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Dower House lag abseits von der Hauptstraße. Die Besitzung bestand aus einer Menge unregelmäßiger kleiner Gebäude, die sich hinter verwilderten Hecken und schiefen Mauern erhoben. Früher hatte sich ein Pförtner um das Anwesen gekümmert, aber sein Häuschen lag verlassen da, die Fenster waren zerbrochen, und das Ziegeldach war schwer beschädigt. Die Tore standen schon seit Generationen offen und lehnten zertrümmert gegen die Mauer.

 

Wo früher saftige, gutgepflegte Rasenflächen prangten, zeigte sich nun ein wüstes Dickicht von Unkraut und Sträuchern. Wo einst die früheren, vornehmen Bewohner Kricket und Golf spielten, wuchsen jetzt Disteln und wilde Kamillen. Mike Brixan sah auf den ersten Blick, daß nur ein Teil des Hauses bewohnt war, denn nur in einem Flügel waren die Fensterscheiben unversehrt. Fast alle anderen waren zerbrochen oder mit Staub und Spinnweben bedeckt, so daß man hätte meinen können, sie seien mit Ölfarbe gestrichen.

 

Er war belustigt und erstaunt, als er zum erstenmal die sonderbare Erscheinung Mr. Sampson Longvales sah, der aus seinem Haus trat, um die Gesellschaft zu begrüßen. Sein kahler Kopf leuchtete in der Nachmittagssonne. In seinen rehfarbenen Hosen, seiner Samtweste und dem altväterlichen Spazierstock sah er genauso aus, wie Gregory ihn beschrieben hatte.

 

»Ich freue mich sehr, Sie bei mir zu sehen, Mr. Knebworth. Ich habe allerdings nur ein sehr bescheidenes Haus, aber ich entbiete Ihnen einen um so herzlicheren Willkommensgruß. In meinem kleinen Speisezimmer ist Tee serviert. Wollen Sie mir bitte die Mitglieder Ihrer Gesellschaft vorstellen?«

 

Diese Höflichkeit und Würde einer früheren Zeit entzückten Mike Brixan, und er fühlte sich zu dem alten Herrn hingezogen, der in diese moderne Zeit einen Schimmer liebenswerter Vergangenheit hineintrug.

 

»Ich möchte gern noch eine Szene aufnehmen, bevor das Licht zu schlecht wird, Mr. Longvale«, sagte der Direktor. »Wenn Sie nichts dagegen haben, daß der Tee schnell eingenommen wird, kann ich den Schauspielern noch eine Viertelstunde Zeit geben.« Er sah sich um. »Wo ist Foß?« fragte er. »Ich muß noch etwas an der einen Szene ändern.«

 

»Mr. Foß wollte zu Fuß von Griff Towers nachkommen«, sagte einer der Leute. »Er blieb noch zurück, um mit Sir Gregory zu sprechen.«

 

Jack Knebworth war wütend auf seinen saumseligen Dramaturgen.

 

»Hoffentlich ist er nicht dort geblieben, um sich wieder Geld zu borgen«, sagte er ungehalten zu Mike, »Der Mensch wird mir noch meinen ganzen Kredit verderben, wenn ich ihm nicht auf die Finger sehe.«

 

Anscheinend hatte er seine Abneigung gegen den neuen Statisten überwunden und fühlte, daß niemand sonst unter der ganzen Gesellschaft war; den er ins Vertrauen ziehen konnte, ohne die Disziplin zu untergraben.

 

»Neigt er denn zum Schuldenmachen?« fragte Brixan.

 

»Er hat niemals Geld und versucht sich immer etwas durch irgendwelche faulen Tricks zu verdienen. Dabei fällt er dann gewöhnlich herein und hat nachher weniger als zuvor. Wenn ein Mensch erst so anfängt, dann ist er nicht mehr weit vom Gefängnis entfernt. – Wollen Sie die Nacht auch hier bleiben? Ich glaube nicht, daß Sie hier schlafen können. Sie werden wahrscheinlich nach London zurückkehren?«

 

»Heute abend nicht«, sagte Mike ruhig. »Machen Sie sich aber meinetwegen keine Sorge. Ich möchte Ihnen ganz und gar keine Umstände machen.«

