15

 

Als Mary wieder zu sich kam, fühlte sie sich tief unglücklich. Sie lag auf harten, kalten Steinen, und als sie aufblickte, bemerkte sie eine blaßblaue Laterne, die von einer gewölbten Decke herabhing. Gleich darauf hörte sie Musik – tiefe Orgeltöne. Sie setzte sich auf und sah sich in dem Raum um. Sie befand sich in einer kleinen Kapelle. In einer dunklen Nische stand ein Altar, und im Hintergrund war eine kleine Orgel zu sehen, an der ein Mönch in einer schwarzen Kutte saß. Er hörte, daß sie sich bewegte, schaute sich um und kam dann leise auf sie zu. Vor Furcht und Entsetzen konnte sie sich kaum rühren.

 

»Fürchte dich nicht«, flüsterte er. »Du brauchst keine Angst zu haben.«

 

Die Stimme klang gedämpft hinter der Kapuze, die sein Gesicht verbarg.

 

»Wer sind Sie denn?« flüsterte sie.

 

»Dein Freund, der dich – liebt – der dich verehrt!«

 

Sie wußte nicht, ob sie wachte oder träumte. War dies ein entsetzliches Trugbild ihrer Phantasie? Aber in dem Augenblick berührte sie mit der Hand die große Steinplatte des Tisches, auf dem sie gelegen hatte, und nun wußte sie, daß dies alles kein Traum, sondern Wirklichkeit war.

 

Sie bemerkte, daß zwei Eingänge zu diesem gewölbten, unterirdischen Raum führten. Zu beiden Seiten des Altars führten Wendeltreppen nach oben.

 

»Wer sind Sie?« wiederholte sie.

 

Er zog langsam die Kapuze zurück.

 

Goodman stand vor ihr. Seine grauen Haare waren zerzaust, sein Gesicht schien nicht so heiter und ruhig wie sonst, sondern wirkte eher hart.

 

»Aber, Mr. Goodman!« sagte sie.

 

»Du sollst mich Leonard nennen«, erwiderte er leise und geheimnisvoll.

 

Dann legte er seine zitternden Hände auf ihre Schultern.

 

»Mary – ich habe gewartet – ach, ich habe so lange gewartet auf diesen großen Augenblick, denn ich verehre dich – ich bete dich an.«

 

Sie ließ sich von der großen Tischplatte herabgleiten und versuchte eine der Wendeltreppen zu erreichen.

 

»Aber Mary, du fürchtest dich doch nicht vor mir?«

 

Sie nahm allen Mut und alle Kraft zusammen und schüttelte den Kopf.

 

»Nein, Mr. Goodman. Warum sollte ich mich auch vor Ihnen fürchten? Im Gegenteil, ich freue mich, daß Sie noch leben. Ich fürchtete, daß Ihnen etwas zugestoßen sein könnte.«

 

»Mir, kann nichts passieren«, erklärte er und lächelte zuversichtlich. »Dem Mann, der dich liebt, kann niemand etwas anhaben. Gott selber hat ihn beschützt und für diesen Augenblick aufgespart.«

 

Ihr zitterten die Knie. Nur durch äußerste Willenskraft hielt sie sich aufrecht.

 

»Du fürchtest dich vor mir, aber das darfst du nicht. Ich kann dir alles geben – alle deine Wünsche erfüllen.«

 

Er packte sie plötzlich am Arm und zeigte auf die Wände und die tiefen Nischen der Kapelle.

 

»Hier habe ich Schätze aufgespeichert – da liegt Gold – viel Gold. Du glaubst nicht, wie herrlich die Barren im Lichtschein glänzen.« Er wies mit der Hand in die Runde. »Hinter den Wänden dieser Kapelle befinden sich viele Kammern, in denen einst die toten Mönche beigesetzt worden sind. Ich habe die Knochen entfernt und das Gold dort versteckt.«

 

»Was ist das hier für ein Raum, Mr. Goodman?« fragte Mary ängstlich. »Ich habe ihn früher nie gesehen.«

 

Ein Lächeln ging über seine Züge.

