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»Ja, ich bin es«, sagte Mike bitter. »Es ist schon gut, Wachtmeister. Sie brauchen nicht zu warten. Jack, ich will mit Ihnen nach Hause gehen, um diese Maskerade loszuwerden.«

 

»Aber um Gottes willen«, stieß Jack atemlos hervor, indem er den Detektiv anstarrte. »Ich habe noch niemals jemand in einer so guten Verkleidung gesehen. Sonst lasse ich mich doch nicht so leicht täuschen.«

 

»Ich habe alle Leute hinters Licht geführt, mich selbst sogar«, sagte Mike wütend. »Ich bildete mir ein, daß ich ihn mit einem Brief in die Falle locken könnte. Statt dessen hat der Teufel mich geschnappt.« – »Womit denn?«

 

»Er hat mir eine konzentrierte Ammoniaklösung ins Gesicht gespritzt, vermute ich«, sagte Mike.

 

Nach zwanzig Minuten kam er aus dem Badezimmer wieder in seiner alten Gestalt zurück. Nur seine Augen waren schwer entzündet.

 

»Ich wollte ihn in die Falle locken, aber er war doch zu schlau.«

 

»Wissen Sie denn, wer es ist?«

 

Mike nickte.

 

»Ja, ich weiß es sehr genau. Ich habe eine besondere Polizeiabteilung hier, die nur wartet, ihn festzunehmen. Ich wollte kein großes Aufsehen erregen und vor allem kein Blutvergießen. Jetzt vermute ich, daß es nicht ohne Kampf abgehen wird.«

 

»Ich konnte den Wagen nicht erkennen, obwohl mir alle Autos hier in der Stadt bekannt sind«, sagte Jack.

 

»Es ist ein ganz neuer Wagen, den der Kopfjäger nur für seine nächtlichen Abenteuer benutzt. Wahrscheinlich stellt er ihn nicht in seiner eigenen Garage unter. – Eben haben Sie mich doch gefragt, ob ich etwas essen wollte. Da log ich und sagte, daß ich mit allem versehen sei. Geben Sie mir um Himmels willen etwas zu essen, ich bin hungriger als ein Wolf.«

 

Jack ging in die Speisekammer, brachte kaltes Fleisch, machte Kaffee und wartete schweigend, bis der ausgehungerte Detektiv gegessen hatte.

 

»Jetzt fühle ich mich wieder als Mensch«, sagte Mike. »Ich habe seit heute morgen um elf außer einigen Keksen nichts gegessen. Denken Sie sich, unsere Freundin Stella Mendoza befindet sich in Griff Towers, und ich glaube, daß ich sie erschreckt habe. Etwa vor einer Stunde habe ich dort herumspioniert, um sicher zu sein, daß mein Vogel auch im Netz sitzt. Als ich so herumschaute, sah ich sie. Sie hat furchtbar geschrien.«

 

Es klopfte laut an der Tür, und Jack Knebworth schaute auf.

 

»Wer kommt denn jetzt noch zu so später Stunde?« fragte er.

 

»Wahrscheinlich ein Polizist«, meinte Mike.

 

Knebworth öffnete die Tür, und draußen stand eine untersetzte, behäbige Frau in mittleren Jahren auf der Türschwelle und hielt eine Rolle Papier in der Hand.

 

»Sind Sie Mr. Knebworth?« fragte sie.

 

»Ja«, antwortete Jack.

 

»Ich bringe Ihnen das Manuskript, das Miss Leamington zu Hause ließ. Sie bat mich, es Ihnen zu geben.«

 

Knebworth nahm ihr die Rolle ab und streifte das Gummiband herunter, das sie zusammenhielt. Es war das Manuskript von Roselle.

 

»Warum bringen Sie das?« fragte er.

 

»Sie sagte mir, daß ich es zu Ihnen tragen sollte, wenn ich es finden würde«, entgegnete die Frau.

 

»Es ist schon gut«, sagte Jack arglos. »Ich danke schön.«

 

Er schloß die Tür hinter der Frau und ging in das Speisezimmer zurück.

