Kapitel 7

 

7

 

Joan begab sich gleich in ihr Zimmer. Sie wollte nicht noch einmal mit dem Mann zusammentreffen, in dessen Augen sie vorhin die Abgründe menschlicher Leidenschaften entdeckt hatte. Sie fühlte sich körperlich krank, als sie sich die schrecklichen Augenblicke auf dem Rasen ins Gedächtnis zurückrief.

 

Müde setzte sie sich vor dem Spiegel nieder und ließ alle Eindrücke noch einmal an sich vorüberziehen. Hamons Enthüllungen über James Morlake hatten den größten Sturm der Entrüstung in ihr wachgerufen. Das konnte nicht wahr sein – und doch hätte Hamon nicht gewagt, eine derartige Anklage auszusprechen, wenn er keine Beweise dafür hatte.

 

Sie stand auf, öffnete eine der breiten Türen und trat auf den Steinbalkon über der Einfahrt hinaus. Grell leuchtende Blitze zerrissen den dunklen Nachthimmel. Sie hörte langhinrollende Donner, aber sie achtete nicht auf die düster drohenden Wolken. Aus der Ferne schimmerte ein schwaches, gelbliches Licht zu ihr herüber, das die Lage von Wold House anzeigte.

 

Wußte dieser sonderbare einsame Mann, daß man ihn verdächtigte? Mußte er nicht gewarnt werden? Sie wurde ungeduldig. Es war offenbar heller Wahnsinn, überhaupt an ihn zu denken. Sie kannte ihn nicht und hatte nur um sein ungewöhnlich anziehendes Gesicht allerhand phantastische Träume gesponnen. In der Nähe würden diese Illusionen sicher in nichts zerfließen. Und gerade jetzt wünschte sie das und haßte doch zugleich auch Hamon, weil er den ersten Argwohn in ihrem Herzen geweckt hatte.

 

Wenn dieser Mensch die Wahrheit gesprochen hatte, schwebte Morlake in unmittelbarer Gefahr. Und wenn Hamon gelogen hatte, so führte er doch bestimmt Böses gegen ihn im Schilde.

 

Mit schnellem Entschluß ging sie zum Schrank, nahm einen Regenmantel und einen Hut und legte beides auf ihr Bett.

 

In Creith House zog man sich bald zur Ruhe zurück, aber erst um halb elf hörte sie, wie Stephens die Haustür verschloß. Nach einer weiteren Viertelstunde lag das Haus in tiefem Schweigen.

 

Wieder trat sie auf den Balkon hinaus. Das Licht in Wold House brannte noch immer. Ohne Zögern nahm sie nun den Mantel über den Arm, den Hut in die Hand und schlich sich vorsichtig die breite Treppe zur Halle hinunter.

 

Der Hausschlüssel hing an der Wand. Er war groß und unhandlich, so daß sie ihn kaum in ihre Tasche stecken konnte. Sie schob die Riegel leise zurück und schloß die Tür auf.

 

Sie hatte keine Schwierigkeit, den Weg zu finden, denn die Blitze zuckten unaufhörlich am nächtlichen Himmel. Ihr Herz klopfte wild, als sie im Schatten der rauschenden Walnußbäume den Fahrweg entlangschritt. Bald befand sie sich auf der Hauptstraße.

 

Sie war doch eine Närrin, sentimental und verrückt, sie benahm sich wie ein romantisch veranlagtes Schulmädchen. Ihre Vernunft suchte sie zurückzuhalten, aber ein starkes Gefühl, das nichts mit Verstand oder Überlegung zu tun hatte, ein Instinkt, der stärker war als jede Hemmung, trieb sie vorwärts.

 

Was würden wohl die Nachbarn denken und sagen, wenn sie wüßten, daß sich Lady Joan Carston aufgemacht hatte, nachts einen amerikanischen Verbrecher zu warnen, der verhaftet werden sollte – einen Mann, den sie nicht einmal kannte und mit dem sie noch nie gesprochen hatte! Sie überdachte das alles mit kritischer Selbstironie.

 

Inzwischen war sie zu der hohen Ziegelmauer gekommen, die Wold House umgab. Nur mit Mühe fand sie die Klinke des schmiedeeisernen Tores und drückte sie nieder. Das Licht, das sie bis dahin im Haus gesehen hatte, erlosch plötzlich, und das Gebäude lag nun in vollkommener Dunkelheit vor ihr.

 

Sie hatte gerade einen Schritt auf das Haus zu getan, als sich, die Tür unerwartet öffnete. Ein breiter Lichtschein fiel auf den Weg, und im Rahmen der Haustür sah sie die Silhouette einer Männergestalt. Blitzschnell zog sie sich in den Schutz der Bäume zurück. Hinter dem Fremden tauchte James Morlake auf, der leise auf ihn einsprach. Mit einer gewissen Genugtuung erkannte sie, daß er eine warme, sympathische Stimme besaß.

 

»Fühlen Sie sich jetzt besser?« fragte Morlake.

 

»Ja, ich danke Ihnen.«

 

»Sie werden das Haus an der Straße sicher finden. Ich weiß nichts von einer Mrs. Cornford, aber ich glaube, daß neuerdings eine Dame dort wohnt.«

 

»Es ist ganz unangebracht und unpassend von mir, daß ich hierherkomme … aber ich bin vorhin eingekehrt … dieses schreckliche Gewitter drohte … ich fürchte, ich bin betrunken.«

 

»Das fürchte ich auch.«

 

Es war also Mrs. Cornfords Patient, der Trinker. Die beiden stiegen zusammen die Treppe herunter. Der jüngere Mann schwankte ein wenig, und Morlake stützte ihn.

 

»Ich bin Ihnen sehr verbunden – ganz gewiß –, mein Name ist Fairringdon – Ferdie Farringdon …«

 

Plötzlich sah Joan bei einem aufleuchtenden Blitz das hagere, unrasierte Gesicht des Mannes. Sie mußte sich auf die Lippen beißen, um einen Aufschrei zu unterdrücken, und sie klammerte sich entsetzt an einen Zweig des Lorbeerbusches, der sie deckte. Starr schaute sie den beiden nach, bis sie in der Dunkelheit verschwanden, und sie stand noch reglos, als James allein zurückkehrte.

 

Sie beobachtete ihn genau, als er in das Haus ging und die Tür schloß. Dann wartete sie noch einige Zeit. Große Regentropfen begannen zu fallen, und die Blitze leuchteten greller.

 

Die gespenstische Erscheinung des Betrunkenen mitten in der Nacht hatte sie furchtbar erschreckt, und sie dachte nicht länger daran, Morlake zu warnen. Unter Aufbietung all ihrer Kräfte riß sie sich zusammen und eilte den Fahrweg entlang.

 

Sie versuchte, die großen, eisernen Tore zu öffnen, aber zu ihrer Bestürzung blieben ihre Anstrengungen vergeblich. Morlake mußte zugeschlossen haben, nachdem er Farringdon auf den Weg gebracht hatte. Was sollte sie nun tun?

 

Vorsichtig schlich sie über den Rasen, doch auf dieser Seite war der Fluß. Sie wäre über die Mauer gestiegen, wenn sie nur eine Leiter hätte finden können.

 

Plötzlich öffnete sich die Haustür abermals, und Joan verbarg sich aufs neue im Schatten, als Morlake heraustrat. Er ging schnell den Pfad hinunter, und sie hörte, wie das Tor hinter ihm zuschlug. Sie eilte hin, er hatte nicht abgeschlossen. Mit einem Seufzer der Dankbarkeit und Erleichterung schlüpfte sie hinaus.

 

Nach wenigen Schritten war sie schon vollständig durchnäßt, denn der Regen strömte mit ungewöhnlicher Heftigkeit nieder. Das Rollen und Dröhnen des Donners betäubte sie, und das anhaltende Wetterleuchten und Blitzen blendete ihre Augen. Aber sie kämpfte sich vorwärts, und schließlich konnte sie die Tore von Creith House sehen. Sie fühlte in ihrer durchnäßten Handtasche nach dem Schlüssel und stellte zu ihrer Beruhigung fest, daß sie ihn noch bei sich hatte.

 

Schnell durcheilte sie die Allee und war beinahe am Ziel, als sie entsetzt stehenblieb. Ihre Augen öffneten sich weit. Dicht vor sich sah sie im Licht der Blitze die Gestalt eines schwarzgekleideten Mannes, der bewegungslos mitten auf dem Weg stand. Sie konnte sein Gesicht unter dem breiten Rand des weichen Filzhutes nicht erkennen.

 

»Wer sind Sie?« fragte sie mit zitternder Stimme.

 

Bevor er antworten konnte, war plötzlich alles in Helligkeit getaucht, und ein furchtbarer Donnerschlag folgte unmittelbar. Joan wurde fortgeschleudert.

 

Einen Augenblick war der Mann starr vor Schrecken, dann sprang er mit einem unterdrückten Ausruf vorwärts, hob sie auf und trug sie von dem brennenden Baum fort. In einem der Fenster des Herrenhauses erschien Licht. Die Bewohner waren erwacht – der große, brennende Walnußbaum mußte sie bald ins Freie locken.

 

Der Mann schaute sich um und entdeckte eine Gruppe von Rhododendronsträuchern. Er konnte das bewußtlose Mädchen gerade noch hinter dieses Gebüsch tragen, bevor der Butler heraustrat.

 

Der Fremde wußte nicht, wer Joan war. Er hielt sie für ein Dienstmädchen, das verspätet aus dem Dorf zurückkam, und er nahm sich auch nicht die Mühe, sie genauer zu betrachten. Dadurch wäre er wahrscheinlich auch nicht klüger geworden, denn Joans Gesicht war mit weicher Erde beschmutzt, in die sie glücklicherweise gefallen war.