 

»Dies ist das Heiligtum, in dem meine Braut mir angetraut wird.« Er legte den Arm um sie, und sie zwang sich, ruhig zu bleiben und keinen Widerstand zu leisten. »Hier sind früher andere Menschen getraut worden. Riechst du nicht mehr den Weihrauch? Duftet es nicht nach Myrten? Hier werden wir heiraten.« Er nickte. »Was ist das ganze Leben? Geburt, Heirat und Tod. Auch hier sind Menschen gestorben, vor vielen hundert Jahren, und vielleicht sterben wir beide auch hier.«

 

Sein Lachen klang unheimlich und irr. Sie hatte es schon in früheren Nächten gehört. »Ich habe Leute hier begraben – hier hinter den Wänden dieser Kapelle – hier!« Er zeigte auf die verschiedenen Stellen. »Es waren Polizeibeamte, die nach mir suchten – sie kamen von Scotland Yard!«

 

Er kniete auf den Boden und klopfte auf eine große Steinplatte.

 

»Der eine von ihnen liegt hier unter dem Boden – ja, hörst du mich? Der kam hierher, um O’Shea zu fangen. Aber ich lebe, und er modert hier hinter dem Stein!«

 

»Ach, bitte, seien Sie still«, stieß sie keuchend hervor. »Sie sind schrecklich!«

 

Er lachte über ihre Worte.

 

»Ha, ha! Der schwarze Schrecken! – Ja, so haben sie mich ja wohl genannt. Merkwürdig, daß es der alte Goodman ist! Da saß ich oben in der Halle bei den anderen und hörte, wie diese verrückte, alte Frau von dem Mönch in der schwarzen Kutte sprach, und mußte im stillen lachen. Sie wußte ja gar nicht, daß ich direkt neben ihr saß.« Er streckte seine Hand nach Mary aus und faßte sie am Arm.

 

»Mr. Goodman!« Sie versuchte sich seinem Griff zu entziehen. »Sie werden mich jetzt gehen lassen. Mein Vater wird Ihnen alles geben, was Sie brauchen. Er tut alles für Sie, und Sie wissen, er ist ein Arzt.«

 

Aber sein fester Griff lockerte sich nicht.

 

»Ach, dein Vater?« fragte er lachend. »Der tut alles, was ich ihm sage, denn er fürchtet mich. Das hast du auch nicht geglaubt, daß der Angst vor mir hat, was? Aber es stimmt. Er glaubt, ich sei wahnsinnig, deshalb sorgt er sich um mich. Im Grunde genommen aber ist er verrückt. Sie sind überhaupt hier alle verrückt!«

 

Mit fast übermenschlicher Anstrengung gelang es ihr, sich aus seinem Griff zu befreien und zur Treppe zu fliehen. Aber bevor sie die Stufen hinauf eilen konnte, packte er sie wieder und riß sie zurück.

 

»Nein, du darfst noch nicht fort.«

 

»Lassen Sie mich jetzt in Ruhe«, sagte sie so ruhig wie möglich. »Ich verspreche Ihnen, daß ich nicht wieder fortlaufen werde. Sie können mir glauben.«

 

Er nickte und ließ sie los. Sie setzte sich auf eine Steinbank vor dem Altar.

 

»Und jetzt will ich dir etwas vorspielen. Die Orgel klingt wunderbar in diesen Gewölben.«

 

Während er spielte, sprach er zusammenhanglose Worte.

 

»Hast du diese alte Orgel schon gehört?« Er drehte sich um und sprach über die Schulter zu ihr. »Ich spiele für die Toten. Dann fangen sie an zu leben. Die alten Mönche gehen hier umher, sie kommen in langen Reihen, immer zu zweien und zweien. Junge Leute heiraten hier, und die alten Leute kommen, um hier zu sterben … Und manchmal sehe ich auch Menschen, die ich kenne, die aber längst tot sind …«

 

Plötzlich brach er das Spiel ab und zeigte ins Leere. »Sieh, dort steht Joe Connor!«

 

Sie konnte nichts erkennen. Goodman winkte dem unsichtbaren Schatten.

