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Helen Leamington wartete, bis das Atelier fast leer war, und auch dann zögerte sie noch, ehe sie in das Büro ihres Chefs eintrat. Ein weißhaariger Mann saß zusammengekauert in einem Segeltuchstuhl. Er hatte die Hände in die Hosentaschen gesteckt und runzelte mißmutig die Stirn.

 

Es war gerade kein glücklicher Augenblick, um ihm eine Bitte vorzutragen. Niemand wußte das besser als sie selbst.

 

»Mr. Knebworth, kann ich Sie einen Augenblick sprechen?«

 

Langsam schaute er auf. Sonst wäre der Amerikaner gleich aufgestanden, denn man rühmte an ihm allgemein seine bezaubernde Liebenswürdigkeit. Aber augenblicklich war seine Achtung vor den Frauen unter Null gesunken. Er sah sie mißmutig an, prüfte aber gewohnheitsmäßig als Filmmann unwillkürlich ihre Erscheinung. Sie war hübsch und hatte regelmäßige Gesichtszüge. Goldbraune Locken umrahmten weich ihr Gesicht mit dem festen, schöngeformten Mund. Ihre Gestalt war schlank. Man konnte nichts an ihr aussetzen.

 

Jack Knebworth hatte schon viele schöne Statistinnen zu Gesicht bekommen. Wie oft war er von einem hübschen Mädchen begeistert, und wenn er es dann auf der Leinwand sah, war er verzweifelt. Sie bewegten sich meist steif wie hölzerne Puppen, ohne Seele und Ausdrucksfähigkeit. Er kannte diese Frauen, die zu hübsch waren, um Geist zu besitzen, und die sich ihrer Schönheit zu bewußt waren, um sich noch natürlich bewegen zu können. Sie waren nur Puppen – ohne Seele und Verstand –, Statistinnen. Man konnte sie nur in der Menge auftreten lassen, mit schönen Kleidern, wo sie sich dann mit ihrem Allerweltslächeln mechanisch bewegten. Sie waren vom Schicksal eben zu Statistinnen bestimmt und konnten in ihrem ganzen Leben auch nichts anderes werden.

 

»Was gibt es?« fragte er unfreundlich.

 

»Könnte ich nicht eine Rolle in diesem Film bekommen, Mr. Knebworth?« fragte sie. Seine glattrasierte Oberlippe zog sich zusammen. »Ich denke, Sie haben eine Rolle, Miss – wie war gleich Ihr Name – Leamington, nicht wahr?«

 

»Gewiß spiele ich mit, aber nur im Hintergrund«, lächelte sie ihn an. »Ich verlange ja auch keine große Rolle. Aber ich bin sicher, daß ich mehr leisten könnte als an meiner jetzigen Stelle.«

 

»Ich bin davon überzeugt, daß Sie sich schließlich auch nicht schlechter ausnehmen werden als andere«, grollte er. »Nein, meine Liebe, es gibt für Sie keine Rolle. Es wird überhaupt nicht weiter gefilmt, wenn sich die Dinge nicht ändern. So liegt die Sache!«

 

Sie wandte sich zum Gehen, aber er rief sie noch einmal zurück.

 

»Sie sind vermutlich aus guten Verhältnissen weggelaufen?« fragte er. »Sie dachten, wenn man beim Film ist, verdient man eine Million Dollar im Jahr und kann sich jeden Donnerstag ein neues Auto kaufen? Oder Sie hatten eine gute Stellung als Stenotypistin und bildeten sich ein, daß Hollywood nur auf Sie gewartet hätte? Gehen Sie ruhig nach Hause und erzählen Sie Ihrem Vater die alte Geschichte, daß Sie nicht länger Stenotypistin bleiben wollen, weil man sich da zu Tode schindet!«

 

Ein schwaches Lächeln zeigte sich auf ihren Zügen.

 

»Ich bin nicht zum Film gegangen, weil ich verrückt nach der Bühne war – wenn Sie das etwa meinen sollten, Mr. Knebworth. Als ich hierher kam, war ich mir klar darüber, wie schwer man zu kämpfen hat. Ich habe keine Eltern mehr.«

 

Er schaute sie interessiert an.