 

Sie kam bald wieder zu sich, öffnete die Augen und sah verzweifelt um sich. Jemand hielt ihren Kopf auf den Knien, ihr Gesicht war naß, und über ihr bewegten sich Zweige und Äste – wie mochte sie wohl hierhergekommen sein?

 

»Ich glaube, es wird Ihnen bald wieder bessergehen.«

 

Sie erkannte Jim Morlakes Stimme und starrte ihn betroffen an.

 

»Was ist denn geschehen?« fragte sie. Dann entdeckte sie den schwelenden Baum und zitterte. Der Blitz hatte dort eingeschlagen, und nur durch ein Wunder war sie entkommen.

 

»Ich danke Ihnen so sehr –« begann sie, als der Himmel wieder grell aufleuchtete.

 

In dem hellen Schein sah sie, daß Morlakes Gesicht von den Augenbrauen bis zum Kinn von einer schwarzseidenen Maske verhüllt war …

 

Kapitel 8

8

»Es ist also doch wahr – wirklich wahr«, sagte sie atemlos. Er hörte das Entsetzen in ihrer Stimme und schaute auf sie nieder. »Was soll wahr sein? Aber bitte sprechen Sie nicht zu laut, man wird Sie hören.« Sie versuchte, die Herrschaft über sich wiederzugewinnen. »Sie sind ein Einbrecher«, sagte sie endlich. »Glauben Sie … etwa wegen der Maske? Aber eine Maske macht noch keinen Einbrecher, so wenig wie eine Schwalbe einen Sommer macht. In einer so feuchten Nacht wie dieser muß sich ein Mann, der auf seinen Teint hält, natürlich gegen die Witterung schützen …« »Ach, machen Sie doch jetzt nicht so dumme Scherze!« Gleich darauf wurde ihr klar, daß ihre Entrüstung nicht mit ihrer hilflosen Lage in Einklang stand. Sie lag auf dem feuchten Gras, ihr Gesicht … Sie hoffte, daß er es nicht sehen konnte, und wischte heimlich den dicken Lehm mit einem Zipfel ihres Regenmantels ab, den sie trotz des Unwetters in ihrer Aufregung über dem Arm getragen hatte. »Würden Sie so liebenswürdig sein, mir aufzuhelfen?« Er neigte sich über sie und hob sie ohne jede Anstrengung auf. »Wohnen Sie im Herrenhaus?« fragte er höflich. »Ja, ich wohne dort. Sind Sie … waren Sie im Begriff, hier einzubrechen?« Er lachte leise: »Sie würden es mir ja doch nicht glauben, daß ich kein Einbrecher bin –« »Also sind Sie – ein Dieb?« »Ja, das bin ich.« Sie wäre bitter enttäuscht gewesen, wenn er etwas anderes gesagt hätte. Ein Räuber und Einbrecher mochte er sein – aber daß er ein Lügner gewesen wäre, hätte sie nicht ertragen. »Bei uns gibt es nichts zu rauben, Mr. –« sie brach plötzlich ab. Ob er wohl wußte, daß sie ihn erkannt hatte? »Nun, Mr. –?« wiederholte er und wartete auf den Namen. »Sie sagten doch vorhin: ›Es ist also doch wahr‹ – meinten Sie damit, daß ich ein Einbrecher sei? Erwarteten Sie denn heute abend einen solchen Besuch?« »Ja«, erwiderte sie ohne die geringsten Gewissensbisse. »Mr. Hamon sagte, daß bei uns eingebrochen werden könnte.« Es war freie Erfindung von ihr, aber sie hatte nicht gedacht, daß ihre Worte so großen Eindruck auf ihn machen würden. »Ach, Sie sind zu Besuch hier? Ich bitte Sie vielmals um Verzeihung – ich dachte, Sie seien … nun ja, ich wußte nicht genau, was ich aus Ihnen machen sollte. Sehen Sie doch bitte einmal nach dem Hause hin.« »Warum denn?« »Bitte –« Sie gehorchte und wandte ihm den Rücken. Es kam eben ein Mann heraus und näherte sich dem brennenden Baum. Er trug eine Sturmlaterne in der Hand und kam nur zögernd näher. »Das ist Stephens«, sagte sie und drehte sich wieder um. Aber sie war allein, der Mann mit der schwarzen Maske war verschwunden. In der allgemeinen Aufregung gelang es ihr, unbemerkt nach oben in ihr Zimmer zu kommen. Sie war Frau genug, vor allem ihre äußere Erscheinung in Ordnung zu bringen, und erst als sie ein Bad genommen hatte und in ihrem Bett lag, dachte sie wieder an ihr Abenteuer. Nun hast du deine Illusionen wohl endlich verloren, Joan Carston, sagte sie ernüchtert zu sich. Dein Wunderprinz ist ein Einbrecher, und für Einbrecher kannst du dich doch nur interessieren, wenn du krankhaft bist. Laß es dir eine Lektion sein und benimm dich in Zukunft wieder vernünftig. Nach diesem Selbstgespräch stand sie auf und schaute zwischen den großen Baumgruppen des Parks nach Wold House hinüber. Das schwache Licht brannte – Mr. Morlake war heimgegangen. Sie seufzte dankbar und legte sich wieder hin.

Kapitel 9

 

9

 

Joan kam am nächsten Morgen frühzeitig herunter, denn sie wollte mit dem Frühstück fertig sein, bevor Mr. Hamon aufstand. Sie hatte ihre Mahlzeit auch beinahe beendet, als er in das Zimmer stürzte. Sein Anblick war jedoch nichts weniger als gesellschaftsfähig. Er trug nur Strümpfe, eine Hose, von der die Träger herabhingen, und eine lebhaft gestreifte Pyjamajacke. Außerdem war er nicht rasiert, und Wut und Ärger entstellten seine Züge.

 

»Wo ist Stephens?« rief er wild. Aber plötzlich erkannte er, daß weder sein Ton noch seine äußere Erscheinung den Regeln des Anstands entsprachen, und er wurde sehr höflich. »Entschuldigen Sie bitte, Lady Joan, aber ich bin furchtbar aufgeregt – ich bin bestohlen worden!«

 

Sie schaute ihn mit großen Augen an.

 

»Hat man Ihnen vielleicht die Schuhe oder den Rock weggenommen?« fragte sie ironisch.

 

Er wurde rot.

 

»Ich entdeckte es gerade im Augenblick – ich meine den Diebstahl. In der vergangenen Nacht ist jemand in mein Zimmer eingebrochen und hat meine Brieftasche mit dreitausend Pfund gestohlen – das kann kein anderer gewesen sein als dieser Hund – dieser Morlake! Ich habe diesem Schwein auch noch eine Chance gegeben –«

 

»Es ist sehr schade, daß der Einbrecher nicht auch Ihren Wortschatz gestohlen hat«, erwiderte sie kühl.

 

Sie war durchaus nicht so gleichgültig, wie sie vorgab. Morlake war also doch zurückgekommen!

 

Sie hatte sich durch den Lichtschein in dem Zimmer von Wold House irreführen lassen. Aber vielleicht war James Morlake auch gar nicht dafür verantwortlich? Nach den etwas verworrenen Angaben Hamons, den Aussagen Stephens‘ und den Überlegungen ihres Vaters war offensichtlich in den frühen Morgenstunden irgendein Unbekannter durch eines der Fenster eingedrungen und hatte unter dem Kopfkissen Ralph Hamons eine Brieftasche entwendet, die etwa drei- bis viertausend Pfund enthielt. Auch hatte er sich den Scherz erlaubt, den Revolver, der auf einem Tisch an Hamons Bett lag, zu entladen.

 

»Also, mein Lieber«, sagte Lord Creith, der durch die dauernde Wiederholung der Geschichte und die Aufzählung der Einzelheiten gelangweilt wurde, »es ist doch das Einfachste von der Welt, wenn Sie sich an die allerdings etwas langsame Polizei wenden und der alles berichten. Die Leute sind unten im Garten und trampeln meine Blumenbeete kaputt. Die interessieren sich viel mehr als ich dafür, daß Sie Mr. Morlake im Verdacht haben. Als Ortsvorsteher werde ich gern den Haftbefehl gegen ihn unterschreiben oder, was in diesem Fall bedeutend wichtiger wäre, sein Haus durchsuchen lassen. Wenn er Ihr Geld gestohlen hat, wird man es ja auch bei ihm finden.«

 

»Nein, das möchte ich nicht«, entgegnete Hamon etwas kleinlaut. »Ich habe keine Beweise.«

 

»Aber Sie haben doch behauptet, daß die Polizei ihn dauernd beobachtet«, mischte sich Joan in die Unterhaltung. Sie erkannte jedoch sofort, daß ihre Bemerkung vielleicht dazu beitragen könnte, den Dieb zu fangen, und es lief ihr heiß und kalt den Rücken hinunter.

 

»Mein Freund, Inspektor Marborne, überwacht ihn seit Jahren. Nein, ich will diesen Fall nicht der Ortspolizei übergeben, die würde die ganze Sache verpfuschen. Außerdem ist ein Mann wie Morlake viel zu schlau, das gestohlene Geld in seinem Haus aufzubewahren. Ich gehe später hin und spreche selbst mit ihm.«

 

Er sah böse zu Joan hinüber, als sie lachte.

