4

 

In dem Atelier der Knebworth-Filmgesellschaft waren verschiedene Damen und Herren in Straßenkleidung versammelt. Sie warteten schon fast eine Stunde.

 

Jack Knebworth saß in seiner gewöhnlichen Stellung zusammengekauert in einem Segeltuchstuhl. Er strich nervös über sein glattrasiertes Kinn und schaute von Zeit zu Zeit auf die große Uhr, die über der Tür zum Direktionszimmer hing.

 

Es hatte gerade elf Uhr geschlagen, als Stella Mendoza hereinschwebte, umgeben von einer Wolke von süßem Veilchenduft. Im Arm trug sie ihren kleinen Pekinghund.

 

»Arbeiten Sie nach der Sommerzeit?« fragte Knebworth langsam, »oder dachten Sie vielleicht, daß die Aufnahmen für heute nachmittag angesetzt wären? Fünfzig Leute haben Ihretwegen warten müssen, Stella!«

 

»Da kann ich nichts ändern«, sagte sie und zuckte verächtlich die Schultern. »Sie haben mir doch gesagt, daß die Aufnahmen auswärts stattfinden, und ich glaubte natürlich nicht, daß Sie so fürchterliche Eile haben würden. Ich mußte doch erst meine Sachen packen.«

 

»Selbstverständlich haben Sie viel Zeit, aber wir nicht!«

 

Jack Knebworth rechnete damit, daß er durchschnittlich dreimal im Jahr einen großen Krach bekam. Das war nun der dritte. Den ersten hatte er mit Stella, den zweiten hatte er mit Stella, und den dritten hatte er natürlich wieder mit Stella.

 

»Ich habe Sie doch für zehn Uhr hierher bestellt, alle diese Damen und Herren warten nun seit Viertel vor zehn.«

 

»Was wollen Sie denn nun eigentlich aufnehmen?« fragte sie und warf den Kopf ungeduldig zurück.

 

»Natürlich Sie!« sagte Jack grimmig. »Gehen Sie schnell in Ihre Garderobe und vergessen Sie nicht, die Perlohrringe abzunehmen. Sie haben eine arme, halbverhungerte Choristin zu spielen. Wir wollen heute in Griff Towers drehen, und ich sagte dem Besitzer, daß ich um drei Uhr nachmittags fertig sein würde. Wenn Sie Greta Garbo oder Marlene Dietrich wären, wollte ich nichts sagen, wenn man einmal eine Stunde auf Sie warten müßte. Aber zehn Stella Mendozas machen noch nicht einen einzigen solchen Star aus. Vergessen Sie das nicht!«

 

Jack Knebworth erhob sich von seinem Stuhl und zog langsam seinen Mantel an. Das war von verhängnisvoller Vorbedeutung. Stella wurde rot vor Ärger. Ihre dunklen Augen schossen Blitze. Sie war aufs tiefste beleidigt und in ihrer Eitelkeit gekränkt.

 

Früher hieß Stella nur Maggie Stubbs und war die Tochter eines Kolonialwarenhändlers in der Provinz, und Jack nahm sich jetzt heraus, mit ihr zu sprechen, als ob sie noch Maggie Stubbs wäre. Er schien ganz vergessen zu haben, daß sie eine große Künstlerin war, einer der leuchtenden Sterne am Filmhimmel, eine Göttin, deren süßes Lächeln die Zuschauer in den Kinos der ganzen Welt bezauberte. Oder sollte etwa ihr Presseagent gelogen haben?