 

»Komm her, Connor, ich muß mit dir sprechen. Du armer Kerl hast lange im Gefängnis gesessen, nur weil der böse O’Shea dich verraten hat! Und nun kommst du und willst deinen Teil an der Beute haben? Gut, mein Junge, du sollst ihn bekommen!«

 

Er erhob sich und legte den Arm um eine unsichtbare Gestalt. Mary konnte nichts sehen, aber er, in seinem Wahnsinnsanfall, schien tatsächlich Connor zu sehen. Er tat so, als ob er einen Mann zu der Steinbank führte, von der Mary aufgesprungen war.

 

»Du sollst deinen Anteil haben; mein Junge. Alles Gold ist hier, Connor. Setz dich, ich will dir alles erklären. Ich hatte dieses alte Haus schon viele Monate vor unserem Anschlag auf den Goldtransport gekauft. Du verstehst doch, warum ich das getan, habe, Connor? Dann habe ich das Gold in dem Lastwagen hierhergebracht und es in dieser Kapelle versteckt. Viele Wochen und Monate habe ich gearbeitet und die Gräber der alten Mönche mit Gold gefüllt. Du siehst, wie klug das von mir war, Connor! Ah, nun lächelst du!«

 

Er erhob sich und trat hinter die Steinbank, auf der der vermeintliche Geist saß.

 

»Ich sage dir das alles, weil du jetzt tot bist und Tote ja nicht mehr vor Gericht aussagen können.

 

Und dann habe ich Redmayne zum Besitzer des Hauses gemacht. Der mußte es für mich verwalten. Zuerst wollte er nicht, aber es müßte, denn ich hatte ihn in meiner Gewalt. Mein Verstand war etwas in Unordnung geraten, und Redmayne kümmerte sich um mich. Dafür habe ich ihn bezahlt. Nach außen hin galt ich nichts – nach außen hin war er der Herr von Monkshall. Sieh, und so habe ich die Polizei hinters Licht geführt. Niemand ist es im Traum eingefallen, daß ich O’Shea war! – Und nun kommst du hierher und willst deinen Teil haben – du verdammter Hund! Ich werde dir das Genick umdrehen! Ich werde dich erwürgen, du Schuft, du!«

 

Er schrie wild auf und griff in die Luft, als ob er einem Mann die Kehle zudrücken wollte. Dann tat er so, als ob er ihn zu Boden würfe, und kniete auf den Steinen. Sein Gesicht war vor Wut verzerrt.

 

Plötzlich schien er sich daran zu erinnern, daß Mary in der Kapelle war, und er sah sich um.

 

»Aber du fürchtest dich vor mir«, sagte er ganz sanft, »ich hätte das nicht tun sollen.«

 

Er trat nahe an sie heran, und plötzlich riß er sie an sich. Sie schrie vor Entsetzen auf, aber er beruhigte sie.

 

»Ich will dich nicht erschrecken, du sollst dich nicht vor mir fürchten. Schrei doch nicht! Ich liebe dich viel zu sehr, als daß ich dich erschrecken möchte.«

 

Er wollte sie küssen, aber sie bog sich weit zurück.

 

»Nein, noch nicht – lassen Sie mir noch etwas Zeit…«

 

Er gab sie frei.

 

»Du wirst noch lernen, mich zu lieben. Hast du die kleinen Türen in den Wänden der Gänge gesehen? Die alten Mönche lebten dort, und dort ist auch dein Brautgemach.«

 

Sie versuchte verzweifelt, Zeit zu gewinnen. Solche Wahnsinnsanfälle mußten ja auch wieder vorübergehen.