 

»Es tut mir leid«, entschuldigte sie sich, »aber das klingt mir doch sehr komisch, daß der Bestohlene selbst mit dem Dieb verhandelt. Wollen Sie das tatsächlich tun?«

 

»Auf alle Fälle war es grenzenlos töricht, so viel Geld in der Tasche herumzuschleppen«, mischte sich Lord Creith ein. »Dreitausend Pfund bringt man auf die Bank, mein Lieber! Wozu gibt es denn Safes und Stahlkammern?« Er schaute auf die Uhr. »In einer halben Stunde fahre ich in die Stadt. Leider kann ich Sie nicht einladen, mitzukommen, weil in meinem Auto nur zwei Personen Platz haben.«

 

»Ach, Sie fahren in die Stadt?« fragte Hamon enttäuscht. »Ich dachte, Sie würden den Rest der Woche noch hier verbringen.«

 

»Ich habe es Ihnen doch schon am Montag gesagt«, erwiderte der Lord, obgleich das nicht stimmte. »Bei Tattersall ist morgen eine große Auktion, bei der ich zugegen sein will, und Joan muß zu ihrem Zahnarzt … Wenn es Ihnen beliebt, können Sie ruhig hierbleiben, ich möchte Sie in Ihren Plänen durchaus nicht stören.«

 

»Wann kommen Sie zurück?«

 

»Wahrscheinlich in einem Monat.«

 

Ralph Hamon überlegte sich, daß es auch für ihn besser war, in die Stadt zu fahren. Er bemerkte, daß sein Wagen groß genug sei, alle mitzunehmen, aber man achtete nicht auf seinen Vorschlag.

 

»Die Sache hätten wir nun also glücklich hinter uns«, meinte Lord Creith mit einem Seufzer der Erleichterung, als sein Auto durch das Tor auf die Hauptstraße fuhr. »Hamon ist ja sonst eine ganz hervorragende Persönlichkeit, aber er fällt mir doch auf die Nerven.«

 

Kapitel 51

 

51

 

Sadi wartete im Rauchsalon auf Hamon und war so in Gedanken vertieft, daß er ihn erst hörte, als er angerufen wurde.

 

»Allah! Sie haben mir aber einen Schrecken eingejagt!« fuhr er auf. »O ja, das ist eine sehr schöne Frau – wenn auch nicht gerade das, was wir Mauren lieben, etwas zu dünn für meinen Geschmack.«

 

Hamon ließ sich nicht täuschen. Joan hatte großen Eindruck auf Sadi gemacht.

 

»Gehen Sie morgen nach Tanger zurück?« fragte Hamon und kniff die Augenlider zusammen, als Sadi den Kopf schüttelte.

 

»Nein, ich habe mich entschlossen, noch ein wenig hierzubleiben. Ich habe auch einmal einen kleinen Luftwechsel nötig – die letzte Zeit war sehr anstrengend für mich.«

 

»Aber Sie versprachen doch, Bannockwaite herzubringen?«

 

»Ich habe einem meiner Leute den Auftrag gegeben, ihn herzuschaffen. Ihr englischer Vertreter hätte das übrigens auch besorgen können! Dieser Bannockwaite kommt unter allen Umständen, wenn Sie ihn dafür bezahlen!«

 

»Kennen Sie ihn eigentlich genauer?«

 

»Ich habe ihn schon gesehen – er ist eine charakteristische Gestalt in Tanger geworden«, entgegnete Sadi Hafis. »Er kam während des Krieges zu uns. Ich habe gehört, daß er sich am Abend der großen Schlacht an der Somme betrank und dann desertierte. Aber Sie haben mir doch erzählt, daß er kein Geistlicher mehr ist und aus Ihrer Kirche ausgestoßen wurde.«

 

»Sein Name stand im Verzeichnis der Geistlichen, bis er nach der Schlacht an der Somme als vermißt gemeldet wurde. Ich glaube, daß er noch eingetragen ist, aber selbst wenn das nicht der Fall sein sollte, würde das der Eheschließung nicht schaden, die er vorgenommen hat.«

 

»Aber – warum wollen Sie denn überhaupt heiraten? Sie hängen noch zu sehr an den alten Gebräuchen, mein Freund.«

 

Ralph lächelte.

 

»Das ist nicht so schlimm, wie Sie denken. Ich habe aber meine Gründe dafür. Der Titel der Familie Creith wird durch meine Frau auch auf deren Kinder vererbt.«

 

»Verrückter Gedanke! All diese unmöglichen Dinge sind ja an Ihrem Zusammenbruch schuld, Hamon.«

 

»Was reden Sie da von Zusammenbruch?« fragte Hamon.

 

»Wenn es noch nicht soweit ist, wird es sicher nicht mehr lange dauern. Es sei denn, Sie ziehen es vor, hier in Marokko zu bleiben, jenseits der Grenze, wo europäische Gesetze gelten.« Er streckte die Arme aus und gähnte. »Ich gehe zu Bett. Und es wird Sie vielleicht freuen, daß ich mich jetzt doch entschieden habe, morgen früh nach Tanger zurückzureiten.«

 

Sadi sah die Genugtuung in Hamons Blick und freute sich.

 

»Ich werde Ihnen Bannockwaite unter Bedeckung herschicken.«

 

Als Hamon am nächsten Morgen erwachte, erfuhr er, daß der Scherif tatsächlich aufgebrochen war. Er ließ Joan allein, obgleich er sah, daß sie im Garten spazierenging.

 

Am Abend berichtete ihm ein Diener, daß sich eine Reisegesellschaft dem Haus näherte. Hamon nahm seinen Feldstecher und beobachtete die drei Männer, die quer durch das Land dahergaloppierten. Zwei waren Mauren, und den dritten, der im Sattel hin und her taumelte, als ob er betrunken sei, erkannte er sogleich wieder.

 

Hastig eilte er aus dem Haus und wartete an der offenen Tür, bis Reverend Aylmer Bannockwaite ankam.

 

Der Mann wäre beinahe vom Pferd gefallen, aber seine Begleiter sprangen ab und eilten an seine Seite.

 

Bannockwaite wandte sein blutunterlaufenes Gesicht Hamon zu, übersah dessen ausgestreckte Hand, zog ein Monokel aus seiner Westentasche und klemmte es ins Auge.

 

»Wer sind Sie und was wollen Sie?« fragte er gereizt. »Sie haben mich quer durch dieses verfluchte Land schleppen lassen und mich in meiner Ruhe gestört – zum Teufel, was wollen Sie von mir?«

 

»Es tut mir sehr leid, wenn ich Ihnen Unannehmlichkeiten bereitet habe, Mr. Bannockwaite«, erklärte Ralph höflich.

 

»Sehr nett gesagt.«

 

Eine große fleischige Hand drückte schwach Hamons Rechte.

 

»Sehr schön gesagt, mein Junge. Also, wenn Sie mich jetzt ein wenig ausruhen lassen und ich später eine Pfeife Hanf rauchen kann, um meine Nerven zu beruhigen, bin ich Ihr Freund. Und wenn Sie mir dann noch etwas von dem köstlichen Marsala zu trinken geben und mir eine blumige Zigarre anbieten, bin ich Ihr Sklave mit Leib und Seele!«

 

Joan hatte von ihrem Fenster aus die heruntergekommene Gestalt beobachtet und vermutete sofort, wer es war. Was war aus diesem schlanken, großen Mann mit dem asketischen Gesicht geworden! Sie hatte ihn nur zweimal gesehen, aber sie wußte bestimmt, daß er es war. Etwas an seinem Gang, an seinen Bewegungen erinnerte sie an früher. Sie starrte ihm nach, bis sie ihn nicht mehr sehen konnte. Dann setzte sie sich hin, hielt den Kopf in den Händen und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen.

 

Dann war er also nicht gestorben! Der wählerische, halbverrückte Pastor, der Abgott der Schule von Hulston, der Gründer dieser absurden Geheimgesellschaften kam nun in Schmutz und Lumpen daher.

 

Wie mochte Ralph Hamon ihn gefunden haben? Bannockwaite würde sie trauen, das wußte sie. Diese merkwürdige Situation mußte ihn so fesseln, daß er keinen Augenblick zögern würde, Hamons Auftrag auszuführen.

 

Ralph erschien auch am Abend nicht bei ihr, obgleich sie erwartet hatte, daß er den heruntergekommenen Geistlichen zu ihr bringen würde. Ihr Schlafzimmer stieß an den großen Wohnsalon und war geräumig und luftig. Gegen Mitternacht kleidete sie sich aus und hüllte sich in den langen Mantel aus weicher Seide, den ihr die junge Araberin gebracht hatte. Sie zog einen Stuhl ans Fenster, löschte das Licht und schob die Vorhänge zurück. Aber plötzlich schrie sie laut auf und wäre beinahe vor Schreck zusammengebrochen, denn durch die Eisengitter starrte ein Gesicht mit langem Bart, einer großen Hakennase und rot unterlaufenen Augen zu ihr herein. Es war der Bettler. Das lange Messer, das er in den Händen hielt, blitzte im Mondlicht auf.

 

Kapitel 52

 

52

 

Er hörte den Schrei und verschwand schnell nach unten, so daß Joan ihn nicht mehr sehen konnte. Sie sprang auf und hielt sich am Fensterbrett fest. Ihr Herz schlug wild. Wer mochte er sein, und was wollte er von ihr? Im Haus herrschte tiefes Schweigen. Niemand hatte sie gehört, denn die Mauern waren sehr stark.

 

Es kostete sie einige Überwindung, hinauszuschauen, soweit es ihr das Eisengitter gestattete. Der kleine Garten lag friedlich und geheimnisvoll im Mondschein vor ihr, und lange Schatten fielen quer über den Boden. Merkwürdige Gestalten schienen aufzutauchen und wieder zu verschwinden. Dann sah sie den Mann, der sich vorsichtig zur Mauer schlich. Im nächsten Augenblick war er außer Sicht.

 

Warum brachte sie nur diesen mitternächtlichen Vagabunden mit Sadi Hafis in Verbindung? War er irgendein Agent oder Beauftragter des schlauen Arabers?

 

Der Tag graute schon, als sie sich niederlegte, und als sie spät am Vormittag erwachte, blieb ihr keine Zeit, über ihr nächtliches Erlebnis nachzudenken. Kaum hatte sie sich angezogen und ihr Frühstück beendet, als Ralph eintrat. Er war lebhaft und begrüßte sie mit strahlendem Lächeln.

