20

 

Mike Brixan bereitete sich zum letzten und nutzlosen Kampf vor. Aber zu seinem größten Erstaunen hielt der Affe plötzlich inne. Sein leises Gezwitscher wurde zu heftigem Fauchen. Er richtete sich in seiner ganzen Länge auf und schlug sich mit den Armen auf die Brust. Es gab ein hohlklingendes, schreckliches Dröhnen.

 

Aber Mike hörte trotzdem ein merkwürdiges Geräusch, das ihm fast wie das Zischen von Wasserdampf vorkam. Erstaunt blickte er sich um. Auf dem Rand der Mauer saß zusammengeduckt ein Mann, und Mike erkannte ihn sofort. Es war der braune Fremde, den er heute in Chichester gesehen hatte. Die dröhnenden Schläge wurden lauter. Plötzlich sah Mike eine aufblitzende gebogene Klinge in der Hand des Eingeborenen. Es war ein Schwert, wie es über dem Kamin Sir Gregorys hing.

 

Während Mike noch starr vor Staunen war, sprang der braune Mann auf den Boden herunter. Bhag wandte sich mit einem fast menschlichen Aufschrei zur Flucht. Mike sah der unheimlichen Gestalt nach, bis sie die Dunkelheit aufgesogen hatte.

 

»Mein Freund«, sagte Mike auf holländisch, »Sie kamen gerade im rechten Augenblick.«

 

Er drehte sich um, aber der Fremde war verschwunden, als ob die Erde ihn verschlungen hätte. Er hielt die Hand vor die Augen, um das Licht der Sterne abzudämpfen, und konnte in weiter Entfernung eine dunkle Gestalt beobachten, die im Schatten der Mauer fortschlich. Erst wollte er dem braunen Mann folgen und ihn fragen, aber dann ging er doch in der anderen Richtung weiter. Mit Mühe erkletterte er die Mauer und sprang auf der anderen Seite hinunter. Dann brachte er, so gut es ging, seine Sachen in Ordnung und lief an der Mauer entlang bis zum Parktor von Griff Towers. Kühn ging er auf das Haus zu und pfiff vor sich hin.

 

Als er über den freien Platz vor dem Haus kam, konnte er niemanden sehen. Er ging zu der Stelle zurück, wo er aus dem Fenster gesprungen war, und fand nach kurzem Suchen seine Pistole.

 

Er wollte sich nicht eher entfernen, als bis er Stella Mendoza in Sicherheit wußte. Eben hatte er gesehen, daß ihr Auto auf der Straße wartete. Schon hob er die Hand, um zu klingeln, als er in der Halle Fußtritte hörte. Er lauschte angestrengt. Zweifellos war Stella Mendoza eine der beiden Personen, die sprachen. Er trat hinter die Hecke zurück, um sich zu verstecken.

 

Sie kam heraus, und hinter ihr erschien Sir Gregory. Dem Ton ihrer Unterhaltung hätte ein Fremder, der mit den genauen Umständen nicht vertraut war, nichts Besonderes entnehmen können.

 

»Gute Nacht, Gregory«, sagte sie mit freundlicher Stimme. »Ich werde dich morgen wieder besuchen.«

 

»Komm zum Essen«, hörte er Pennes Stimme, »und bring deinen Freund mit. Soll ich dich zu deinem Wagen begleiten?«

 

»Danke, nein«, sagte sie hastig.

 

Brixan schaute ihr nach, bis er sie nicht mehr sehen konnte. Das schwere Tor von Griff Towers war inzwischen zugemacht worden, und das Rasseln der Ketten sagte ihm, daß es für heute endgültig geschlossen war.

 

Wo mochte Foß sein? Er mußte eher weggegangen sein, wenn er wirklich hiergewesen war. Brixan wartete noch, bis alles ruhig war, dann schlich er sich auf Zehenspitzen über den Kiesweg und folgte Stella. Er hielt noch Ausschau nach dem braunen Mann, aber er konnte ihn nirgends entdecken. Plötzlich erinnerte er sich, daß er die Leiter vergessen hatte. Er kehrte noch einmal zurück, um sie mitzunehmen, und fand sie noch an derselben Stelle, wo er sie gelassen hatte. Sie wurde auseinandergenommen und in den Rucksack gepackt. Zehn Minuten später holte er sein Motorrad wieder aus dem Versteck.

