Kapitel 7
7
Joan begab sich gleich in ihr Zimmer. Sie wollte nicht noch einmal mit dem Mann zusammentreffen, in dessen Augen sie vorhin die Abgründe menschlicher Leidenschaften entdeckt hatte. Sie fühlte sich körperlich krank, als sie sich die schrecklichen Augenblicke auf dem Rasen ins Gedächtnis zurückrief.
Müde setzte sie sich vor dem Spiegel nieder und ließ alle Eindrücke noch einmal an sich vorüberziehen. Hamons Enthüllungen über James Morlake hatten den größten Sturm der Entrüstung in ihr wachgerufen. Das konnte nicht wahr sein – und doch hätte Hamon nicht gewagt, eine derartige Anklage auszusprechen, wenn er keine Beweise dafür hatte.
Sie stand auf, öffnete eine der breiten Türen und trat auf den Steinbalkon über der Einfahrt hinaus. Grell leuchtende Blitze zerrissen den dunklen Nachthimmel. Sie hörte langhinrollende Donner, aber sie achtete nicht auf die düster drohenden Wolken. Aus der Ferne schimmerte ein schwaches, gelbliches Licht zu ihr herüber, das die Lage von Wold House anzeigte.
Wußte dieser sonderbare einsame Mann, daß man ihn verdächtigte? Mußte er nicht gewarnt werden? Sie wurde ungeduldig. Es war offenbar heller Wahnsinn, überhaupt an ihn zu denken. Sie kannte ihn nicht und hatte nur um sein ungewöhnlich anziehendes Gesicht allerhand phantastische Träume gesponnen. In der Nähe würden diese Illusionen sicher in nichts zerfließen. Und gerade jetzt wünschte sie das und haßte doch zugleich auch Hamon, weil er den ersten Argwohn in ihrem Herzen geweckt hatte.
Wenn dieser Mensch die Wahrheit gesprochen hatte, schwebte Morlake in unmittelbarer Gefahr. Und wenn Hamon gelogen hatte, so führte er doch bestimmt Böses gegen ihn im Schilde.
Mit schnellem Entschluß ging sie zum Schrank, nahm einen Regenmantel und einen Hut und legte beides auf ihr Bett.
In Creith House zog man sich bald zur Ruhe zurück, aber erst um halb elf hörte sie, wie Stephens die Haustür verschloß. Nach einer weiteren Viertelstunde lag das Haus in tiefem Schweigen.
Wieder trat sie auf den Balkon hinaus. Das Licht in Wold House brannte noch immer. Ohne Zögern nahm sie nun den Mantel über den Arm, den Hut in die Hand und schlich sich vorsichtig die breite Treppe zur Halle hinunter.
Der Hausschlüssel hing an der Wand. Er war groß und unhandlich, so daß sie ihn kaum in ihre Tasche stecken konnte. Sie schob die Riegel leise zurück und schloß die Tür auf.
Sie hatte keine Schwierigkeit, den Weg zu finden, denn die Blitze zuckten unaufhörlich am nächtlichen Himmel. Ihr Herz klopfte wild, als sie im Schatten der rauschenden Walnußbäume den Fahrweg entlangschritt. Bald befand sie sich auf der Hauptstraße.
Sie war doch eine Närrin, sentimental und verrückt, sie benahm sich wie ein romantisch veranlagtes Schulmädchen. Ihre Vernunft suchte sie zurückzuhalten, aber ein starkes Gefühl, das nichts mit Verstand oder Überlegung zu tun hatte, ein Instinkt, der stärker war als jede Hemmung, trieb sie vorwärts.
Was würden wohl die Nachbarn denken und sagen, wenn sie wüßten, daß sich Lady Joan Carston aufgemacht hatte, nachts einen amerikanischen Verbrecher zu warnen, der verhaftet werden sollte – einen Mann, den sie nicht einmal kannte und mit dem sie noch nie gesprochen hatte! Sie überdachte das alles mit kritischer Selbstironie.
Inzwischen war sie zu der hohen Ziegelmauer gekommen, die Wold House umgab. Nur mit Mühe fand sie die Klinke des schmiedeeisernen Tores und drückte sie nieder. Das Licht, das sie bis dahin im Haus gesehen hatte, erlosch plötzlich, und das Gebäude lag nun in vollkommener Dunkelheit vor ihr.
Sie hatte gerade einen Schritt auf das Haus zu getan, als sich, die Tür unerwartet öffnete. Ein breiter Lichtschein fiel auf den Weg, und im Rahmen der Haustür sah sie die Silhouette einer Männergestalt. Blitzschnell zog sie sich in den Schutz der Bäume zurück. Hinter dem Fremden tauchte James Morlake auf, der leise auf ihn einsprach. Mit einer gewissen Genugtuung erkannte sie, daß er eine warme, sympathische Stimme besaß.
»Fühlen Sie sich jetzt besser?« fragte Morlake.
»Ja, ich danke Ihnen.«
»Sie werden das Haus an der Straße sicher finden. Ich weiß nichts von einer Mrs. Cornford, aber ich glaube, daß neuerdings eine Dame dort wohnt.«
»Es ist ganz unangebracht und unpassend von mir, daß ich hierherkomme … aber ich bin vorhin eingekehrt … dieses schreckliche Gewitter drohte … ich fürchte, ich bin betrunken.«
»Das fürchte ich auch.«
Es war also Mrs. Cornfords Patient, der Trinker. Die beiden stiegen zusammen die Treppe herunter. Der jüngere Mann schwankte ein wenig, und Morlake stützte ihn.