 

»Joan, ich möchte Sie bitten, jetzt Reverend Aylmer Bannockwaite zu empfangen. Sie werden ihn allerdings sehr verändert finden. Er hat zugestimmt, die Trauung vorzunehmen, die hoffentlich der Beginn einer neuen und schönen Zeit für uns beide ist.«

 

»Wann wollen Sie denn –«

 

»Noch heute.«

 

Entsetzt sah sie ihn an.

 

»Sie müssen mir Zeit lassen, Mr. Hamon! Morgen –«

 

»Heute«, bestand er. »Ich will nicht noch einen weiteren Tag verlieren. Ich kenne meinen Freund Sadi Hafis. Er hat genug Respekt vor dem Gesetz und der Heiligkeit der Ehe, um sich nicht an Sie heranzuwagen, wenn Sie verheiratet sind. Aber wenn ich bis morgen warte –«

 

Feste Entschlossenheit prägte sich plötzlich in ihren Zügen aus.

 

»Ich lehne es ein für allemal ab, Sie zu heiraten. Und wenn Mr. Bannockwaite nur noch einen Funken von Ehrgefühl hat, wird er diese Schandtat nicht begehen.«

 

»Bannockwaite hat wirklich nicht mehr das geringste Ehrgefühl. Empfangen Sie ihn jetzt. Er ist augenblicklich in gehobener Stimmung, und man kommt so besser mit ihm aus.«

 

Bei Tageslicht erschien Aylmer Bannockwaite noch schrecklicher als in der Dämmerung. Er zitterte, und Joan hatte den Eindruck, daß ein Teufel in menschlicher Gestalt in den Raum trete, als er auf sie zukam und ihr seine plumpe Hand entgegenstreckte.

 

»Ach, sehen Sie, das ist ja mein liebes, nettes Carstonmädel«, sagte er aufgeräumt. »Ein sehr hübscher Zufall, daß ich Sie zum zweitenmal trauen soll. Ein ganz besonderer Vorzug.«

 

Sie schauderte.

 

»Ich will nicht heiraten, Mr. Bannockwaite! Ich mache Sie ausdrücklich darauf aufmerksam, daß es gegen meinen Willen geschieht, wenn Sie mich trauen.«

 

»Na, na, nun seien Sie doch nicht empfindlich!« rief er laut. »Das habe ich noch nie gehört – eine Braut, die sich ziert! Die Ehe ist doch der natürliche Stand für den Menschen. Ich habe stets bedauert, daß ich –«

 

»Sie sind ein gemeiner, niederträchtiger Mensch«, rief sie empört.

 

Seine Unterlippe schob sich vor, und er schaute sie wütend an.

 

»Ich werde Sie trauen, und wenn ich dafür gehenkt werden sollte!« schrie er wild. »Und die Trauung, die ich vollziehe, ist gesetzmäßig und bindend!«

 

Hamon ergriff ihn am Arm.

 

»Ruhig, ruhig«, sagte er und klopfte ihm begütigend auf die Schulter. Dann wandte er sich zu Joan. »Was hat es denn für einen Zweck, sich zu sträuben? Bei Ihrer ersten Trauung war er doch auch gut genug.«

 

»Ich will Sie nicht heiraten, und ich werde Sie nicht heiraten!« Sie stampfte mit dem Fuß auf. »Eher würde ich den Bettler heiraten, den ich draußen auf der Straße sah, oder den niedersten Sklaven in Ihrem Haus, als einen Dieb und einen Mörder – einen Mann, dem kein Verbrechen zu gemein ist! Ich würde eher noch einen –«

 

»Einbrecher nehmen!« Hamon schäumte vor Wut.

 

»Ja! Zehntausendmal lieber als Sie, wenn Sie Jim Morlake meinen!«

 

»Sie sollen Ihren Willen haben!« zischte er, lief aus dem Zimmer und ließ sie mit dem heruntergekommenen Menschen allein.

 

»Wie können Sie sich so weit erniedrigen?« fragte sie ihn. »Ist denn nichts Gutes mehr in Ihnen, an das man sich wenden könnte?«

 

»Ich brauche keine Predigten, von Ihnen schon gar nicht«, sagte er mit einem Fluch. »Ich werde Ihnen begreiflich machen, daß ich Ihnen an Verstand über bin und gesellschaftlich gleichgestellt –«

 

»Moralisch sind Sie der Staub an meinen Füßen!« rief sie zornig.

 

»An Verstand bin ich Ihnen überlegen, und gesellschaftlich stehe ich Ihnen gleich«, wiederholte er. »Und ich bin erhaben über Ihre Beleidigungen.«

 

Plötzlich stürzte Hamon wieder herein. Mit Entsetzen sah Joan, daß er den Bettler hinter sich herzog, den grinsenden, zahnlosen, unterwürfigen Greis.

 

»Da haben Sie Ihren Mann!« schrie er. »Schauen Sie ihn nur an – Sie wollten doch eher einen Bettler heiraten als mich! Haben Sie das nicht eben gesagt? Nun gut, Sie sollen ihn heiraten und Ihre Flitterwochen in der Wüste verbringen! Nehmen Sie Ihr Ritualbuch, Bannockwaite!« brüllte er. Schaum trat vor seinen Mund; er hatte jede Beherrschung verloren.

 

Bannockwaite zog ein kleines Buch aus der Tasche und öffnete es.

 

»Wir brauchen Zeugen«, sagte er dann.

 

Hamon stürmte wieder hinaus und kam mit einem halben Dutzend Diener zurück.

 

Unter den neugierigen Blicken der kichernden Araber wurde Lady Joan Carston mit Abdul Aziz vermählt. Hamon flüsterte den Leuten auf arabisch etwas zu, dann wurde Joan am Arm ergriffen und in den Garten gebracht.

 

Hamon selbst schleppte sie an das offene Tor und stieß Joan und den Bettler mit solcher Heftigkeit hinaus, daß sie beinahe gefallen wären.

 

»So, nun nimm deinen Mann mit nach Creith!« schrie er höhnisch. »Beim Teufel, du wirst noch froh sein, wenn du zu mir zurückkehren darfst!«

 

Kapitel 53

 

53

 

Joan versuchte zu gehen, taumelte und riß sich noch einmal zusammen, aber dann verlor sie das Bewußtsein.

 

Als sie wieder zu sich kam, lag sie unter dem Schatten eines großen Wacholderstrauches. Ihr Gesicht und ihr Hals waren angefeuchtet, und ein Gefäß mit Wasser stand an ihrer Seite. Aber der alte Bettler war verschwunden. Erst als sie sich auf die Ellbogen stützte, sah sie, daß er sich mit seinem unscheinbaren, häßlichen Pferd beschäftigte. Was sollte sie tun? Unsicher richtete sie sich auf und schaute sich entsetzt um. Ein Entkommen war unmöglich.

 

Fernab im Tal entdeckte sie eine Staubwolke. Mehrere Reiter näherten sich, und als sie ihre Augen anstrengte, erkannte sie weiße Arabergewänder. Stahl und Waffen blitzten in der Sonne. Es waren Mauren – wahrscheinlich kehrte Sadi Hafis zurück. Von dieser Seite aus würde ihr keine Hilfe kommen.

 

Wieder schaute sie zu dem Bettler hinüber. Der Alte wickelte eben seinen Kopf und den größten Teil seines Gesichtes in einen Turban von Lumpen, bis nur noch sein eisgrauer Bart und die Spitze seiner roten Hakennase sichtbar waren.

 

Dann kam er auf sie zu und führte das Pferd herbei. Sie gehorchte seinem Wink ohne Widerrede und stieg in den Sattel. Als er vorwärtsschritt, hielt er die Hand am Zügel, und sie merkte, daß er einen Weg einschlug, der von der Hauptstraße nach Tanger in rechtem Winkel abbog. Mehrere Male schaute er zurück, zuerst nach dem Haus, dann nach den schnellen Reitern, die man jetzt deutlich erkennen konnte. Es war Sadi, der an der Spitze der Schar ritt. Alle waren bewaffnet, jeder der Männer hatte ein Gewehr über der Schulter hängen.

 

Plötzlich änderte der Bettler die Richtung und führte das Pferd einen Hügel hinunter zu einer Stelle, die man vom Garten aus nicht mehr sehen konnte. Mehrmals blickte er sich um. Anscheinend fürchtete er, daß Hamon zur Vernunft kommen und seinen Wahnsinn bereuen würde. Schließlich führte er das Pferd in das Bett eines kleinen Baches und ließ es im Wasser gehen. Dann hörte sie einen Schuß, gleich darauf einen zweiten. Das Echo kam von den Hügeln zurück. Ängstlich schaute sie auf den alten Mann.

 

»Was war das?« fragte sie auf spanisch.

 

Er schüttelte nur den Kopf.

 

Wieder fiel ein Schuß. Jetzt vermutete Joan den Grund. Wahrscheinlich wollten die Leute auf diese Weise die Aufmerksamkeit des Bettlers erregen und ihn zurückrufen. Er dachte wohl dasselbe, denn er schlug mit den Zügeln auf den Hals des Tieres, das in leichten Trab fiel. Der Alte selbst rannte dicht neben seinem Pferd her.

 

Nach einer Weile kamen sie zu einem kleinen Gehölz, wo er das Tier versteckte. Er gab ihr ein Zeichen, zu warten, und ging zu Fuß zurück. Erst nach einer halben Stunde kam er wieder, reichte ihr die Hand und hob sie aus dem Sattel. Sie schloß die Augen, um sein Gesicht nicht sehen zu müssen. Nach einiger Zeit brachte er ihr Wasser vom Fluß und öffnete ein kleines Bündel, in dem er Nahrungsmittel mit sich führte. Aber sie trank nur gierig das frische Wasser. Auch war sie so erschöpft, daß sie willenlos auf die Lumpen sank, die er für sie ausbreitete. Sie vergaß, daß das Schicksal sie zur Frau eines Bettlers gemacht hatte, und fiel in tiefen, traumlosen Schlaf.

