5

 

Es war ein herrlicher Frühlingsmorgen.

 

Mr. Goodman war nicht zur Stadt gefahren, obwohl er es eigentlich vorhatte. Gewöhnlich fuhr er zwei- oder dreimal im Monat nach London in sein Büro. Miss Veronika Elvery wälzte ein dickes, Lexikon, denn sie war gerade dabei, ein Gedicht zu verfertigen, wozu ihr die nötigen Reime fehlten.

 

Mr. Goodman war im Sofa über seiner Zeitung eingenickt. Kaum ein Geräusch unterbrach die Stille; nur Veronikas Feder kratzte auf dem Papier, und die alte Großvateruhr tickte monoton.

 

Ein großer gewölbter Raum bildete die Eingangshalle des Herrenhauses. Früher einmal diente er als Vorraum zum Refektorium. Die Inschriften, die die Mönche in die Steinwände eingehauen hatten, waren noch hinter der Täfelung verborgen.

 

Durch das offene Fenster konnte man auf den herrlichen Park mit seinen Büschen und Baumgruppen hinaussehen, in dem die Ruine der alten Abtei lag, zu der so viele Neugierige gepilgert waren.

 

Mr. Goodman hörte nicht auf das Gezwitscher der Vögel, wohl aber Miss Veronika. Sie war in gehobener Stimmung, wie es eine Dichterin ja sein soll. Plötzlich wandte sie sich um.

 

»Mr. Goodman!« sagte sie sanft.

 

Als er nicht antwortete, rief sie ein zweites Mal, etwas lauter.

 

»ja, was gibt’s?« fragte er und richtete sich auf.

 

»Welches Wort reimt sich auf hochmütig?«

 

Mr. Goodman überlegte, dann fuhr er nachdenklich mit der Hand über die Stirn.

 

»Kaltblütig.«

 

Miss Elvery schüttelte verzweifelt den Kopf. »Nein, das hilft mir nicht, das ist ein häßliches Wort.«

 

»Aber was machen Sie denn da?«

 

Sie gestand ihm, daß sie dichtete.

 

»Um Himmels willen! Das ist ja das größte Verbrechen, wenn man an einem so herrlichen Frühlingsmorgen auch noch Gedichte schreiben will. Das ist so entsetzlich, als wenn man vor dem Mittagessen anfängt, Whisky zu trinken. Wen dichten Sie denn eigentlich an?«

 

Sie lächelte ihm bedeutungsvoll zu.

 

»Sie werden mir böse sein, wenn ich es Ihnen sage.«

 

Er nahm den halb vollgeschriebenen Bogen.

 

»Ach, es ist jemand, den Sie auch kennen!«

 

Mr. Goodman runzelte die Stirn.

 

»Sie fragten doch eben, was sich auf hochmütig reimt. Wer in aller Welt ist denn hochmütig?«

 

Veronika warf den Kopf zurück, wie immer, wenn sie sich angegriffen fühlte.

 

»Sind Sie nicht auch davon überzeugt, daß sie hochmütig ist? Bedenken Sie doch, ihr Vater führt hier eine Pension. Da hat sie keinen Grund, so zu tun, als ob sie eine Gräfin sei.«

 

»Ach, Sie meinen Miss Redmayne?« fragte er ruhig und legte den Bogen wieder auf den Tisch. »Sie ist wirklich ein sehr nettes Mädchen. Sie sagen, hier sei eine Pension? Nun gut, ich bin der erste Pensionär, den ihr Vater ins Haus genommen hat, aber ich habe dieses Herrenhaus nie als eine gewöhnliche Pension betrachtet.«

 

Es folgte eine kurze Pause.

 

»Mr. Goodman, sind Sie böse, wenn ich Ihnen etwas sage?«

 

»Nun, bis jetzt habe ich noch nichts dagegen«, entgegnete er lächelnd.

 

»Ich glaube, ich habe eine romantische Veranlagung. Ich sehe irgendein Geheimnis in allen möglichen Dingen. Auch Sie kommen mir geheimnisvoll vor.« Als er sie bestürzt ansah, fügte sie hinzu: »Ich meine damit nicht, daß Sie düster und schrecklich aussehen.«

 

Er schien etwas erleichtert.

 

»Aber Colonel Redmayne ist wirklich ein düsterer, verschlossener Charakter«, erklärte sie mit Nachdruck.

 

»Mir ist er niemals so vorgekommen«, entgegnete Mr. Goodman langsam.

 

»Aber ich habe doch recht«, beharrte sie. »Warum hat er denn dieses Haus gekauft, das so weit von allen anderen menschlichen Behausungen entfernt liegt? Und warum hat er hier eine Pension aufgemacht?«

 

»Wahrscheinlich, um Geld zu verdienen.«

 

Sie sah ihn triumphierend an und schüttelte den Kopf.