 

»Sie haben eben gesagt, daß Sie mich lieben«, sagte sie leise.

 

»Ja, ich verehre dich, ich bete dich an«, erwiderte er und verneigte sich leicht vor ihr.

 

»Sie würden mich doch nicht zwingen, Sie zu lieben, wenn ich einen andern gern hätte? Das würden Sie doch nicht tun?«

 

Er wurde bleich.

 

»Liebst du denn einen anderen?«

 

»Ja – ich – ich liebe Mr. Fane.«

 

Es trat eine Pause ein. Keiner von beiden rührte sich oder sagte etwas. Dann griff er plötzlich nach ihrer Kehle. Sie glaubte schon, ihr Schicksal sei besiegelt, als sie jemand am Arm packte und zur Seite riß. O’Shea sah sich einem Mann gegenüber, der eine Pistole auf ihn gerichtet hatte.

 

»Ich verhafte Sie, O’Shea!«

 

Es war Ferdie Fane, der Mary gerettet hatte.

 

»Gehen Sie von dem Lichtschalter weg … Ich will hier nicht plötzlich im Dunkeln sein. Treten Sie noch weiter nach links! So, jetzt bleiben Sie stehen.«

 

»Wer sind Sie?« fragte O’Shea verhältnismäßig ruhig.

 

»Mein Name ist Bradley! Inspektor Bradley von Scotland Yard. Ich verhafte Sie, O’Shea! Seit drei Jahren warte ich auf diese Gelegenheit, und jetzt weiß ich alles, was ich wissen muß.«

 

O’Shea nickte.

 

»Dann wissen Sie auch, was ich mit Marks gemacht habe?«

 

»Ja, Sie haben ihn ermordet.«

 

»Er versuchte mich zu erwürgen. Ich glaube, er hatte mich erkannt. Seine Leiche …«

 

»Habe ich hinter der Mönchstür gefunden und dann in den Sessel gelegt, in dem ich vorher saß. Wären er und Connor meinem Rat gefolgt, so wären sie heute beide noch am Leben.«

 

O’Shea lächelte.

 

»Also, Sie sind Bradley? Derselbe, der Connor verhaftete? Und unseren Freund Marks auch? – Nun, ich verdiene, daß es mir so geht, weil ich Sie nicht zur rechten Zeit erkannt habe. – Miss Redmayne, ich möchte mich bei Ihnen entschuldigen. Es tut mir leid, daß ich manchmal nicht ganz bei Verstand bin, aber das geht immer wieder vorüber. Nun möchte ich auch diese Mönchskutte ablegen.«

 

Langsam zog er das schwarze Gewand aus.

 

»Nehmen Sie sich in acht«, sagte Mary leise zu Bradley. »Es ist möglich, daß er noch immer wahnsinnig ist.« Obgleich sie leise gesprochen hatte, verstand O’Shea ihre Worte.

 

»Ach, Miss Redmayne –«, sagte er lächelnd. »Sie können das nicht gut beurteilen. Nun, Mr. Bradley, in kurzer Zeit werden Sie ja diese liebenswürdige junge Dame heiraten, die eben eingestanden hat, daß sie Sie liebt. Ich möchte Ihnen auch ein kleines Hochzeitsgeschenk machen.«

 

Bradley wäre dem tödlichen Streich kaum entgangen, wenn O’Shea nicht auf dem glatten Stein ausgeglitten wäre. Er stürzte nieder und fiel gegen die Wandtäfelung. Durch den Anprall brach das Holz, und die dahinter aufgeschichteten Goldbarren fielen laut polternd auf den Steinboden.

 

O’Shea starrte auf das Gold, das er mit so großer Mühe und List hier versteckt hatte, dann begann er zu lachen.

 

»Ein Hochzeitsgeschenk!« wiederholte er und blickte irr um sich.

 

Er lachte auch noch, als Hallick und drei andere Beamte von Scotland Yard ihn in ihrem Wagen nach London brachten.