 

»Schon gut, wenn Sie einen Krach haben wollen, können Sie ihn haben, Knebworth. Ich verlasse Ihre Filmgesellschaft, und zwar sofort. Ich weiß, was ich mir schuldig bin. Übrigens hätte das Manuskript sowieso geändert werden müssen, um mir die Möglichkeit zu geben, meine Persönlichkeit richtig entfalten zu können. Die männlichen Rollen überwiegen viel zu sehr in dem Stück. Die Leute, die ins Kino gehen, zahlen ihr Geld nicht, um sich Männer anzusehen. Die Behandlung, die Sie mir zukommen lassen, ist meiner nicht würdig, Knebworth – ich will ja zugeben, daß ich manchmal etwas hitzig bin, aber Sie können von einer Künstlerin meiner Art nicht erwarten, daß sie ein Stück Holz ist!«

 

»Ich kann nur feststellen, daß Sie sich wieder einmal aufführen, als ob Sie einen Kopf wie ein Stück Holz hätten!« brummte der Direktor. Als er den wütenden Ausdruck in ihrem Gesicht sah, fuhr er fort: »Früher haben Sie mal zwei Jahre lang kleine Rollen in Hollywood gespielt, und als Sie dann nach England kamen, hatten Sie gelernt, sich in Szene zu setzen. Temperament haben Sie – das heißt, darunter verstehe ich, daß Sie zum Doktor laufen und sich Atteste ausstellen lassen, wenn ein Film halb gedreht ist, und dann so lange nicht erscheinen, bis ihr Gehalt um fünfzig Prozent erhöht ist! Gott sei Dank ist dieser Film noch nicht einmal zum achten Teil gedreht. Geben Sie nur ruhig Ihre Stellung auf, Sie niederträchtige Gans! Machen Sie, daß Sie fortkommen!«

 

Stella kochte vor Wut. Ihre Lippen zitterten. Sie konnte nicht sprechen, drehte Jack den Rücken und sauste aus dem Atelier. Es war ganz ruhig geworden, keiner sagte ein Wort. Jack Knebworth ließ seine Blicke über die Leute schweifen.

 

»Jetzt ereignet sich das große Wunder«, sagte er ironisch. »Jetzt kommt der Moment, wo eine Statistin, die mit einer kranken Mutter in ärmlichsten Verhältnissen lebt, über Nacht zur Berühmtheit wird. In Hollywood passieren noch ganz andere Dinge. Wir werden jetzt eine zweite Mary Pickford entdecken!«

 

Die Statistinnen lächelten. Einige hofften, andere waren neidisch, aber keine sprach. Helen war zu Eis erstarrt, ihre Stimme versagte.

 

»Bescheidenheit gehört nicht zu unserem Fach«, sagte Jack liebenswürdig. »Wer hält sich für fähig, die Rolle der Roselle in diesem Film zu übernehmen? Ich will eine Statistin diese Rolle spielen lassen. Ich will dieser verrückten Stella einmal zeigen, daß wir selbst unter unserem Personal genügend junge Damen haben, die sie ersetzen können. Mir hat doch noch gestern jemand gesagt, daß er gern eine Rolle haben möchte – das waren Sie –«

 

Er zeigte auf Helen. Ihr Herz schlug mit rasender Heftigkeit, als sie zu ihm hinging.

 

»Vor sechs Monaten habe ich eine Probeaufnahme von Ihnen machen lassen«, sagte der Direktor nachdenklich. »Da war irgend etwas auszusetzen – was war es doch gleich?«

 

Dabei wandte er sich an den Operateur. Der junge Mann nickte, als ob er sich darauf besinnen könnte.

 

»Waren es nicht die Fußgelenke?« fragte er auf gut Glück. Er wußte, daß Knebworth sehr auf schlanke Fesseln hielt.

 

Jack schaute schnell auf Helens Füße. »Nein, das kann es nicht sein – suchen Sie schnell den Filmstreifen heraus, wir wollen ihn gleich ansehen.«

 

Zehn Minuten später saß Helen an der Seite des alten Mannes in dem kleinen Projektionsraum und sah, wie ihre Probeaufnahme vorgeführt wurde.

 

»Das Haar war es«, sagte Knebworth triumphierend. »Ich wußte doch, daß etwas auszusetzen war. Kurzes Haar bei Damen kann ich nicht recht leiden, da sehen die Mädchen zu schnippisch und zu naseweis aus. Haben Sie jetzt eine andere Frisur?« fragte er und ließ das Licht andrehen.