 

*

 

Ralph Hamon kauerte in einem Sessel und fühlte sich elend und krank. Die Erregung und Wut, die ihn zu dieser Wahnsinnstat getrieben hatten, waren verraucht, und er zitterte nun an allen Gliedern. Von seinem Fenster aus konnte er sehen, wie der Bettler Joan die Hügel hinunterführte. Er sprang auf. Der Fehler mußte so schnell als möglich wieder gutgemacht werden.

 

Er rief einen alten, treuen Diener zu sich.

 

»Ahab, du kennst doch den Bettler, der auf dem Pferd reitet?«

 

»Ja, Herr.«

 

»Er hat die Frau, die meinem Herzen nahesteht, mit sich genommen. Geh und bringe sie mir zurück – dem Alten aber gib dieses Geld.«

 

Er nahm einige Banknoten aus der Tasche und gab sie ihm.

 

»Wenn er dir Widerstand leistet, töte ihn!«

 

Ralph stieg ins oberste Geschoß hinauf, um von dort aus seinen Boten zu überwachen. Dabei entdeckte er die Reiter, die auf dem gewundenen Weg den Hügel heraufkamen.

 

»Sadi«, murmelte er und wußte, was dieser Besuch zu bedeuten hatte.

 

Es war zu spät, den Boten zurückzurufen, und er eilte ans Tor, um seinen ehemaligen Agenten zu begrüßen. Sadi Hafis sprang aus dem Sattel. Sein Ton und seine Miene hatten sich vollkommen geändert. Er war nicht länger der höfliche, gewandte Zögling der Missionsschule, sondern ein anmaßender arabischer Häuptling.

 

»Sie wissen, warum ich gekommen bin«, sagte er und stemmte die Hände in die Hüften. »Wo ist sie? Ich will sie haben! Ich vermute, daß Sie noch nicht verheiratet sind – und selbst wenn Sie es sein sollten, macht mir das wenig aus.«

 

»Ich bin nicht verheiratet. Aber sie ist nicht mehr hier.«

 

»Was soll das heißen?«

 

»Sie sagte, lieber als mich würde sie den alten Bettler heiraten, der sie am Weg um Almosen bat – ich habe ihren Wunsch erfüllt.«

 

Sadis Augen wurden klein.

 

»Vor einer halben Stunde wurden sie getraut, sie sind jetzt in der Wüste.« Hamon zeigte mit einer Handbewegung über das Land.

 

»Sie lügen!« rief Sadi. »Mit solchen Geschichten können Sie mich nicht täuschen! Ich werde Ihr Haus durchsuchen, wie Morlake das meine durchsucht hat!«

 

Hinter Sadi standen zwanzig bewaffnete Leute.

 

»Es steht Ihnen frei, das Haus vom Harem bis zur Küche zu durchsuchen.« Hamon wußte gut genug, daß er machtlos war.

 

Aber Sadi konnte unmöglich eine gründliche Untersuchung vorgenommen haben, denn er kam kurz darauf schon wieder zurück.

 

»Ich habe mit Ihren Dienern gesprochen. Sie haben mir erzählt, daß Sie die Wahrheit sagten. Welchen Weg sind sie gegangen?«

 

Hamon zeigte ihm die Richtung, und Sadi gab seinen Leuten einen Befehl. Einer der Reiter feuerte in die Luft. Ein zweiter und dritter Schuß folgten.

 

»Wenn er daraufhin nicht zurückkommt, ziehen wir aus und suchen ihn«, rief Sadi grimmig.

 

Ralph zuckte die Schultern.

 

»Sie können tun, was Sie wollen. Mein Interesse an der Dame ist erloschen.«

 

Es war nicht die Wahrheit, aber sein Benehmen täuschte den Mauren.

 

»Sie waren ein Narr, sie gehen zu lassen«, erwiderte er etwas freundlicher.

 

»Wenn ich sie vorhin nicht hätte gehen lassen, so würden Sie mich wahrscheinlich jetzt dazu überredet haben.«

 

Sadis hinterlistiges Lächeln bestätigte Hamons Argwohn.

 

Eine Minute später ritten die Mauren den Hügel hinunter und zerstreuten sich nach rechts und links, um die Spur des Bettlers und der Frau zu finden.

 

Als Joan erwachte, sah sie in die dunklen Augen Sadis, der auf sie niederschaute.

 

»Wo ist Ihr Freund?« fragte er und bückte sich, um ihr aufzuhelfen.

 

Sie war noch kaum zu sich gekommen.

 

»Mein Freund – meinen Sie etwa Abdul?«

 

»Ach, Sie kennen seinen Namen?« fragte er höflich.

 

»Was wollen Sie von mir?«

 

»Ich will Sie nach Tanger zu Ihren Freunden bringen.«

 

Sie wußte, daß er log.

 

Als sie sich umblickte, sah sie nichts mehr von dem Bettler, nur das Pferd graste unter dem Baum. Sadi befahl einem Mann, das Tier zu holen, und half ihr in den Sattel.

 

»Ich war sehr beunruhigt«, sagte er in bestem Englisch, »als unser Freund Hamon mir die Dummheit erzählte, die er begangen hatte. Manchmal ist er nicht recht bei Verstand – ich bin sehr böse auf ihn. Lieben Sie Marokko, Lady Joan?«

 

»Nicht besonders.«

 

Er lachte vor sich hin.

 

»Das dachte ich mir.« Bewundernd schaute er zu ihr auf. »Wie gut Ihnen das maurische Kostüm steht! Man könnte denken, daß es besonders für Sie entworfen worden sei!«

 

Er ging an ihrer Seite, ein anderer Mann führte das Pferd.

 

Nach einer Weile kamen sie zu der Stelle zurück, wo die übrigen Leute seiner Gefolgschaft warteten. Sie saßen am Ufer und stiegen auf seinen Wink zu Pferd.

 

»Vielleicht ist es ganz gut, daß ich Ihren Mann nicht getroffen habe«, sagte Sadi bedeutungsvoll. »Hoffentlich hat er Ihnen keine Ursache zur Klage gegeben.«

 

Sie war nicht in der Stimmung, sich mit ihm zu unterhalten, und antwortete nur kurz.

 

Es wurde keine Zeit verloren. Gleich darauf saß sie auf einem schönen Zelter, der offensichtlich schon für sie mitgebracht worden war. Auch wenn sie Ralph Hamon geheiratet hätte, würde sie jetzt auf diesem Pferd durch die Wüste reiten, denn Sadi Hafis war gekommen, um sie mit sich nach seinem kleinen Haus in der Talsenke zu nehmen, gleich, ob sie verheiratet war oder nicht.

 

Er ritt fast den ganzen Tag an ihrer Seite und sprach sehr liebenswürdig von Menschen und Dingen, so daß sie über seine Bildung und seine umfassenden Kenntnisse erstaunt war.

 

»Ich war Hamons Agent in Tanger – Sie hatten wahrscheinlich den Eindruck, daß ich ein besserer Diener sei. Aber es gefiel mir, für ihn tätig zu sein. Er kennt weder Gewissensbisse noch Dankbarkeit.«

 

Vor Sonnenuntergang hielten sie an und schlugen ein Lager auf. Trotz der Kälte der Nacht bereiteten sich die Männer vor, im Freien zu schlafen, und hüllten sich in ihre wollenen Mäntel ein. Aber für Joan errichteten sie an der geschützten Stelle ein Zelt, das von einem Packpferd getragen worden war.

 

»Wir wollen bis Mitternacht hier rasten«, sagte Sadi. »Ich muß mein Ziel noch vor Tagesanbruch erreichen.«

 

Sie lag wach, lauschte auf jedes Geräusch und beobachtete den Schatten der rauchenden Feuer. Allmählich verstummten die Stimmen, nur ab und zu wieherte noch ein Pferd. Sie schaute auf ihre Armbanduhr – es war neun. Noch drei Stunden blieben ihr zur Flucht.

 

Sie zog den Vorhang des kleinen Zeltes beiseite, schaute hinaus und sah eine dunkle Gestalt. Vermutlich war es eine Wache. Auf dieser Seite konnte sie also nicht entkommen. Sie versuchte, den Zeltstoff an der Rückseite zu heben, aber er war mit Pflöcken in der Erde befestigt. Sie steckte ihre Hand durch, faßte den Zeltstock und bemühte sich, ihn mit aller Kraft herauszuziehen. Endlich gelang es ihr, und sie schlüpfte vorsichtig hinaus.

 

Gerade vor ihr lagen undurchdringliche Dornbüsche. Sie kroch an der Außenseite des Zeltes herum. Ihr weißes Kleid mußte sie sofort verraten, wenn die Wache den Kopf wandte. Aber sie fand doch eine Öffnung im Unterholz und kroch hindurch. Als der Wächter das Krachen der Zweige hörte, drehte er sich um und rief einige arabische Worte.

 

Nun sprang sie auf und lief vorwärts, so schnell sie konnte. Zuerst sah sie kaum auf Armlänge vor sich, rannte gegen einen Baum und fiel hin. Aber gleich darauf war sie wieder auf den Füßen. Der Mond ging eben auf, und sie sah, daß sie sieh auf einer Ebene befand, die mit Sträuchern bestanden war. Doch auch ihre Verfolger konnten sie jetzt erkennen.

