte Nelson, der nie um eine Theorie verlegen war, »daß Sie beide durch den Zusammenbruch dieser geschmacklosen Frau nervös geworden sind. Ich sah sofort, wie aufgeregt Sie waren, als ich zurückkam.«

 

»Aber Johnston war doch gar nicht da, der kann doch davon nicht nervös geworden sein! Außerdem glaube ich, daß meine Nerven in bester Ordnung sind.« Er nahm den Schlüssel aus der Tasche. »Gehen Sie doch hin und sehen Sie sich Merrivans Haus einmal an«, schlug er lächelnd vor.

 

»Und wenn Sie mir tausend Pfund gäben, täte ich es nicht. Geh zu Bett, Stella, sonst bist du morgen krank.«

 

»Es ist schon Morgen geworden«, sagte sie und zog die Vorhänge beiseite. »Ich wüßte gern, ob Artur Wilmot auch wach ist.«

 

Andy war derselbe Gedanke gekommen. Nachdem Stella ihm das feierliche Versprechen gegeben hatte, sich sofort hinzulegen, verabschiedete er sich und machte sich auf den Weg zu Wilmots Häuschen.

 

Es dauerte nicht lange, bis er ihn geweckt hatte. Artur Wilmot hörte sich die Neuigkeiten mit merkwürdiger Ruhe an.

 

»Es ist sonderbar«, sagte er. »Ich war gestern noch in dem Haus. Ich bin es auch gewesen, der das hintere Fenster verriegelt hat. Es war nach dem Mord nicht wieder geschlossen worden.«

 

»Haben Sie denn nichts gesehen?« fragte Andy.

 

»Nichts. Wenn Sie eine Minute warten, bis ich mich angezogen habe, können wir zusammen hinübergehen. Es wird bis dahin hell genug sein, um Fußspuren im Garten erkennen zu können.«

 

»Damit brauchen Sie gar nicht zu rechnen. Ein mit Asche bestreuter Weg und ein asphaltierter Hof sind nicht das beste Material, um Fußabdrücke zu bewahren.«

 

Trotzdem begleitete er Artur; sie durchsuchten alle Räume und begannen beim Eingangsflur.

 

»Hier ist etwas.«

 

Wilmot zeigte auf den Boden.

 

»Tropfen von einer Kerze!« rief Andy interessiert. »War jemand mit Kerzen hier?«

 

Wilmot schüttelte den Kopf.

 

Sie fanden noch weitere Kerzenspuren in Merrivans Arbeitszimmer und entdeckten im Kamin auch einen Kerzenstumpf.

 

»Es war nicht einmal dieser Beweis nötig, um zu erkennen, daß ein Mensch von Fleisch und Blut und kein Gespenst hier sein Wesen getrieben hat«, sagte Andy. »Ohne eine Autorität auf dem Gebiet zu sein, weiß ich doch, daß sie keine Kerzen brauchen.«

 

Er wickelte den Stumpf sorgfältig in ein Stück Papier.

 

»Was wollen Sie damit anfangen?« fragte Wilmot erstaunt.

 

Andy lächelte.

 

»Für einen Mann, der mir noch eben vorschlug, mich nach Fußspuren auf dem Asphalt umzusehen, sind Sie eigentlich sehr schwerfällig, Wilmot. Dieser Kerzenstumpf ist doch mit Fingerabdrücken bedeckt. Der Mörder, ob er nun bei klarem Verstand oder wahnsinnig war, fühlte sich zu dem Ort der Tat hingezogen, wahrscheinlich war er schon häufig hier.«

 

*

 

Andy sagte Wilmot und Nelson nichts von seinen Plänen. Zuerst mußte er Mrs. Crafton-Bonsor aufsuchen. Aber sie ließ sich nicht sprechen, und als Andy die Dringlichkeit seines Besuches betonte, weigerte sie sich noch hartnäckiger, ihn zu empfangen. Scottie war ihr Bote.