»Ich bin Ihnen sehr verbunden – ganz gewiß –, mein Name ist Fairringdon – Ferdie Farringdon …«
Plötzlich sah Joan bei einem aufleuchtenden Blitz das hagere, unrasierte Gesicht des Mannes. Sie mußte sich auf die Lippen beißen, um einen Aufschrei zu unterdrücken, und sie klammerte sich entsetzt an einen Zweig des Lorbeerbusches, der sie deckte. Starr schaute sie den beiden nach, bis sie in der Dunkelheit verschwanden, und sie stand noch reglos, als James allein zurückkehrte.
Sie beobachtete ihn genau, als er in das Haus ging und die Tür schloß. Dann wartete sie noch einige Zeit. Große Regentropfen begannen zu fallen, und die Blitze leuchteten greller.
Die gespenstische Erscheinung des Betrunkenen mitten in der Nacht hatte sie furchtbar erschreckt, und sie dachte nicht länger daran, Morlake zu warnen. Unter Aufbietung all ihrer Kräfte riß sie sich zusammen und eilte den Fahrweg entlang.
Sie versuchte, die großen, eisernen Tore zu öffnen, aber zu ihrer Bestürzung blieben ihre Anstrengungen vergeblich. Morlake mußte zugeschlossen haben, nachdem er Farringdon auf den Weg gebracht hatte. Was sollte sie nun tun?
Vorsichtig schlich sie über den Rasen, doch auf dieser Seite war der Fluß. Sie wäre über die Mauer gestiegen, wenn sie nur eine Leiter hätte finden können.
Plötzlich öffnete sich die Haustür abermals, und Joan verbarg sich aufs neue im Schatten, als Morlake heraustrat. Er ging schnell den Pfad hinunter, und sie hörte, wie das Tor hinter ihm zuschlug. Sie eilte hin, er hatte nicht abgeschlossen. Mit einem Seufzer der Dankbarkeit und Erleichterung schlüpfte sie hinaus.
Nach wenigen Schritten war sie schon vollständig durchnäßt, denn der Regen strömte mit ungewöhnlicher Heftigkeit nieder. Das Rollen und Dröhnen des Donners betäubte sie, und das anhaltende Wetterleuchten und Blitzen blendete ihre Augen. Aber sie kämpfte sich vorwärts, und schließlich konnte sie die Tore von Creith House sehen. Sie fühlte in ihrer durchnäßten Handtasche nach dem Schlüssel und stellte zu ihrer Beruhigung fest, daß sie ihn noch bei sich hatte.
Schnell durcheilte sie die Allee und war beinahe am Ziel, als sie entsetzt stehenblieb. Ihre Augen öffneten sich weit. Dicht vor sich sah sie im Licht der Blitze die Gestalt eines schwarzgekleideten Mannes, der bewegungslos mitten auf dem Weg stand. Sie konnte sein Gesicht unter dem breiten Rand des weichen Filzhutes nicht erkennen.
»Wer sind Sie?« fragte sie mit zitternder Stimme.
Bevor er antworten konnte, war plötzlich alles in Helligkeit getaucht, und ein furchtbarer Donnerschlag folgte unmittelbar. Joan wurde fortgeschleudert.
Einen Augenblick war der Mann starr vor Schrecken, dann sprang er mit einem unterdrückten Ausruf vorwärts, hob sie auf und trug sie von dem brennenden Baum fort. In einem der Fenster des Herrenhauses erschien Licht. Die Bewohner waren erwacht – der große, brennende Walnußbaum mußte sie bald ins Freie locken.
Der Mann schaute sich um und entdeckte eine Gruppe von Rhododendronsträuchern. Er konnte das bewußtlose Mädchen gerade noch hinter dieses Gebüsch tragen, bevor der Butler heraustrat.
Der Fremde wußte nicht, wer Joan war. Er hielt sie für ein Dienstmädchen, das verspätet aus dem Dorf zurückkam, und er nahm sich auch nicht die Mühe, sie genauer zu betrachten. Dadurch wäre er wahrscheinlich auch nicht klüger geworden, denn Joans Gesicht war mit weicher Erde beschmutzt, in die sie glücklicherweise gefallen war.
Sie kam bald wieder zu sich, öffnete die Augen und sah verzweifelt um sich. Jemand hielt ihren Kopf auf den Knien, ihr Gesicht war naß, und über ihr bewegten sich Zweige und Äste – wie mochte sie wohl hierhergekommen sein?
»Ich glaube, es wird Ihnen bald wieder bessergehen.«
Sie erkannte Jim Morlakes Stimme und starrte ihn betroffen an.
»Was ist denn geschehen?« fragte sie. Dann entdeckte sie den schwelenden Baum und zitterte. Der Blitz hatte dort eingeschlagen, und nur durch ein Wunder war sie entkommen.
»Ich danke Ihnen so sehr –« begann sie, als der Himmel wieder grell aufleuchtete.
In dem hellen Schein sah sie, daß Morlakes Gesicht von den Augenbrauen bis zum Kinn von einer schwarzseidenen Maske verhüllt war …