 

»Kommen Sie, ich will Sie dem alten Herrn vorstellen«, sagte Knebworth leise. »Er ist ein sonderbarer Kauz, aber gutherzig wie ein Kind.«

 

»Nach allem, was ich von ihm gesehen habe, gefällt er mir gut.«

 

Als alle Mr. Longvale vorgestellt waren, sagte der alte Herr: »Ich fürchte, daß im Speisezimmer nicht genügend Platz ist. Deshalb habe ich eine kleine Tafel in meinem Studierzimmer decken lassen. Vielleicht nehmen Sie und Ihre Freunde den Tee dort ein.«

 

»Oh, das ist sehr liebenswürdig von Ihnen, Mr. Longvale. Habe ich Ihnen schon Mr. Brixan vorgestellt?«

 

Der alte Mann nickte lächelnd.

 

»Ich werde seinen Namen sowieso kaum behalten. Das ist eine ganz merkwürdige Schwäche, die sich schon bei meinem Urgroßonkel Charles zeigte. Als er seine Memoiren schrieb, brachte er alles durcheinander. Daher kommt es auch, daß man viele Erlebnisse, die er erzählte, später für erfunden hielt.«

 

Er führte sie in einen schmalen Raum, der sich von der Vorder- bis zur Rückwand des Hauses ausdehnte. Dunkles Gebälk trug die Decke. »Die Holztäfelung, die im Laufe der Zeit spiegelblank geworden war, schaute mindestens auf ein Alter von fünfhundert Jahren zurück. Hier hängen keine gekreuzten Schwerter über dem Kamin, dachte Mike Brixan und mußte bei diesem Gedanken innerlich lächeln. Statt dessen sah er dort das Porträt eines schönen alten Herrn. Würde und Vornehmheit sprachen aus dem Gesicht und der anziehenden Erscheinung. Es lag etwas Grandioses in der Haltung dieses Mannes, das man am besten mit dem Wort »majestätisch« bezeichnen konnte.

 

Longvale machte keine Bemerkung über das Gemälde. Als der Tee in aller Eile beendet war, ging man hinaus. Mike Brixan setzte sich auf die Gartenmauer und beobachtete dort die letzte Szene, die bei Tageslicht aufgenommen wurde. Auch ihm fiel die schauspielerische Begabung Helens auf. Er wußte genug über Filmaufnahmen, um zu verstehen, welche Erleichterung es für den Direktor bedeutete, daß er eine so gute Schauspielerin hatte. Schnell und leicht führte sie alle die Bewegungen aus, die ihr der alte Mann suggerierte.

 

Sonst wäre es ihm vielleicht lächerlich vorgekommen, wenn Jack Knebworth die Rolle eines jungen Mädchens gespielt hätte. Aber jetzt sah er mit Interesse, wie er sein Kinn schüchtern in die Hand legte und mit zierlichen Schritten von einer Seite der Szene zu der anderen ging. Er wußte, daß der Amerikaner ein Künstler war, der in großen Umrissen die Gestalten herausarbeitete und die feinere künstlerische Durchbildung des Ausdrucks seinen Schauspielern überließ. Helen Leamington war nicht mehr sie selbst, sondern nur noch Roselle; die Erbin einer Besitzung, die ihr eine böse Kusine streitig machen wollte. Die Geschichte selbst erkannte er wieder. Sie baute sich aus bekannten Motiven auf.

 

»Das ist ja alles irgendwoher zusammengeschrieben«, sagte Jack Knebworth mit philosophischer Ruhe. »Es ist nur schade, daß ich mich vorher nicht genügend darum gekümmert habe. Die ganze Sache hat Foß zusammengestellt. Wenn ich mir noch soviel Mühe gäbe, könnte ich keine originelle Idee von ihm darin entdecken.«

 

Mr. Foß war, wenn auch spät, wieder auf der Bildfläche erschienen. Brixan fragte sich, was er wohl so vertraulich mit Sir Gregory besprochen haben mochte.

 

Er ging zum Wohnzimmer zurück und konnte dort vom Fenster aus beobachten, wie das Tageslicht immer mehr abnahm. Er mußte über die eigenartige Wirkung nachdenken, die Helen auf ihn ausübte.