 

»Ja, Mr. Knebworth.«

 

Er betrachtete sie mit fachmännischer Bewunderung.

 

»Sie werden die Rolle spielen«, sagte er zögernd. »Gehen Sie in den Ankleideraum und nehmen Sie die Kleider von Miss Mendoza. Aber ich muß Ihnen vorher noch etwas sagen«, bemerkte er und hielt sie einen Augenblick zurück. »Mag nun der Versuch mit Ihnen gut oder schlecht ausfallen, bei meiner Gesellschaft haben Sie keine große Zukunft. Machen Sie sich keine Hoffnungen. In England liegen die Dinge nun einmal so, daß eine Filmschauspielerin nur dann Aussicht auf Erfolg hat, wenn sie einen Filmdirektor heiratet. Und ich möchte gleich von vornherein sagen, daß ich nicht die Absicht habe, Sie zu heiraten, selbst wenn Sie mich auf den Knien darum bitten sollten. Das ist die einzige Möglichkeit, in England als Filmstar berühmt zu werden – und wenn Sie das nicht fertigbringen, dann ist Ihr Erfolg gleich …«

 

Dabei schnippte er mit den Fingern.

 

»Ich möchte Ihnen einen Rat geben, Kind. Wenn Sie in diesem Film Talent beweisen, dann gehen Sie zu einem der großen Filmdirektoren in England und lassen sich von ihm engagieren. Wissen Sie, zu einem, der drei Klubsessel und einen Blumentopf mit einer Palme zusammenstellt und dieses Szenarium einen Salon nennt. Geben Sie dem Fräulein – wie ist doch gleich wieder Ihr Name – das Manuskript, Harry! So, nun gehen Sie an irgendeinen ruhigen Ort und studieren Sie Ihre Rolle. Harry, sehen Sie nach dem Ankleideraum! Und Sie haben eine halbe Stunde Zeit, das Manuskript zu lesen.«

 

Wie im Traum ging Helen in den schattigen Garten, der sich an der Längsseite des Ateliers hinzog. Sie setzte sich auf eine Bank und versuchte, ihre Gedanken auf die maschinengeschriebenen Seiten zu konzentrieren. War es denn Wirklichkeit, was sie erlebte? – Da hörte sie Schritte auf dem Kiesweg, und schaute erschreckt auf. Der junge Mann, der sie heute morgen besucht hatte, kam auf sie zu. Es war Mike Brixan.

 

»Ach bitte, unterbrechen Sie mich jetzt nicht!« bat sie aufgeregt. »Gerade habe ich eine Rolle bekommen – ich muß noch viel lesen.«

 

Er sah, daß seine Gegenwart sie außer Fassung brachte, und wandte sich zum Gehen.

 

»Es tut mir sehr leid –« begann er.

 

In ihrer Bestürzung hatte sie die losen Blätter des Manuskriptes auf die Erde fallen lassen, und als er sich gleichzeitig mit ihr bückte, um sie aufzuheben, stießen ihre Köpfe zusammen.

 

»Ich bitte vielmals um Entschuldigung – so etwas kommt in vielen Lustspielen vor«, sagte er.

 

In dem Augenblick sah er auf das Blatt Papier, das er in der Hand hatte, und begann unwillkürlich zu lesen. Da stand eine eingehende Beschreibung des Schauplatzes einer Szene.

 

›Eine große geräumige Gefängniszelle, nur durch eine düstere Hängelampe erleuchtet. In der Mitte des Hintergrundes führt eine durch ein großes, eisernes Gitter geschlossene Tür ins Freie. Man sieht eine Schildwache auf und ab gehen.‹

 

»Großer Gott!« stöhnte Mike und wurde blaß bis in die Lippen.

 

Die »u« der Maschinenschrift waren verwischt und die »g« kamen nur schwach. Eine unheimliche Entdeckung! Es wurde ihm zur Gewißheit, daß dieses Blatt auf derselben Maschine geschrieben war, die der Kopfjäger benutzte, um seine schrecklichen Todesnachrichten in die Welt zu senden.