 

Sofort war das ganze Lager in Aufruhr. Sie hörte Schreie und die aufgeregte Stimme Sadis, der selbst hinter ihr herritt. Sie wußte es, ohne sich umgesehen zu haben. Entsetzen trieb sie vorwärts, dennoch konnte sie nicht hoffen, zu entkommen. Immer näher kam er an sie heran, bis sie die Hufe des Pferdes dicht neben sich hörte. Der Reiter schnitt ihr den Weg ab.

 

»Oh, meine kleine Rose«, sagte er höflich, »das ist nicht der Weg zum Glück.«

 

Er streckte die Hand aus, packte sie am Mantel, sprang vom Pferd und nahm sie in die Arme.

 

»Diese Nacht will ich leben!« rief er heiser.

 

»Diese Nacht wirst du sterben!« erwiderte plötzlich eine helle, klare Stimme.

 

Sadi wandte sich blitzschnell um und griff in die Falten seines Gewandes, als er den Bettler vor sich sah.

 

Joan Carston starrte verstört auf das Gesicht des Alten, denn sie hatte eben Jim Morlakes Stimme gehört!

 

Kapitel 54

 

54

 

Zwei Schüsse fielen zu gleicher Zeit. Sadi Hafis stürzte mit einem Schrei in die Knie und brach zusammen.

 

»Schnell aufs Pferd!« sagte Jim und hob Joan in den Sattel.

 

In der nächsten Sekunde hatte er sich hinter sie geschwungen. Das starke Tier holte weit aus, obwohl es doppelte Last zu tragen hatte. Jim schaute über die Schulter zurück und sah, daß Sadis Gefolgsleute anhielten, um ihrem gefallenen Häuptling zu helfen.

 

»Zehn Minuten Vorsprung! Wenn wir Glück haben, entkommen wir ihnen!«

 

Er überließ die Richtung dem Pferd, das die Gegend genau kannte und dessen Augen in der Dunkelheit etwaige Hindernisse erkennen konnten. Von den Verfolgern war noch nichts zu sehen, aber Jim gab sich keinen falschen Hoffnungen hin. Wenn Sadi Hafis noch imstande war, einen Befehl zu geben, würden seine Leute bald hinter ihnen her sein.

 

Nachdem sie eine Stunde geritten wären, merkte Jim, daß das Pferd müde wurde. Er sprang ab und klopfte ihm die Mähne.

 

»Hier an der Küste war früher ein Wachthaus«, sagte er. »Aber ich weiß nicht, ob uns eine maurische Wache freundlicher gesinnt ist als Sadi Hafis.«

 

Sie schaute auf ihn nieder und versuchte, in den häßlichen Zügen eine Spur von dem Gesicht zu entdecken, das ihr so lieb und vertraut war.

 

»Bist du es wirklich, Jim?«

 

»Ja, natürlich!« erwiderte er lachend. »Ist meine Maske nicht gut? Es ist die alte Verkleidung, die ich früher immer trug. Wenn Sadi nur den Verstand eines Kaninchens gehabt hätte, würde er sich daran erinnert haben. Die Nase ist allerdings die größte Schwierigkeit, denn das Wachs wird in der Sonne warm und muß immer wieder nachmodelliert werden. Das andere ist dafür sehr einfach.«

 

»Aber du hast ja keine Zähne«, sagte sie, als sie die schwarze Höhle in seinem Mund sah.

 

»Doch, sie sind alle noch an ihrer Stelle! Eine Zahnbürste entfernt die Schwärze wieder.«

 

Vor Tagesanbruch hielten sie in der Nähe eines Baches, sattelten das Pferd ab und gaben ihm zu trinken.

 

»Ich fürchte, ich kann dir nichts zu essen anbieten«, sagte Jim. »Das einzige, was ich tun kann –«

 

Er streifte den Fellab ab, löste das schmutzige Hemd ein wenig, zog einen kleinen, wasserdichten Beutel hervor und ging zu dem naheliegenden kleinen Bach. Er ging als alter, häßlicher Mann und kam als Jim Morlake wieder zurück.

 

»Ich glaube, ich träume«, sagte sie leise. »Und wenn ich aufwache –« Sie zitterte.

 

»Du warst noch nie so wach wie in diesem Augenblick. Wir sind zwei Meilen von der Küste entfernt, und wenn Sadi nicht sehr dringliche Befehle gegeben hat, folgen seine Leute uns nicht bis hierher.«

 

Jims Vermutung war richtig. Sie sahen nichts mehr von den Verfolgern und erreichten das kleine Gebäude. Es stand unter dem Befehl eines spanischen Offiziers.

 

»Von hier aus müssen wir nun an der Küste entlangreiten und versuchen durchzukommen«, sagte Jim, nachdem er mit dem Offizier gesprochen hatte. »Die Spanier können uns nicht begleiten, denn die Franzosen sind eifersüchtig darauf bedacht, daß sie die Grenze nicht überschreiten. Aber ich glaube nicht, daß wir noch einmal belästigt werden.«

 

Am Abend schlugen sie an der Küste ein Lager auf und sahen die Lichter von Tanger beinahe vor sich. Jim hatte von dem spanischen Posten Tücher und Decken geliehen und breitete sie unter den Ruinen eines alten maurischen Wachthauses aus. Dann zog er sich zurück, um Wache zu halten.

 

Als Joan sich zum Schlafen niedergelegt hatte, dachte sie darüber nach, ob die Trauung wohl gesetzlich und bindend gewesen war, und sie hoffte mit aller Inbrunst, daß es so sein möchte.

 

Kapitel 55

 

55

 

Die Leute brachten Sadi Hafis zu Hamons Haus auf dem Hügel zurück. Die Reise war lang für einen Mann, der eine Kugel in der Schulter hatte.

 

»Allah! Dieses Schwein!« stöhnte der Maure. »Wenn sich die Pistole nicht in den Falten meines Mantels verfangen hätte, würde der Kerl jetzt in der Hölle sein!«

 

Hamon schickte nach Frauen, die die Wunde untersuchten und verbanden.

 

»Es ist nichts«, sagte Sadi rauh. »Als er mich das letztemal anschoß, war die Sache schlimmer.«

 

»Sprechen Sie von dem Bettler?« fragte Hamon erstaunt.

 

»Natürlich!«

 

»Ich hätte nie gedacht, daß er Ihnen etwas anhaben könnte. Er ist doch alt und schwach. Und Sie haben mir auch nicht gesagt, daß Sie ihn kannten.«

 

»Ich wußte es selbst bis zum letzten Augenblick nicht, aber dieser Morlake ist ein alter Feind von mir.«

 

Hamon zuckte zusammen.

 

»Sie sprachen doch eben noch von dem Bettler«, erwiderte er und runzelte die Stirn. »Ich bin so aufgeregt heute nacht – Sie meinten doch den alten Bettler Abdul?«

 

»Ich spreche von Morlake«, stieß Sadi zwischen den Zähnen hervor, »den Sie heute morgen so voreilig mit einer Frau verheirateten!«

 

Hamon starrte ihn fassungslos an.

 

»Das verstehe ich nicht. Der Bettler war Morlake? Aber – er war doch ein alter Mann!«

 

»Wenn ich nicht die Augen eines Mondkalbes gehabt hätte«, entgegnete Sadi bitter, »dann hätte ich gleich sehen müssen, daß es Morlake war. Schon früher bevorzugte er diese Verkleidung, als er hier noch im diplomatischen Dienst tätig war.«

 

Hamon ließ sich verstört auf dem Diwan nieder.

 

»Der Bettler war also Morlake – und ich habe die beiden verheiratet!«

 

Er brach in ein hysterisches Lachen aus, aber allmählich beruhigte er sich wieder.

 

»Er haßt Sie!« sagte Sadi nach einem langen Schweigen. »Was steckt eigentlich hinter der ganzen Geschichte?«

 

»Er will ein Schriftstück haben, das in meinem Besitz ist – das ist alles.«

 

Das aufgeregte, rote Gesicht Hamons und der nervöse Ton seiner Stimme weckten Sadis Verdacht. Ob Hamon getrunken hatte?

 

»Sie denken, ich bin betrunken«, meinte Hamon, als ob er Sadis Gedanken gelesen hätte. »Aber das stimmt nicht.«

 

Plötzlich ging er aus dem Zimmer und ließ Sadi allein. Der Scherif dachte über alle Möglichkeiten nach. Hamon mußte verschwinden, entschied er kaltblütig. Wenn es wahr wäre, daß ein englischer Detektiv in Tanger Nachforschungen nach ihm anstellte, dann sollte er auch seine Beute erhalten. Nur auf diese Weise konnte sich Sadi rächen. Hamon war ja auch keine große Einnahmequelle mehr für ihn.

 

Kurz nach Sonnenaufgang stand Sadi auf, um seinen Gastgeber aufzusuchen. Hamon hielt sich in dem Zimmer auf, das Joan innegehabt hatte. Er schlief, sein Kopf ruhte über den gefalteten Armen auf der Tischplatte. Neben ihm lag eine offene Brieftasche mit vielen Papieren. Sadi untersuchte sie leise. Er fand ein halbes Dutzend noch nicht eingelöster Schecks und ein viermal zusammengefaltetes Blatt. Begierig griff er danach und las.