 

»Helen hat ihr Manuskript gesandt, ich weiß nicht, was da los ist.«

 

»Wer brachte es denn?« fragte Mike interessiert.

 

»Soviel ich vermute, ihre Wirtin«, sagte Jack und beschrieb die Frau.

 

»Ja, das ist die Wirtin. Will Helen denn ihre Rolle nicht weiterspielen?«

 

»Es sieht fast so aus.« Jack schüttelte den Kopf.

 

Mike war erstaunt.

 

»Was soll das bedeuten? Was sagte denn die Frau?«

 

»Miss Leamington hätte sie gebeten, das Manuskript zu bringen, wenn sie es gefunden hätte.«

 

Im Augenblick war Mike aus dem Haus, lief so schnell er konnte und holte die Frau ein.

 

»Würden Sie so liebenswürdig sein, noch einmal mitzukommen?« fragte er und ging mit ihr zu Jacks Wohnung zurück.

 

»Bitte, sagen Sie doch Mr. Knebworth noch einmal, warum Miss Leamington das Manuskript gesandt hat und warum Sie es bringen sollten, wenn Sie es gefunden hätten.«

 

»Nämlich – das ist deshalb – als sie zu Ihnen ging«, begann die Frau.

 

»Zu mir ging?« rief Knebworth schnell.

 

»Ein Herr vom Atelier kam und sagte, daß Sie sie sofort sprechen wollten«, berichtete die Wirtin. »Miss Leamington wollte sich gerade zur Ruhe legen, aber ich habe ihr die Botschaft noch gebracht. Sie sagte mir schnell, daß Sie sie wegen der Aufnahmen morgen sehen wollten und daß Sie das Manuskript brauchten. Sie hatte es wohl verlegt und war sehr unruhig deshalb. Ich sagte ihr aber, daß sie schon gehen solle, da die Sache eilig war und versprach ihr, es nachzubringen. Schließlich bat sie mich, es so zu machen.«

 

»Was war denn das für ein Herr, der sie abholte?«

 

»Ein dicker Mann, wahrscheinlich ein Chauffeur. Er kam mir etwas angetrunken vor, aber ich wollte Miss Leamington nicht erschrecken und sagte ihr nichts davon.«

 

»Und was ereignete sich dann?« fragte Mike schnell.

 

»Sie ging auf die Straße und stieg in den Wagen ein. Der Chauffeur war schon auf seinem Sitz.«

 

»War es ein geschlossener Wagen?«

 

Die Frau nickte.

 

»Und sind sie dann abgefahren? Wann war das?«

 

»Es muß kurz nach halb elf gewesen sein, denn ich erinnere mich, daß ich die Kirchturmuhr schlagen hörte, kurz bevor das Auto abfuhr.

 

Mike überlief es eiskalt. Er konnte kaum sprechen.

 

»Es ist jetzt elf Uhr fünfundzwanzig. Es hat lange gedauert, bis Sie gekommen sind.«

 

»Ich habe lange nach dem Schriftstück gesucht. Schließlich habe ich es unter dem Kopfkissen von Miss Leamington gefunden. Ist sie nicht hier?«

 

»Nein, sie ist nicht hier«, sagte Mike ruhig. »Ich danke Ihnen sehr, ich will Sie nicht aufhalten. Würden Sie so liebenswürdig sein und bei der Polizeistation auf mich warten?«

 

Er eilte die Treppe hinauf und zog seinen Rock an.

 

»Wo glauben Sie denn, daß sie jetzt ist?«

 

»Sie ist in Griff Towers«, antwortete Mike schnell. »Und ob Gregory Penne in dieser Nacht am Leben bleibt oder nicht, das hängt davon ab, ob er Helen etwas zuleide getan hat!«

 

Auf der Polizeistation fand er die Wirtin. Die arme Frau war sehr verwirrt und erschrocken.