 

 

Ein gelbliches Licht kam aus dem Speisezimmer von Mr. Longvale. Beinahe wäre Mike noch zu ihm gegangen. Jedenfalls hätte der alte Herr ihm noch verschiedenes über das Mädchen mit dem ovalen Gesicht erzählen können, das sich in dem obersten Turmgeschoß aufhielt. Aber er entschloß sich, nach Hause zu gehen. Diese kleine nächtliche Untersuchung befriedigte ihn noch nicht. Der Turm hatte ihm kein grauenvolles Geheimnis enthüllt, wenigstens nicht das, was er erwartet hatte. Offenbar wurde dort ein Mädchen gefangengehalten. Sie war für Gregory Penne geraubt worden, und er hatte sie auf seiner Jacht nach England gebracht. So etwas kam vor. Vor einigen Monaten war vor Gericht ein ganz ähnlicher Fall verhandelt worden. Diese Sache war aber nicht wert, daß man deswegen seine Nachtruhe opferte.

 

Er nahm ein heißes Bad und machte sich selbst eine Tasse Schokolade. Bevor er sich zur Ruhe legte, überdachte er noch einmal alles, was sich an diesem Tag ereignet hatte. Nach seinen letzten Erfahrungen, war er nicht mehr so sehr davon überzeugt, daß sich das Rätsel des Kopfjägers so leicht lösen ließe, wie er zuerst annahm. Je länger er darüber nachsann, desto unbefriedigter wurde er. Schließlich war er so ärgerlich über seine eigene Unschlüssigkeit, daß er das Licht ausmachte und sich zu Bett legte.

 

Er schlief tief und ruhig bis in den späten Morgen hinein. Erst ein unerwarteter Besuch weckte ihn. Mike setzte sich im Bett aufrecht und rieb sich die Augen.

 

»Entweder sehe ich Gespenster – oder es ist Staines«, sagte er erstaunt.

 

Major Staines lächelte freundlich.

 

»Sie sind wach und bei gesunden Sinnen«, erwiderte er.

 

»Hat sich irgend etwas ereignet?« fragte Mike und sprang aus dem Bett.

 

»Nichts Besonderes. Gestern abend war ein Tanzvergnügen, das sich bis spät in die Nacht hineinzog, und heute morgen fuhr in aller Frühe ein Eisenbahnzug hierher. Da entschloß ich mich, für mein leichtsinniges Leben Buße zu tun und einmal nachzusehen, wie weit Sie mit der Aufklärung des Falles Elmer gekommen sind.«

 

»Fall Elmer?« Mike legte die Stirn in Falten. »Großer Gott, ich hätte Elmer beinahe vergessen!«

 

»Ich habe Ihnen etwas mitgebracht«, sagte Staines.

 

Er holte aus seiner Tasche einen Zeitungsausschnitt. Mike nahm ihn und las:

 

›Sind Ihre geistigen und körperlichen Beschwerden unheilbar? Zögern Sie noch am Rande des Abgrundes? Fehlt Ihnen Mut? Schreiben Sie dem Wohltäter. Fach … ‹

 

»Was ist das?« fragte Mike nachdenklich.

 