 

»Wie bestreiten Sie denn Ihren Lebensunterhalt?« fragte er. »Als Statistin verdient man doch nicht genügend. Vielleicht wenn ich einer der Direktoren wäre, die Riesenfilme mit Wagenrennen veranstalten – und Millionen verschwenden! Aber Sie wissen ja, daß ich nicht soviel Geld zur Verfügung habe. Wenn ich einen Film drehe, dann genügen mir fünf Hauptrollen.«

 

»Ich habe etwas Zuschuß vom Vermögen meiner Mutter, und außerdem schreibe ich«, sagte das junge Mädchen schüchtern. Sie brach ab, als sie bemerkte, daß er nach dem Ateliereingang schaute, und drehte sich nach dorthin um. Eine merkwürdige Persönlichkeit stand dort. Zuerst vermutete sie einen Schauspieler, der zu einer Filmprobe kostümiert war.

 

Es war ein älterer Herr, aber sein aufrechter Gang und seine hohe Gestalt ließen ihn jünger erscheinen. Er trug einen knapp anliegenden Rock mit langen Schößen. Seine Hosen waren mit Lederbügeln an den Schuhen befestigt. Der hohe, steife Kragen und die schwarzseidene Halsbinde gehörten dem Schnitt nach der Vergangenheit an, aber sie waren funkelnagelneu. Seine weißen Leinenmanschetten lagen über den Handgelenken, und seine zweireihige Weste aus grauem Samt war mit goldenen Knöpfen verziert. Es machte ganz den Eindruck, als ob ein Familienporträt der fünfziger Jahre zum Leben erwacht wäre. In seiner behandschuhten Rechten hielt er einen großen Hut mit geschweifter, breiter Krempe, in der anderen einen Spazierstock mit goldenem Knauf. Sein tiefgefurchtes Gesicht hatte einen angenehmen, ruhigen und wohlwollenden Ausdruck. Es schien ihm nicht bewußt zu sein, daß seine Kleidung durchaus nicht mehr in diese Zeit paßte.

 

Jack Knebworth erhob sich schnell und ging dem Fremden entgegen.

 

»Mr. Longvale, ich freue mich sehr, Sie bei mir zu sehen – haben Sie meinen Brief bekommen? Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr Sie mich dadurch verpflichtet haben, daß Sie mir Ihr Haus überlassen wollen.«

 

Das Mädchen erkannte nun Mr. Sampson Longvale. Es war der Herr, der unten in Dower House wohnte. In ganz Chichester war er nur unter seinem Spitznamen »der altmodische Herr« bekannt. Als sie einmal Außenaufnahmen machten, zeigte ihr jemand das große, geräumige Haus mit dem verwilderten Garten und den schiefen Mauern, in dem er wohnte.

 

»Ich dachte, es wäre das beste, wenn ich Sie einmal besuchte«, sagte der Fremde mit wohlklingender Stimme.

 

Sie erinnerte sich nicht, jemals ein so klangvolles Organ gehört zu haben, und sah den merkwürdigen Mann mit großem Interesse an.

 

»Ich hoffe, daß das Haus und das Grundstück sich für Ihre Zwecke eignen werden. Ich fürchte nur, daß das Anwesen nicht sehr in Ordnung ist, aber ich kann den Besitz leider nicht in so gutem Zustand halten wie mein Großvater.«

 

»Das ist ja gerade das, was ich brauche, Mr. Longvale. Ich dachte schon, ich hätte Sie verletzt, als ich bat –«

 

Der alte Herr unterbrach ihn mit einem leisen Lachen.

 

»Nein, ich war durchaus nicht beleidigt. Sie brauchen ein Haus, in dem es spukt, und ich konnte Ihnen nun gerade ein solches anbieten. Aber ich kann Ihnen nicht versprechen, daß Sie der Geist meiner Ahnfrau nicht belästigen wird. In Dower House spukt es schon seit mehreren hundert Jahren. Einer meiner Vorfahren hat in einem Anfall von Wahnsinn seine Tochter ermordet, und man nimmt an, daß der Geist dieser unglücklichen Frau umgeht. Ich habe sie niemals zu Gesicht bekommen, aber vor einigen Jahren hat sie einer meiner Dienstboten gesehen. Ich habe mich von diesen Unannehmlichkeiten befreit, indem ich alle meine Dienstboten entließ«, fügte er lächelnd hinzu. »Aber wenn Sie eine Nacht dort zubringen wollen, wird es mir ein Vergnügen sein, fünf oder sechs Leute Ihrer Gesellschaft mit einzuladen.«