 

»Was trug Miss Leamington, als sie ausging?«

 

»Sie hatte ihr blaues Kostüm an«, jammerte die Frau. »Das schöne blaue Kostüm, das sie immer trägt.«

 

Eine Truppe von Scotland-Yard-Polizisten wartete auf der Station. Ein vollbesetzter Wagen fuhr von Chichester weg. Mike dauerte es viel zu lange. Er war in fieberhafter Ungeduld. Der Wagen fuhr ihm zu langsam, jede Sekunde war kostbar. Schließlich, nach einer endlosen Zeit, wie ihm schien, bog das Auto auf den Fahrweg nach Griff Towers ein. Mike hielt nicht an, um den Pförtner zu wecken, sondern stieß das Tor auf, indem er den Wagen dagegenfahren ließ.

 

Er brauchte nicht zu klingeln, die Tür stand sperrangelweit offen, und an der Spitze der Mannschaft eilte Mike Brixan durch die die leere Eingangshalle. Schnell lief er den Gang entlang und kam in Gregorys Bibliothek. Es brannte nur ein Licht dort, das den Raum schwach erhellte. Aber das Zimmer war leer. Mit schnellen Schritten war er am Schreibtisch und drehte den Hebel. Bhags Käfig öffnete sich, aber auch der Affe war nicht da.

 

Er drückte den Klingelknopf auf der Seite des Kamins, und gleich darauf kam der braune Diener, den er von früher her kannte, zitternd herein.

 

»Wo ist dein Herr?« fragte Mike auf holländisch.

 

Der Mann schüttelte den Kopf.

 

»Ich weiß es nicht«, antwortete er, aber schaute nach oben zur Decke.

 

»Zeige mir den Weg!«

 

Sie gingen zur Eingangshalle zurück, eilten die breite Treppe zum oberen Geschoß empor, kamen wieder durch einen langen Korridor, der voller Schwerter hing, genau wie der untere. Dann fänden sie eine offene Tür – es war der große Tanzsaal, in dem Gregory Penne den Abend verbracht hatte. Aber es war niemand zu sehen; und Mike ging wieder hinaus. Plötzlich hörte er ein heftiges Klopfen an einer der Türen des Ganges. Der Schlüssel steckte im Schloß. Er drehte ihn um, und die Tür flog weit auf. Stella Mendoza, bleich wie der Tod, wankte heraus.

 

»Wo ist Helen?« keuchte sie.

 

»Das wollte ich gerade Sie fragen!« sagte Mike streng. »Wo ist sie?«

 

Stella schüttelte hilflos den Kopf. Sie war nicht mehr fähig zu sprechen und sank ohnmächtig um.

 

Er wartete nicht, bis sie wieder zu sich gekommen war, sondern suchte weiter. Er eilte von Zimmer zu Zimmer, aber er fand weder eine Spur von Helen, noch von dem brutalen Gregory. Er durchsuchte die Bibliothek noch einmal und ging auch zu dem kleinen Salon. Dort war ein Tisch für zwei Personen gedeckt. Das Tischtuch war feucht von vergossenem Wein. Ein halbleeres Glas stand da – aber die beiden, für die die Tafel gedeckt war, konnte man nicht entdecken. Sie mußten durch die Haupttür verschwunden sein … Aber wohin?

 

Alle seine Muskeln waren angespannt, und seine Gedanken waren nur auf die eine Frage gerichtet, deren Beantwortung ihm im Augenblick wichtiger als sein Leben war. Plötzlich hörte er ein Geräusch, das aus Bhags Raum kam. Er drehte sich um, und in der Tür erschien der fürchterliche Affe selbst. Er blutete aus einer Schulterwunde. Das Blut tropfte herunter. In seinen großen Händen hatte er etwas, das wie ein Bündel Lumpen aussah. Als Mike näher hinschaute, schien sich der Raum vor seinen Augen zu drehen.

 

Das zerrissene, mit Blut beschmutzte Kleidungsstück, das Bhag hielt, war die blaue Jacke Helen Leamingtons!