 

»Nein, er verdient gar nichts. Meine Mutter sagte noch heute morgen, daß er hier eine Menge Geld zusetzen muß. Monkshall ist ein sehr schön gelegener Herrensitz, aber man erzählt sich so seine Geschichten. Sie wissen doch, daß hier Geister umgehen?«

 

Mr. Goodman lächelte gutmütig. Die Geschichte war ihm schon früher erzählt worden.

 

»Ich habe hier Dinge gehört und auch Dinge gesehen –« Miss Veronika senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Meine Mutter sagt immer, daß hier früher einmal ein fürchterliches Verbrechen geschehen sein muß, und das ist auch meine Ansicht.«

 

Mr. Goodman äußerte, daß ihre Mutter vielleicht zuviel Mord- und Kriminalgeschichten läse. Das stimmte auch, denn Mrs. Elvery las alle Zeitungsberichte über Verbrechen und Verbrecher.

 

»Ja, sie liest gern einen guten Kriminalroman«, pflichtete Veronika bei. »Voriges Jahr mußten wir unsere Reise nach der Schweiz aufgeben, weil damals gerade der sensationelle Mordfall an dem Radfahrer verhandelt wurde. – Glauben Sie, daß Colonel Redmayne einen Mord begangen haben könnte?«

 

»Es ist nicht recht, daß Sie so etwas sagen«, erwiderte Mr. Goodman.

 

»Warum ist er dann so nervös? Und warum fürchtet er sich? Ständig lehnt er neue Gäste ab. Gestern kam so ein netter junger Herr, aber den wollte er nicht haben.«

 

»Nun, morgen kommt ein neuer Gast«, erklärte Goodman, der seine Zeitung wieder aufnahm.

 

»Das ist doch nur ein Pfarrer«, entgegnete Veronika verächtlich. »Jedermann weiß, daß Pfarrer kein Geld haben.«

 

Goodman lachte.

 

»Der Colonel könnte schon Geld verdienen, aber er will es ja nicht.« In vertraulichem Ton fügte sie hinzu:. »Ich will Ihnen auch noch mehr verraten. Meine Mutter kannte Colonel Redmayne, bevor er Monkshall kaufte. Er hatte damals keinen Pfennig Geld. Wie kam er denn dazu, dieses Haus zu kaufen?«

 

Mr. Goodman sah sie strahlend an.

 

»Zufällig weiß ich das ganz genau. Er hat damals eine große Erbschaft gemacht.«

 

Veronika war enttäuscht und gab sich auch keine Mühe, ihre Gefühle zu verbergen. Sie kam nicht dazu, etwas zu entgegnen, denn ihre Mutter trat gerade ins Zimmer.

 

Mrs. Elvery war eine etwas füllige, aber imposante Erscheinung. Sie ging direkt zu dem Sofa, auf dem Mr. Goodman seine Zeitung las.

 

»Haben Sie vorige Nacht etwas gehört?« fragte sie mit erhobener Stimme.

 

Er nickte.

 

»Im Zimmer nebenan hat jemand geschnarcht wie der Teufel«, begann er.

 

»Mr. Goodman, Sie wissen, daß ich das Zimmer neben Ihnen habe«, erwiderte sie eisig. »Haben Sie einen Schrei gehört?«

 

»Einen Schrei?« fragte er entsetzt.

 

»Und ich habe auch das Orgelspiel vorige Nacht wieder gehört.«

 

Goodman seufzte.

 

»Glücklicherweise bin ich ein wenig taub. Ich habe vorige Nacht weder Orgelspiel noch Schreie gehört. Das einzige, was ich deutlich und auch gern höre, ist der Gong, der zum Essen ruft.«

 

»Es gibt hier ein Geheimnis«, behauptete Mrs. Elvery. »Das habe ich gleich am ersten Tag gemerkt, als ich herkam. Zuerst wollte ich nur eine Woche bleiben, aber jetzt bleibe ich, bis dieses Geheimnis enthüllt ist.«

 

Mr. Goodman lächelte gutmütig.

 

»Dann wollen Sie also für immer hierbleiben, Mrs. Elvery?«

 

»Diese Stimmung hier, diese düstere Atmosphäre erinnert mich an die Abtei Pangleton, wo John Roehampton seinen drei Nichten die Kehlen durchschnitt«, erklärte sie mit großer Genugtuung. »Und dabei waren die Nichten erst neunzehn, zweiundzwanzig und vierundzwanzig Jahre alt. Später wurde er im Gefängnis von Exeter hingerichtet. Er mußte zum Schafott getragen werden, und vor seinem Tod hat er ein volles Geständnis abgelegt.«

 

In diesem Augenblick trat Colonel Redmayne ins Zimmer. Er war etwa fünfundfünfzig Jahre alt und wirkte ziemlich nervös und zerstreut. Seine Kleidung ließ zu wünschen übrig und machte einen etwas vernachlässigten Eindruck.