 

Mike Brixan hatte im Lauf der Jahre viele schöne Frauen aus vielen Ländern und allen Gesellschaftskreisen kennengelernt. Er hatte gute und schlechte getroffen. Einige hatte er hinter Schloß und Riegel gebracht, und er hatte erlebt, daß eine von ihnen als Spionin an einem grauen Wintermorgen von französischen Soldaten in Vincennes erschossen wurde. Er hatte manche gern gehabt, eine beinahe geliebt, aber jetzt stellte er mit objektiver Selbstkritik fest, daß er ernstlich in Gefahr schwebte, sich in ein Mädchen zu verlieben, das er heute morgen zum erstenmal gesehen hatte.

 

»Das ist doch wirklich sonderbar!« sagte er laut.

 

»Was ist denn so sonderbar?« fragte Knebworth, der unbemerkt in das Zimmer gekommen war.

 

»Ich habe mir auch schon den Kopf darüber zerbrochen, worüber Sie sich so ernste Gedanken machen«, sagte Mr. Longvale lächelnd, der den jungen Mann die ganze Zeit über schweigend beobachtet hatte.

 

»Ich – hm – ich dachte über das Bild nach.« Mike Brixan drehte sich um und zeigte auf das Gemälde über dem Kamin. In mancher Beziehung sagte er auch die Wahrheit. »Mir kommt das Gesicht so bekannt vor«, sagte er. »Aber das ist ja nicht möglich, denn es ist doch offenbar ein altes Gemälde.«

 

Mr. Longvale steckte zwei Kerzen an und beleuchtete damit das Porträt. Mike schaute das Bild wieder an, und aufs neue machte die majestätische Haltung des Mannes tiefen Eindruck auf ihn.

 

»Es ist mein Urgroßonkel Charles Henry«, sagte Mr. Longvale stolz, »oder der ›große Herr‹, wie man ihn in unserer Familie mit Bewunderung nennt.«

 

Brixan hatte sich während der Erklärung des alten Herrn halb dem Fenster zugewandt … Plötzlich schien sich der Raum vor seinen Augen zu drehen. Jack Knebworth sah, wie er bleich wurde, und ergriff ihn am Arm.

 

»Was ist los?« fragte er.

 

»Nichts«, antwortete Mike unsicher.

 

Knebworth folgte seinem Blick und sah aus dem Fenster.

 

»Was war denn das?« rief er aus.

 

Mit Ausnahme des schwachen Lichtes, das die beiden Kerzen verbreiteten, und des Zwielichtes, das durch das Fenster vom Garten herkam, lag der Raum im Dunkeln.

 

»Haben Sie das gesehen?« fragte Knebworth, eilte zum Fenster und schaute hinaus.

 

»Was war es denn?« fragte Mr. Longvale, indem er zu ihnen trat.

 

»Ich könnte einen Eid darauf leisten, daß ich ein Gesicht im Fenster sah. Haben Sie es auch gesehen, Brixan?«

 

»Auch ich habe etwas bemerkt«, erwiderte Mike beunruhigt. »Haben Sie etwas dagegen, wenn ich einmal in den Garten gehe?«

 

»Ich glaube, es war der Kopf eines großen Affen«, sagte Knebworth.

 

Mike nickte. Er verließ den Raum und ging den langen, mit Fliesen bedeckten Gang zum Garten hin. Er nahm einen Browning aus seiner hinteren Tasche, entsicherte und steckte ihn dann in seinen Rock.

 

Er verschwand, und fünf Minuten später sah Knebworth vom Fenster aus, wie er den Gartenweg entlangging. Er lief zu ihm hinaus.

 

»Haben Sie irgend etwas gefunden?«

 

»Im Garten war nichts. Sie müssen sich geirrt haben.«

 

»Haben Sie es denn nicht auch gesehen?«

 

Mike zögerte.

 

»Ich glaube, etwas gesehen zu haben«, sagte er und gab sich den Anschein, als ob es ihm gleichgültig wäre. »Wann werden Sie die Nachtaufnahmen machen?«

 

»Sie haben bestimmt etwas gesehen, Brixan – war es ein Gesicht?«

 

Mike Brixan nickte.