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»Er ist wirklich tot«, sagte Jim, nachdem er sich in seinem Arbeitszimmer eine halbe Stunde mit der reglosen Gestalt abgemüht hatte.

 

Er hatte Marborne vollständig entkleidet und künstliche Atmung angewandt. Aber der Mann mußte einige Sekunden, bevor sie ihn auffanden, gestorben sein.

 

»Der Mörder hat zuverlässig gearbeitet, es muß sehr schnell gegangen sein. Sehen Sie einmal, bis auf die Haut ist er durchsucht worden. Hier hatte er sein Geheimnis verwahrt – er hat es direkt auf dem Körper getragen. Das ist ein alter Trick. Vorläufig können wir nichts anderes tun als die Ortspolizei alarmieren. Der Mörder muß sich über die Wiesen entfernt haben, denn er ist nicht durch das vordere Parktor gegangen. Vielleicht hält er sich in einem der kleinen Wälder auf, aber auch das ist sehr zweifelhaft. Morlake, Sie kennen doch hier die Gegend genau – welchen Weg könnte er eingeschlagen haben?«

 

»Das hängt ganz davon ab, ob auch er genau Bescheid wußte. Vermutlich hat er auf der Brücke den Fluß überschritten und ist dann am Ufer entlang zur Amdon Road gelaufen. Von dort aus kann er ein halb Dutzend verschiedene Wege eingeschlagen haben. Vielleicht finden Sie Spuren, wenn Sie einmal die Mauern besichtigen, die den Park umgeben.«

 

Aber hierin täuschte sich Jim.

 

Weder das Tageslicht noch die Polizei brachten den Mörder in ihre Hände. Nur eine Entdeckung machte man: Auf dem Weg am Fluß wurde ein gebogenes Messer gefunden, das der Verbrecher in der Eile hatte fallen lassen. Es ging deshalb an alle Polizeistationen im Umkreis von zwanzig Meilen der Befehl, nach einem Araber zu fahnden. Jim hatte diesen Rat gegeben, da er die Zusammenhänge vermutete.

 

Welling durchsuchte Marbornes Wohnung und besichtigte den Schauplatz des Kampfes. Tisch und Stühle lagen kreuz und quer übereinander. Er entdeckte auch den Scheinbrief, der an Marborne gerichtet war.

 

»Wahrscheinlich hat sich der Mörder unter diesem Vorwand Zutritt zur Wohnung verschafft«, erzählte er später Jim Morlake. »Marborne muß den Angriff wohl abgeschlagen haben – und aus diesem Grund kam er nachher zu Ihnen.«

 

»Aber warum ausgerechnet zu mir?«

 

»Er wollte Ihnen das Dokument verkaufen, mit dem er Hamon erpreßte. Bestimmt glaubte er, Hamon habe den Araber beauftragt, ihn zu beseitigen. Und Hamon ist auch sicher an diesem Mord beteiligt. Aber wieder haben wir nicht genug Beweismaterial gegen ihn in der Hand«, fügte er zweifelnd hinzu, »um eine Durchsuchung seiner Wohnung zu rechtfertigen.«

 

Welling schlug sein Hauptquartier in Wold House auf. Eine merkwürdige Wahl, dachte Hamon, als er in Jims Arbeitszimmer gerufen wurde. Er drückte auch seine Verwunderung hierüber aus.

 

»Das mag merkwürdig, vielleicht sogar tragisch sein«, erwiderte Welling, der nicht länger liebenswürdig und höflich war, »aber mir paßt dieser Ort, und deshalb muß er auch für Sie gut genug sein. Haben Sie die Nachricht schon gehört?«

 

»Sie meinen, daß Marborne getötet wurde? Ja, der arme Mensch!«

 

»Er war doch Ihr Freund?«

 

»Ich kannte ihn und kann sagen, daß er mein Freund war.«

 

»Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?«

 

»Ich habe ihn seit mehreren Tagen nicht mehr gesehen.«

 

»War Ihre letzte Unterredung mit ihm freundschaftlich?«

 

»Ja, er kam, um sich Geld zu leihen – er wollte ein eigenes Geschäft gründen.«

 

»Und Sie haben es ihm wahrscheinlich auch gegeben?« fragte Welling trocken. »Mit dieser Angabe wollen Sie wohl die finanziellen Transaktionen erklären?«

 

»Behaupten Sie, daß ich nicht die Wahrheit sage?«

 

»Ich behaupte sogar, daß Sie lügen«, erwiderte Welling kurz.

 

»Ich bin dabei, einen Mord aufzuklären. Sie gaben Marborne das Geld aus rein egoistischen Gründen. Er hatte ein Dokument in seinem Besitz, das Sie unter allen Umständen wiederhaben wollen, und da er es Ihnen nicht geben wollte, mußten Sie ihm eben große Summen zahlen.«

 

»Sie machen hier eine Feststellung, die nur vor Gericht erörtert werden könnte.«

 

»Das wird auch der Fall sein, wenn ich den Mörder fange«, sagte Welling grimmig.