 

Redmayne sah von einem zum anderen.

 

»Guten Morgen – ist etwas nicht in Ordnung?«

 

»Ach, es geht mir verhältnismäßig gut«, erwiderte Goodman lächelnd und hoffte, daß sich Mrs. Elvery über ein anderes Thema unterhalten würde, aber sie ließ sich nicht so leicht davon abbringen.

 

»Colonel, haben Sie in der vergangenen Nacht etwas gehört?«

 

»Was soll ich gehört haben? Was gibt es denn hier nachts zu hören?«

 

Sie zählte geschäftig die grausigen Ereignisse der vergangenen Nacht auf.

 

»Zunächst hat die Orgel wieder gespielt, dann hörten wir einen Schrei, der uns durch Mark und Bein ging. Er kam aus der Tiefe direkt aus der Gegend des Mönchsgrabes.«

 

Sie wartete erregt, aber Redmayne schüttelte den Kopf.

 

»Nein, ich habe nichts gehört. Ich habe geschlafen«, sagte er mit leiser Stimme.

 

Veronika mischte sich in die Unterhaltung.

 

»Das kann aber nicht stimmen. Ich sah, daß Licht in Ihrem Zimmer brannte, lange nachdem meine Mutter und ich diesen entsetzlichen Schrei hörten. Ich kann nämlich von meinem Fenster Ihr Zimmer sehen.«

 

Er sah sie düster an. »So, können Sie das? Ich bin gestern abend eingeschlafen, während das Licht noch brannte. Hat jemand von Ihnen meine Tochter gesehen?«

 

Goodman zeigte in den Park hinaus.

 

»Ich sah sie vor einer halben Stunde.«

 

Colonel Redmayne verließ, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, das Zimmer und ging durch den Park.

 

»Und ich bleibe dabei, daß es hier ein großes Geheimnis gibt«, behauptete Mrs. Elvery und holte tief Luft. »Der Mann ist wahnsinnig. Mr. Goodman, kennen Sie den netten jungen Mann, der gestern morgen hierherkam? Er wollte ein Zimmer haben, und als ich den Colonel fragte, warum er. dem jungen Mann seine Bitte abgeschlagen habe, wurde er ganz wütend und böse auf mich! Dann sagte er, das sei kein Mann, wie er ihn als Gast in seinem Hause wünsche. Der junge Mann habe sich erdreistet, die Bekanntschaft seiner Tochter zu machen, und Trunkenbolde wolle er nicht unter seinem Dach haben.«

 

»Also, mit anderen Worten«, entgegnete Mr. Goodman trocken, »der Colonel hat sich über den jungen Mann geärgert. Aber Sie müssen ihn nicht zu ernst nehmen, er ist heute morgen ein wenig nervös.«

 

Goodman nahm eine andere Zeitung und blätterte sie durch.

 

»Dann die Überheblichkeit, mit der er jeden behandelt«, fuhr Mrs. Elvery fort. »Seine Tochter ist auch ziemlich eingebildet, das können Sie nicht bestreiten, Mr. Goodman. Es mag ja recht undankbar klingen, aber sie ist – wie soll ich doch gleich sagen –«

 

»Direkt anmaßend«, ergänzte Veronika.

 

»Ja, sie glaubt Wunders, wer sie ist«, stimmte ihre Mutter bei. »Und ihr Benehmen ist auch nicht sehr vornehm. Ich erzählte ihr neulich die Geschichte von der Ermordung der jungen Witwe in der Grange Road in London. Sie wissen doch noch: Der Liebhaber brachte die Frau durch Gift um, nur um die Versicherungssumme zu bekommen. Es war ein sensationeller Fall. Aber da hat sie mir einfach den Rücken gekehrt und gesagt, daß sie sich für solche Schauergeschichten nicht interessiere.«

 

Der Butler Cotton trat ins Zimmer und brachte die Post. Er war ein düster dreinblickender Mann, der nur selten sprach. Als er gerade wieder gehen wollte, rief Mrs. Elvery ihn zurück.

 

»Haben Sie in der vergangenen Nacht den Lärm gehört, Cotton?«

 

Er drehte sich mißvergnügt um.

 

»Nein, ich habe am Tag sehr viel zu tun, deshalb habe ich einen festen Schlaf. Nur ein Kanonenschuß könnte mich aufwecken.«

 

»Haben Sie das Orgelspiel auch nicht gehört?« fragte sie hartnäckig weiter.

 

»Nein, ich höre überhaupt nichts, wenn ich schlafe.«

 

»Der Mann scheint nicht sehr intelligent zu sein«, sägte Mrs. Elvery verzweifelt, als der Butler gegangen war.