 

»Das sind so Weiberlaunen«, sagte er halblaut. »Es hat keinen Zweck, Macleod, sie ist in dieser Beziehung unnachgiebig und hart wie ein neolithisches Fossil. Ich habe mein Bestes getan, aber sie will Sie nicht sehen.«

 

»Scottie, ich habe Sie immer gut behandelt, Sie müssen mir jetzt helfen. In welchen Beziehungen stand Albert Selim zu ihr?«

 

Scottie zuckte die Schultern.

 

»Man soll die Vergangenheit einer Frau nie erforschen wollen, Macleod. ›Vergangenheit ist tot, damit die Zukunft glücklich sei.‹«

 

»Die Zukunft interessiert mich nicht, aber über Mr. Crafton-Bonsors Vergangenheit möchte ich etwas erfahren«, sagte Andy unwillig. »Ich werde sie sprechen – oder ich mache Schwierigkeiten!«

 

Scottie verschwand und blieb fast eine halbe Stunde weg.

 

»Sie ist zweifellos krank, Macleod, als Arzt werden Sie das sofort sehen. Trotzdem will sie Ihnen zwei Minuten schenken. Aber bleiben Sie bitte nicht zu lange.«

 

Mrs. Bonsor lag auf einer Couch. Scottie hatte nicht übertrieben. Die Erwähnung des Mordes hatte eine schlechte Wirkung auf die Frau gehabt. Ihre vollen Wangen schienen eingesunken zu sein, die Anmaßung, die sonst in ihren blauen Augen lag, war verschwunden.

 

»Ich habe Ihnen nichts zu erzählen, Sir«, sagte sie bei Andys Eintritt scharf.

 

»Hat Scottie Ihnen nicht mitgeteilt …«, begann er.

 

»Nein«, rief sie mit schriller Stimme, »und ich sehe nicht ein, mit welchem Recht Sie hier eindringen, um mich auszuhorchen!«

 

»Waren Sie mit Albert Selim bekannt?«

 

Sie zögerte.

 

»Ja, ich kannte ihn«, erwiderte sie dann widerstrebend. »Vor vielen Jahren. Ich werde aber mit Ihnen nicht darüber sprechen. Meine Privatangelegenheiten gehen niemand etwas an. Es ist mir ganz gleich, ob Sie Polizeibeamter sind oder nicht. Ich habe nichts zu verbergen, glauben Sie mir das.«

 

Andy wartete, bis sie geendet hatte.

 

»Sie hießen früher Hilda Masters und heirateten einen John Severn in der Sankt-Pauls-Kirche in Kensington«, sagte er dann.

 

Sie starrte ihn hilflos an und begann gleich darauf zu schreien.

 

Scottie bewahrte bei diesem Zusammenbruch der verzweifelten Frau die Ruhe. Er war zugleich behutsam und bestimmt, beruhigend und ironisch. Andy ließ die beiden taktvoll eine halbe Stunde allein, dann kam Scottie zu ihm heraus.

 

»Macleod, sie wird Ihnen die Wahrheit sagen. Und da Stenographie von jeher meine Lieblingsbeschäftigung war, werde ich alles mitschreiben. Ich schrieb hundertachtzig, als ich jung war, und es gab nur wenige Stenotypisten, die mich an Schnelligkeit im Maschinenschreiben übertrafen. Mirabel spricht kein erstklassiges Englisch, und es ist besser, ich bringe alles gleich in Polizeisprache. – Sie ist sommersprossig und hat Plomben im Mund, und sie mißfiel mir, als ich sie das erstemal sah. Aber ich habe die Frau jetzt gern. Sie ist nicht mehr allzu jung, aber man nimmt es nicht mehr so genau, wenn man selbst älter wird. Sie fragen sie am besten, und ich schreibe das Wichtigste aus ihren Antworten auf.«

 

Andy war einverstanden, und aus dieser sonderbaren Zusammenarbeit ergab sich eine noch sonderbarere Geschichte.