 

»Ist Ihnen denn nicht aufgefallen«, erwiderte Hamon gehässig, »daß dieser Marborne ein Feind Morlakes war und daß man ihn ausgerechnet auf seinem Grundstück tot auffand?«

 

»Darüber habe ich schon die ganze Nacht nachgedacht. Unglücklicherweise – für Ihre Theorie – war Morlake in meiner Gesellschaft, als Marborne getötet wurde. Ist es übrigens wahr, daß Marborne Sie erpreßt hat? Geben Sie es ruhig zu, denn wir haben bereits genug Beweise dafür in der Hand. Auch Slone hat es durch seine Aussagen bestätigt.«

 

»Was Slone Ihnen erzählt hat, interessiert mich durchaus nicht. Ich kann nur wiederholen, daß dieser unglückliche Mann Geld von mir lieh, um ein eigenes Geschäft aufzumachen. Wenn Sie Beweise für das Gegenteil haben, dann lassen Sie es mich bitte wissen.«

 

Niemand wußte besser als Welling, daß solche Beweise nicht existierten. Sein Bluff hatte keinen Erfolg gehabt. Aber er war nicht besonders unglücklich darüber und ging sofort zu einem neuen Angriff über.

 

»Sie haben in letzter Zeit eine Anzahl von Code-Telegrammen nach Marokko geschickt – ich denke hauptsächlich an eins, das sich auf einen gewissen Ali Hassan bezog. Wer ist das?«

 

Wieder wurden Hamons Blicke ängstlich, aber es gelang ihm zu lächeln.

 

»Nun weiß ich auch, warum man Detektive fleißige Leute nennt«, meinte er. »Sie sind ja sehr tätig gewesen in der letzten Nacht. Ali Hassan ist eine maurische Zigarrenmarke.«

 

Er schaute auf Jim, der zur Bestätigung nickte.

 

»Das ist allerdings wahr, aber es ist auch der Name eines maurischen Mörders, der vor fünfundzwanzig Jahren hingerichtet wurde.«

 

»Dann wählen Sie bitte, was Ihnen besser gefällt«, sagte Hamon ironisch.

 

»Ist das hier nicht Ihre Handschrift?« Welling nahm von dem Tisch hinter sich ein Kuvert und hielt es Hamon hin.

 

»Nein«, sagte Ralph, ohne zu zögern.

 

»Marborne wurde von einem Araber getötet, den Sie zu diesem Zweck eigens kommen ließen.«

 

»Mit anderen Worten, ich bin an diesem Mord mitschuldig?«

 

Welling nickte.

 

»Wenn es nicht so außerordentlich komisch wäre, müßte ich ärgerlich sein. Unter diesen Umständen lehne ich es ab, noch irgendwelche Aussagen zu machen. Sie können mich zu nichts zwingen, niemand weiß das besser als Sie, Welling. Und ich werde Ihnen keine weitere Auskunft geben.«

 

Mit diesen Worten ging er.

 

»Er hat uns schon mehr gesagt, als er selbst ahnt«, bemerkte Welling, als sich die Tür hinter Hamon geschlossen hatte. »Wer ist aber Sadi Hafis?«

 

»Ein entsetzlich hinterlistiger Schuft, der in Tanger lebt«, sagte Jim rasch. »Ein skrupelloser Mann, außerordentlich nützlich für Leute wie Hamon und andere dunkle Geschäftsgründer, die vielversprechende Prospekte in die Welt hinaussenden wollen. Er ist ein Agent Hamons, ich kenne ihn schon seit vielen Jahren – wir haben nämlich eine kleine Schießerei miteinander gehabt, als ich damals beim Abstecken der beabsichtigten Fes-Eisenbahn beschäftigt war. Er bezieht sicher von einem halben Dutzend Interessenten Pensionen, und ich glaube, daß er mehr Verbrechen auf dem Gewissen hat als irgendein anderer Mann in Marokko.«

 

»Meinen Sie damit Mord?«

 

Jim lächelte.

 

»Ich sagte Ihnen doch eben: Verbrechen. Mord ist im Rifgebirge kein besonders schlimmes Vergehen.«

 

»Wenn wir diesen maurischen Burschen fangen, werden wir ja alles erfahren.«

 

»Der wird nicht das mindeste gegen Sadi Hafis aussagen. Die Scherife sind in gewisser Weise heilige Leute, und der Mörder wird sterben, ohne ein Wort zu sagen, das Sadi Hafis oder irgend jemanden sonst belasten könnte.« –

 

Durch Lord Creith erfuhr Welling später, daß Ralph Hamon am Morgen nach dem Mord mit der zweiten Post einen umfangreichen eingeschriebenen Brief erhalten hatte. Er zweifelte keinen Augenblick daran, daß das begehrte Dokument darin lag.

 

*

 

Joan benützte die erste Gelegenheit, die sich ihr bot, um ihren Vater um eine Aussprache zu bitten.

 

Er sah sie besorgt an.

 

»Was fehlt dir, Kind? Du bist sehr blaß.«

 

»Es geht mir gut, du brauchst dir keine Sorgen zu machen, aber du wirst wohl sehr böse auf mich sein –«

 

Er schüttelte den Kopf.

 

»Dazu gehört schon furchtbar viel, daß ich mit dir unzufrieden sein könnte, Joan«, sagte er und legte den Arm um ihre Schulter. Er führte sie zu einem Fenstersitz in der Bibliothek.

 

»Vater«, begann sie endlich leise, »ich habe Ferdie Farringdon geheiratet, als ich noch in der Schule war.«

 

Er zeigte keine Erregung.

 

»Oh, die Farringdons sind eine gute, alte Familie, nur sind sie leider dem Trunk verfallen«, meinte er ruhig.

 

Joan sank ihm schluchzend in die Arme.