 

›Ich bin zu der Ansicht gekommen, daß Ralph Hamon, den ich für meinen Freund hielt, mich töten will. Er hält mich augenblicklich in einem kleinen Haus in der Nähe von Hindhead gefangen. Auf seinen Rat begleitete ich ihn nach Marokko, um dort eine Mine zu besichtigen, die ich für sein Eigentum hielt. Wir kehrten auf seinen Wunsch heimlich nach London zurück, weil niemand erfahren sollte, daß er seinen Anteil an der Mine verkaufen wollte. Ich hatte den Verdacht, daß die Mine, die er mir als die seine zeigte, in Wirklichkeit nichts mit ihm und seinen Unternehmungen zu tun hatte, kam nach Hindhead und wollte erst dann zahlen, wenn sich mein Argwohn als unbegründet erwiesen hatte. Ich habe eine Vorsichtsmaßregel ergriffen, die ich für sehr wirksam halte. In Hindhead wurde mein Verdacht bestätigt, und ich weigerte mich deshalb, das Geld zu zahlen. Darauf schloß mich Hamon in der Küche ein und ließ mich von einem Araber bewachen, den er von seiner letzten Reise aus Tanger mitgebracht hatte. Sie haben bereits versucht, mich umzubringen, und ich fürchte, das nächstemal –‹

 

Hier endete das Schreiben plötzlich. Aber als Sadi das Blatt umwandte, weiteten sich seine Augen. Die Anklage stand auf der Rückseite einer Tratte auf die Bank von England in Höhe von hunderttausend Pfund …

 

Hamon erwachte, während Sadi noch las.

 

»Geben Sie mir mein Eigentum zurück, wenn Sie fertig sind«, sagte er.

 

Der Maure zeigte nicht die geringste Verlegenheit und legte das Schriftstück wieder auf den Tisch.

 

»Jetzt weiß ich Bescheid. Ich wunderte mich schon immer, warum Sie in so großer Unruhe waren. Sie sind doch ein Narr – das Dokument bringt Sie noch an den Galgen –, warum verbrennen Sie es denn nicht?«

 

»Weil ich es brauche – ich muß es behalten«, erwiderte Ralph und steckte die Brieftasche wütend ein.

 

Gegen Abend sah er, daß einer von Sadis Leuten sein Pferd bestieg und ein anderes am Zaum führte. Das konnte nur eins bedeuten. Dieser Bote sollte so schnell wie möglich nach Tanger reiten. Er nahm ein zweites Pferd mit, um unterwegs wechseln zu können. Und er konnte nur einen bestimmten Auftrag haben.

 

Ralph Hamon lachte leise vor sich hin. Aus irgendeinem Grunde bereitete ihm diese Entdeckung unendliches Vergnügen. Sadi Hafis wollte also auf seine Kosten die eigene Haut retten. In zwei Tagen, vielleicht schon morgen, konnten der Befehl und die Vollmacht von dem Vertreter des Sultans kommen, und er, Ralph Hamon, würde dann von dem Mann verhaftet werden, mit dem er so eng befreundet gewesen war. Sadi würde ihn nach Tanger bringen und dem Gericht ausliefern.

 

Er ging hinters Haus und rief seinen Stallmeister zu sich.

 

»Ich werde heute nacht eine Reise machen, aber sie muß geheim bleiben. Du bringst mein und dein Pferd an den Bach, wo er die Straße kreuzt. Wir reiten zur Küste und gehen später auf spanisches Gebiet über. Du bekommst zweitausend Peseten von mir, wenn du schweigst. Bist du einverstanden?«

 

»O Herr, du hast meinen Mund mit Goldfäden zugenäht«, sagte der Mann.

 

Hamon speiste mit Sadi zu Abend.

 

Von der kleinen Uhr im Wohnzimmer schlug es Mitternacht, als Hamon in Reitanzug und dickem Mantel die Treppe hinunterstieg. Er trug Gummischuhe über den Stiefeln und schlich sich geräuschlos zu Sadis Schlafraum. Leise klinkte er die Tür auf und lauschte, bis er den regelmäßigen Atem des Schlafenden hörte. Dann zog er ein langes, gerades Messer aus der Tasche und trat in das Zimmer ein, in dem nur eine Kerze brannte. Er blieb ein paar Minuten dort, dann löschte er das Licht und verließ den Raum wieder.

 

Er ritt zwei Stunden in scharfem Trab, dann hielt er an, und sein Diener bereitete ein Mahl. Hamon saß am Feuer.

 

»O Herr, ich sehe Blut an deinem Ärmel und an deinen Händen!« rief sein Begleiter plötzlich erregt.

 

»Das ist nichts!« erwiderte Hamon ruhig. »Am Abend wollte mich ein Hund beißen. Ich habe ihn getötet.«

 

Kapitel 56

 

56

 

Eine Flut von Sonnenlicht ergoß sich über Tanger, und die Oberfläche des Meeres erschien wie schimmerndes Gold. Aber die beiden älteren Herren, die an dem Geländer der Hotelterrasse lehnten, sahen nichts von dieser Schönheit.

 

»Keine neuen Nachrichten?« fragte Welling.

 

Lord Creith schüttelte den Kopf, und seine Blicke wanderten zu der prachtvollen Yacht hinüber, die im Hafen vor Anker lag.

 

»Wollen Sie hier warten, bis Sie etwas hören?«

 

»Das muß ich wohl tun«, sagte der Lord niedergeschlagen. »Und was beabsichtigen Sie?«

 

»Meine Arbeit hier ist eigentlich beendet. Ich wollte die ersten Anfänge von Hamons Aufstieg untersuchen, und ich habe alles, was noch unklar war, vollständig aufgeklärt. Er gründete Schwindelgesellschaften und verdiente damit allerhand Geld. Dann brachte er einen vermögenden Engländer hierher. Sie wohnten ungefähr vierzehn Tage im Hause von Sadi Hafis. Nachher verließen sie das Land wieder. Ich entdeckte, daß der Fremde ihm eine große Geldsumme zahlte – ich habe auch beim Credit Lyonnais Nachforschungen angestellt und die alten Akten eingesehen. Die Geldüberweisung ist klar. Fünfzigtausend Pfund gab der Mann als Anzahlung.«

 

»Wofür denn?« fragte der Lord, der sich trotz seiner Sorgen für die Sache zu interessieren begann.

 

»Das muß ich noch herausbekommen. Allem Anschein nach sollte später noch eine viel größere Summe auf Hamons Konto eingezahlt werden.«

 

»Kennen Sie eigentlich den Namen dieses geheimnisvollen Engländers?«

 

»Nein. Vermutlich wurde die Einzahlung in der Nähe von Hindhead geleistet. Wenn ich das sicher wüßte, würde sich Hamon in Tanger nicht wieder blicken lassen.«

 

»Das wird er auch so nicht mehr wagen«, entgegnete der Lord bitter. »Wenn die Regierung dieses verfluchten Landes morgen nicht etwas unternimmt, dann mache ich auf eigene Faust eine Expedition ins Innere, um meine Tochter zu finden! Und wenn ich Ralph Hamon entdecke, ist es aus mit ihm!«

 

Welling rauchte bedächtig weiter und schaute auf die sonnige Bucht hinaus.

 

»Wenn Jim Morlake sie nicht findet, wird es Ihnen auch nicht gelingen.«

 

»Wo mag sie nur geblieben sein?«

 

Zwei Leute ritten die Küste entlang auf die Stadt zu. Sie waren kaum noch eine halbe Meile entfernt und fielen durch ihr merkwürdiges Betragen auf.

 

»Ein Maure, der sich mit einer Frau in der Öffentlichkeit unterhält, ist ein seltener Anblick«, sagte Welling, der die beiden beobachtete.

 

Lord Creith schaute durch sein Fernglas. Die Frau hob die Hand und winkte, und es sah fast so aus, als ob der Gruß ihm gelten sollte.

 

»Wollen sie uns ein Zeichen geben?«

 

»Es scheint so«, meinte Welling.

 

Lord Creith wurde plötzlich bleich.

 

»Das ist doch nicht möglich!« rief er mit zitternder Stimme, drehte sich plötzlich um und eilte die Stufen zur Uferstraße hinunter. Die beiden Reiter fielen in Galopp.

 

Welling beobachtete die Szene erstaunt und sah, wie die maurische Frau plötzlich aus dem Sattel sprang und in die Arme des alten Mannes eilte. Dann stieg auch ihr Begleiter ab und wurde von Lord Creith aufs herzlichste begrüßt.

 

Wenn das nicht Jim Morlake ist, will ich ein Neger sein, sagte Welling zu sich selbst.

 

Im nächsten Augenblick eilte auch er hinunter, um die beiden zu begrüßen, und eine Stunde später saßen vier glückliche Menschen bei einer vergnügten Mahlzeit.

 

Einen Tag später erfuhren sie von Sadis Tod und der mißglückten Flucht seines Mörders. Sadis Leute hatten Hamon verfolgt, ihm den Weg abgeschnitten und ihn aus dem Hinterhalt erschossen. Sein Dienernder entkommen war, brachte die Nachricht nach Tanger. Die Leiche wurde geborgen, und das Dokument, nach dem Jim seit Jahren vergeblich gesucht hatte, kam endlich zutage.

 

»Wir fahren noch heute abend«, erklärte der Lord. »Mögen die Wellen im Golf von Biscaya haushoch sein, und mag der größte Sturm im Kanal toben – wenn wir nur aus diesem Land fortkommen! Ich muß die Yacht zur Heimfahrt benützen, denn der eigentliche Besitzer ist ein persönlicher Freund von mir, wie ich inzwischen erfahren habe. Sie begleiten uns doch, Morlake?«

 

»Ja«, erwiderte Jim. »Meine Aufgaben sind erledigt. Sie wurden vom Schicksal für mich gelöst. Um so mehr freue ich mich, daß ich jetzt nur noch schöne vor mir habe.«

 

Er sah Joan freudig an, und ihre Augen leuchteten glücklich auf.

 

Kapitel 6

 

6

 

»Hat es nicht eben gedonnert?« fragte Lord Creith. Er hob die Hand zum Mund, um ein Gähnen zu verbergen.

 

Auch Joan fühlte sich gelangweilt. Das Essen nahm kein Ende.

 

»Es klang fast so«, erwiderte Hamon und fuhr aus seinen unangenehmen Gedanken auf.