 

Knebworth seufzte erleichtert auf. Trotz eifrigen Bemühens hatte er in der Nähe keine Unterkunft für seine Leute finden können. Es lag ihm aber viel daran, Nachtaufnahmen zu machen, und gerade für eine Szene brauchte er das gespenstisch blasse Licht des Morgengrauens.

 

»Ich fürchte, das wird Ihnen zuviel Umstände machen, Mr. Longvale«, sagte er. »Wir müssen auch noch die schwierige Frage der Entschädigung –«

 

Der alte Herr brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen.

 

»Bitte, sprechen wir nicht vom Geld«, sagte er bestimmt. »Ich interessiere mich sehr für Filmaufnahmen. Ich beschäftige mich wirklich gern mit den modernsten Dingen. Im allgemeinen sind die alten Leute ja geneigt, die Fortschritte der Neuzeit abzulehnen, aber mir ist es ein großes Vergnügen, die Wunder der Wissenschaften, die uns die letzten Jahre gebracht haben, kennenzulernen.«

 

Bei diesen Worten schaute er den Direktor merkwürdig an.

 

»Einmal müssen Sie auch von mir eine Filmaufnahme machen, und zwar in einer Rolle, in der mich keiner übertreffen kann, wie ich glaube – nämlich als mein Vorfahre.«

 

Jack Knebworth starrte ihn halb belustigt, halb erschreckt an. Er hatte schon öfters die Erfahrung gemacht, daß sich Leute gern selbst auf der Leinwand sahen, aber er hätte doch niemals vermutet, daß Mr. Sampson Longvale auch diese kleine Eitelkeit besitzen würde.

 

»Ich werde mich freuen«, sagte er etwas kühl. »Ihre Familie ist ja sehr bekannt.«

 

Mr. Longvale seufzte.

 

»Zu meinem Bedauern stamme ich nicht von der Hauptlinie ab, zu der der bekannte Charles Henry Longvale gehört, der auch in der Geschichte eine Rolle gespielt hat. Er war mein Großonkel. Ich stamme von der Linie der Longvales ab, die in Bordeaux beheimatet ist. Aber auch sie haben sich hervorgetan.« Er schüttelte traurig den Kopf.

 

»Sind Sie Franzose?« fragte Knebworth.

 

Anscheinend hatte der alte Herr seine Frage nicht gehört. Er schaute starr auf eine Stelle und sagte dann plötzlich: »Ja, früher waren wir Franzosen. Mein Urgroßvater heiratete eine Engländerin, die er unter sonderbaren Umständen kennenlernte. Zur Zeit des Direktoriums kamen wir nach England.«

 

Erst jetzt schien er die junge Dame zu bemerken und machte eine Verbeugung vor ihr.

 

»Ich werde jetzt gehen«, sagte er, indem er eine große goldene Uhr aus der Tasche zog.

 

Helen Leamington beobachtete die beiden, als sie aus dem Atelier gingen. Gleich darauf sah sie, wie »der altmodische Herr« in einem vorsintflutlichen Auto am Fenster vorbeifuhr. Der Wagen mußte einer der ersten gewesen sein, die je nach England gekommen waren. Es war eine große, hoch gebaute, äußerst unhandliche Maschine, die unter furchtbarem Lärm gemächlich die Chaussee entlangfuhr.

 

Kurze Zeit später kam Jack Knebworth zurück.

 

»Alle sind verrückt darauf, gefilmt zu werden, ob sie alt sind oder jung«, brummte er. »Gute Nacht, Miss – ich habe schon wieder Ihren Namen vergessen – Leamington, nicht wahr? Gute Nacht!« Auf dem Heimweg stellte sie fest, daß diese Unterredung, die sie so mutig begonnen hatte, doch zu einem wenig befriedigenden Resultat für sie geführt hatte. Sie war genauso weit davon entfernt, eine Rolle zu bekommen, wie vorher.