»Dieser Ausschnitt wurde in einer alten Weste gefunden, die Elmer einige Tage vor seinem Verschwinden trug. Mrs. Elmer sah alle seine Kleider nach, um sie zu verkaufen. Dabei fand sie dieses Papier. Die Anzeige erschien im ›Morgen-Telegramm‹ vom 14. des Monats. Das heißt also drei oder vier Tage, bevor Elmer verschwand. Am Ende der Anzeige steht die Nummer des Faches in der Zeitungsexpedition, wo man die Anfragen aufbewahrte. Ich habe einen Bericht von dort, daß vier Briefe an den Wohltäter eingesandt wurden! Wir haben in Erfahrung bringen können, daß er diese an einen kleinen Laden in der Stibbington Street überweisen ließ. Hier wurden sie von einer Frau, offensichtlich aus Arbeiterkreisen, abgeholt. Weiter konnten wir die Spur nicht verfolgen. Es wurden ähnliche Anzeigen in anderen Zeitungen entdeckt, aber in diesen Fällen wurden die Briefe nach einer Deckadresse in Südlondon bestellt, wo sie wahrscheinlich von derselben Frau abgeholt wurden. Bei jeder neuen Annonce änderte der Auftraggeber seine Adresse. Keiner ihrer Nachbarn kennt die Frau,, die die Briefe abholt, näher. Sie verkehrt mit niemandem, und wie die Ladeninhaber aus ihrer Gegend erzählen, scheint sie etwas geistesgestört zu sein, denn sie murmelt vor sich hin und spricht zu sich selbst. Sie heißt Stivins, wenigstens ist das der Name, den sie überall angibt. Die Bescheinigungen, die sie bringt, damit ihr die Briefe ausgehändigt werden, sind mit Mark unterzeichnet.«

 

»Bringen Sie diese Anzeige in Verbindung mit der Ermordung Elmers?«

 

»Wir sind uns darüber nicht klar. Man könnte darauf mit Ja und mit Nein antworten. Diese Annonce ist recht sonderbar abgefaßt und erregt unter den eigenartigen Umständen doch Verdacht. Nun sagen Sie mir aber, was Ihre Vermutungen sind.«

 

Eine Stunde lang sprach Mike Brixan. Ab und zu wurde er durch die Fragen des Majors unterbrochen.

 

»Es ist eine sonderbare Ansicht, die Sie haben, fast möchte man sie phantastisch nennen«, meinte Staines ernst. »Aber wenn Sie davon überzeugt sind, daß Sie die richtige Fährte gefunden haben, dann gehen Sie nur auf Ihr Ziel los. Um Ihnen die Wahrheit zu sagen«, fuhr er dann vertraulich fort, »ich hatte das schauderhafte Gefühl, daß Sie einen Mißerfolg gehabt hätten. Und da ich nicht wünsche, daß Scotland Yard sich über unsere Abteilung lustig macht, hielt ich es für besser, hierherzukommen und Ihnen das Resultat meiner eigenen Nachforschungen mitzuteilen.«

 

»Ich bin ganz Ihrer Meinung«, sagte er, als sie später beim Frühstück saßen, »daß Sie äußerst vorsichtig zu Werke gehen müssen. Es ist eine sehr heikle Angelegenheit. Sie haben doch den Leuten von Scotland Yard Ihren Verdacht nicht mitgeteilt?«

 

Mike schüttelte den Kopf.

 

»Dann tun Sie es auch ja nicht«, sagte Staines mit Nachdruck. »Die würden natürlich den Mann, den Sie im Verdacht haben, gleich festnehmen. Dadurch würde es wahrscheinlich unmöglich werden, einen vollen Beweis beizubringen. Sagten Sie mir nicht eben, daß Sie das Haus durchsucht hätten?«

 

»Nicht vollständig, ich konnte nur eine oberflächliche Besichtigung vornehmen.«

 

»Sind Keller dort?«

 

»Ich sollte es annehmen«, sagte Mike. »Diese Art Häuser hat gewöhnlich ein Kellergeschoß.«

 

»Nebengebäude?«

 

Mike schüttelte den Kopf.

 

»Soviel ich sehen konnte, sind keine vorhanden.«

 

Mike ging mit seinem Vorgesetzten zur Bahnstation, und der Major versicherte Brixan, daß er viel hoffnungsvoller abfahre, als er hergekommen sei.

 

»Ich möchte Sie aber noch warnen, Mike«, sagte Staines. »Seien Sie vorsichtig. Sie haben es mit einem rücksichtslosen, verschlagenen Mann zu tun. Unterschätzen Sie um Himmels willen seine Intelligenz nicht. Ich möchte nicht eines Morgens die Nachricht erhalten, daß Sie nicht mehr unter den Lebenden sind.«