 

»Im Oktober sind Gewitter sehr selten«, meinte der Lord. »Ich kann mich daran erinnern, als ich noch ein Junge war …«

 

Er machte einen schwachen Versuch, die andern durch eine Geschichte zu unterhalten, die jedoch niemand fesselte. Er schien es auch zu fühlen und brach bald ab. Aber dann brachte er das Gespräch plötzlich auf ein Thema, das seine beiden Tischgenossen in hohem Maße interessierte.

 

»Ich habe Stephens nach diesem Morlake gefragt. Ein merkwürdiger Mensch. Niemand weiß auch nur das Geringste über ihn. Vor drei Jahren kam er von irgendwoher, kaufte Wold House und ließ sich hier als Gutsbesitzer nieder. Er beteiligt sich an keiner Jagd, keinem Ball, lehnt alle Einladungen ab, die ihm geschickt werden, und hat offenbar weder Bekannte noch Freunde. Ein ganz eigentümlicher Kerl!«

 

»Das kann ich nur bestätigen!«

 

Mr. Hamon lachte laut, und Joan sah ihn erstaunt an.

 

»Kennen Sie ihn denn?«

 

»Ziemlich genau – er ist ein amerikanischer Verbrecher!«

 

Joan versuchte vergeblich, ihre Erregung zu verbergen. Aber anscheinend übersah Hamon das Wohlwollen und die Sympathie, die der Besitzer von Wold House hier genoß. Er freute sich über das Aufsehen, das seine Worte hervorriefen.

 

»Ja, er ist ein Verbrecher, einer der größten Geldschrankknacker und Erpresser! Wie er in Wirklichkeit heißt, weiß ich nicht.«

 

»Aber dann ist die Polizei doch sicher über ihn informiert«, meinte Lord Creith verwundert.

 

»Das mag sein, aber ein Mann wie Morlake, der so viel Geld hat, braucht die Polizei nicht zu fürchten.«

 

Joan hatte bis jetzt sprachlos zugehört.

 

»Woher wollen Sie denn das alles wissen?« fragte sie, als sie ihre Stimme wieder beherrschte.

 

Hamon zuckte die Schultern.

 

»Vor einigen Jahren bin ich einmal mit ihm aneinandergeraten. Er dachte, er habe etwas entdeckt, was ihm eine gewisse Macht über mich gebe, und versuchte, mich zu erpressen. Er entkam nur mit genauer Not. Das nächstemal wird es ihm nicht glücken! Und das nächstemal –« er öffnete und schloß die Hand, als ob er jemand erwürgen wollte »– wird recht bald kommen! Ich habe ihn in meiner Gewalt.«

 

Joan haßte Ralph Hamon in diesem Augenblick über alle Maßen, obwohl er sie eigentlich nicht beleidigt hatte.

 

»Ich sagte schon, daß ich nicht weiß, wie er in Wirklichkeit heißt. Die Polizei beobachtet ihn seit Jahren, aber sie hat noch nie genügend Material gegen ihn sammeln können, um ihn vor Gericht zu bringen.«

 

»Ich habe aber noch nie etwas davon erfahren«, unterbrach ihn Lord Creith, »und ich bin doch hier der Ortsvorstand. Die hiesige Polizei hat nichts gegen ihn, im Gegenteil, man spricht ganz gut von Mr. Morlake.«

 

»Als ich eben die Polizei erwähnte, meinte ich damit Scotland Yard in London, und die Leute dort reden natürlich nicht darüber.«

 

»Ich kann das alles nicht glauben!« Joans lange unterdrückte Entrüstung kam zum Durchbruch. »Wahrscheinlich haben Sie irgendwelche Schauergeschichten gehört, die Ihre Phantasie jetzt verwirren!«

 

Hamon lächelte.

 

»Ich gebe zu, daß es recht unglaubhaft klingt, aber es ist die volle Wahrheit. Ich habe Morlake erst heute morgen gesprochen. Er war auf das unangenehmste überrascht, als er mich sah, das kann ich Ihnen sagen. Am meisten schien er sich darüber zu ärgern, daß ich ihn wiedererkannte. Er bat mich auch händeringend, es niemand zu erzählen –«

 

»Das ist nicht wahr! Unter keinen Umständen kann das stimmen!« erklärte Joan zornig. »Mr. Morlake ist der letzte, der einen anderen um etwas bitten würde. Ich glaube auch nicht, daß er ein Dieb ist.«

 

»Ist er denn Ihr Freund?«

 

»Ich bin ihm noch nie begegnet.«

 

Ein verlegenes Schweigen trat ein, aber Ralph Hamon hatte ein dickes Fell. Obwohl sie ihm auf den Kopf zusagte, daß er log, fühlte er sich nicht im mindesten verletzt.

 

Als sich Lord Creith in sein Zimmer zurückgezogen hatte, ging Joan hinaus, um die aufflammenden Blitze am südlichen Himmel zu beobachten. Sie wollte allein sein, doch Hamon folgte ihr.

 

»Es sieht so aus, als ob wir eine stürmische Nacht bekämen«, meinte er, um eine Unterhaltung zu beginnen.

 

Sie gab ihm recht und wollte wieder ins Haus zurückkehren, aber er hielt sie an.

 

»Wo haben Sie denn die Bekanntschaft der Dame gemacht, die dort drüben wohnt?«

 

»Sprechen Sie etwa von Mrs. Cornford? Ist sie vielleicht auch eine Verbrecherin?« fragte sie scharf.

 

Er lächelte nachsichtig über die sarkastische Bemerkung.

 

»Das nicht gerade. Ich interessiere mich nur für sie. Es kommt mir vor, als hätte ich sie schon vor Jahren einmal gesehen. Ich vermute, daß sie mich noch kennt. Hat sie Ihnen etwas davon gesagt?«

 

»Sie hat Ihren Namen niemals erwähnt – wahrscheinlich, weil ich mit ihr nicht über Sie gesprochen habe«, antwortete Joan etwas erstaunt.

 

»Ich glaube mich daran zu erinnern, daß sie nicht ganz richtig im Kopf war – sie war ein Jahr in einer Irrenanstalt.«

 

Joan lachte laut auf.

 

»Ausgezeichnet! Wer von meinen Freunden nicht gerade ein Verbrecher ist, wird von Ihnen für wahnsinnig erklärt!«

 

»Ich wußte nicht, daß er Ihr Freund ist«, sagte er schnell und trat an sie heran.

 

»Mr. Morlake ist unser Nachbar, und Nachbarn sind nach alter Sitte unsere Freunde. Wir gehen jetzt aber besser hinein.«

 

»Einen Augenblick noch.«

 

Er nahm ihren Arm, und sie machte sich durch eine leichte Bewegung wieder frei: »Was wollen Sie mir denn noch sagen?«

 

»Hat Ihr Vater über meinen Antrag mit Ihnen gesprochen?«

 

»Ja, es war die Rede davon«, erwiderte sie gleichgültig. »Ich erklärte ihm, daß ich nicht den Wunsch habe, Sie zu heiraten, obwohl ich gut verstünde, welches Kompliment Sie mir mit Ihrem Antrag machten.«

 

Hamon räusperte sich. »Erwähnte er auch die Tatsache, daß in Wirklichkeit ich der Eigentümer der Creithschen Güter bin?«

 

»Auch das hat er mir gesagt.«

 

»Ich nehme an, daß Ihnen das Stammhaus der Creith doch ein wenig am Herzen liegt? Ihre Vorfahren haben es seit Hunderten von Jahren besessen!«

 

»Sicher, es ist mir sehr teuer«, entgegnete sie steif. »Aber es ist mir doch nicht so kostbar, daß ich das Glück meines Lebens opfern würde, um den Titel einer Herrin von Creith zu behalten. Es gibt noch viel schlimmere Dinge, als heimatlos zu sein, Mr. Hamon.«.

 

Sie machte eine Bewegung, als ob sie gehen wollte, aber wieder hielt er sie zurück.

 

»Warten Sie noch«, sagte er leidenschaftlich. »Joan, ich bin zwanzig Jahre älter als Sie, aber Sie sind die Frau, von der ich geträumt habe, solange ich denken kann. Es gibt nichts, das ich nicht für Sie tun könnte, kein Dienst wäre mir zu schwer. Ich muß Sie besitzen!«

 

Bevor sie wußte, was geschah, hatte er sie in die Arme geschlossen. Sie wehrte sich und wollte sich frei machen, aber er umklammerte sie fest.

 

»Lassen Sie mich gehen – wie dürfen Sie das wagen!«

 

»Ruhe!« zischte er. »Ich liebe Sie, Joan, obwohl Sie mich mit Ihrem Hochmut tief gekränkt haben. Ich liebe Ihr süßes Gesicht, Ihre Augen, Ihren herrlichen, schlanken Körper …«

 

Sie bog den Kopf zur Seite, um dem Kuß seiner gierigen Lippen zu entgehen. Im selben Augenblick klang die Stimme ihres Vaters von der Halle zu ihnen herüber.

 

»Bist du noch draußen, Joan?«

 

Hamon ließ die Arme sinken, und sie taumelte zitternd vor Schrecken und Abscheu zurück.

 

»Es tut mir sehr leid, daß ich mich so vergaß«, flüsterte er.

 

Sie konnte nicht sprechen und zeigte nur zur Tür. Er verließ sie und ging hinein. Erst nach einigen Minuten folgte sie ihm.

 

Lord Creith schaute mit seinen kurzsichtigen Augen prüfend auf seine Tochter.

 

»Ist etwas passiert?« fragte er, als er ihre Blässe bemerkte.

 

»Nein, Vater.«

 

Er sah sich um. Hamon war verschwunden.

 

»Ein Mensch ohne Erziehung – ich werde ihn aus dem Hause weisen, wenn du es wünschest, mein Liebling.«

 

»Ach, das ist nicht notwendig. Aber wenn er morgen nicht von selbst verschwindet, wollen wir dann nicht lieber nach London gehen?«

 

»Ja, das wollen wir tun.«