 

Einen Augenblick starrte Bhag den Mann an, den er als seinen Feind erkannte. Er ließ die Jacke fallen und eilte zähnefletschend in sein Quartier zurück. Dreimal hörte man den scharfen Knall von Mikes Browning, Und Bhag verschwand plötzlich. Die Tür seines Raumes schloß sich geräuschvoll.

 

Knebworth hatte die Szene mit angesehen. Er lief hinzu und hob die Jacke auf, die der Affe hatte fallen lassen.

 

»Das ist ihre Jacke«, sagte er heiser, und ein schrecklicher Gedanke ließ ihn erschauern.

 

Mike hatte die Tür zu dem Käfig geöffnet. Mit der Pistole in der Hand eilte er durch die Öffnung. Knebworth wagte nicht zu folgen. Er stand wie zu Stein erstarrt und wartete, bis Mike wieder erschien.

 

»Es ist nichts drinnen«, sagte er.

 

»Nichts?« fragte Knebworth flüsternd. »Gott sein Dank!«

 

»Bhag ist fort, ich denke, daß ich getroffen habe. Hier ist eine Blutspur, aber es ist möglich, daß sie nicht von meinem Schuß herrührt. Er muß kürzlich verwundet worden sein«, dabei zeigte er auf Blutspuren auf dem Fußboden. »Als ich ihn das letztemal sah, hatte er diese Wunde noch nicht.«

 

»Haben Sie ihn denn schon vor heute abend gesehen?«

 

Mike nickte. Wo mochte Helen sein? Das war die wichtigste Frage, und dieser Gedanke ließ alles andere für Mike Brixan in den Hintergrund treten. Und wo war der Baron? Warum hatten sie die Haustür offen gefunden? Keiner der Dienstboten konnte ihm darüber Auskunft geben, und er fühlte, daß sie die Wahrheit sprachen. Nur Penne und das Mädchen und der große Affe wußten darum Bescheid, wenn nicht –

 

Er eilte nach oben, wo er einen Detektiv bei Stella Mendoza zurückgelassen hatte, um die Bewußtlose wieder zu sich zu bringen.

 

»Sie ist von einer Ohnmacht in die andere gefallen«, berichtete der Beamte. »Sie sagte nur einmal: ›Schieß ihn nieder, Helen!‹«

 

»Dann muß sie sie doch gesehen haben!« stieß Mike hervor.

 

Einer der Polizisten, der draußen geblieben war, um das Gebäude zu bewachen, kam mit einer Meldung. Er hatte gesehen, wie eine dunkle Gestalt die Wand hinaufkletterte und durch eine Öffnung in der Mauer verschwand. Einige Minuten später war sie wieder erschienen.

 

»Das war Bhag«, bemerkte Mike. »Ich wußte, daß er nicht hier war, als wir ankamen. Er muß durch das Loch in der Mauer hereingekommen sein, während wir oben waren.«

 

Der Wagen, der Helen hierhergebracht hatte, wurde aufgefunden. Er gehörte Stella. Zuerst vermutete Mike, daß sie bei der Entführung ihre Hand im Spiel hatte. Er erfuhr aber später, daß ihr Chauffeur tatsächlich in der Küche gefangengehalten wurde, und Penne selbst bei Helen vorgefahren war. Er konnte sich durch eigenen Augenschein davon überzeugen, daß der Wagen Stella gehörte. Nun wurde ihm auch klar, warum Helen, ohne Verdacht zu schöpfen, eingestiegen und mitgefahren war.

 

Mike war nahe daran, wahnsinnig zu werden. Die Gefangennahme des Kopfjägers war ihm vollständig unwichtig geworden. Er dachte nur noch daran, wie er Helen retten könne.

 

»Wenn ich sie nicht finden kann, werde ich verrückt«, rief er.

 

Jack Knebworth wollte etwas erwidern, als eine plötzliche Unterbrechung eintrat. Ein furchtbarer Schrei gellte durch die Nacht, der allen durch Mark und Bein ging.

 

»Hilfe! Hilfe!«

 

Der Ruf klang schauerlich. Mike erkannte die Stimme eines Mannes – und dieser Mann war Gregory Penne.