17

 

Mike Hennessey sah ruhig und würdevoll aus, als er auf der Bahre lag. Surefoot Smith trat aus dem kleinen, düsteren Gebäude und wartete, bis der Polizeisergeant die Tür abgeschlossen hatte. Dick war auf der Wache geblieben. Er hatte genug Schrecken für eine Nacht erlebt und Smith deshalb nicht zum Leichenschauhaus begleitet.

 

»Ja, es ist tatsächlich Mike«, sagte Surefoot. »Der Mord wurde ungefähr um zehn Uhr fünfzehn begangen. Die Zeit wird durch die Insassen des großen Wagens bestätigt, die Hennessey liegen sahen. Ein Motorradfahrer, der in dem nahen Dorf wohnt, berichtete der Polizei, er habe kurz vorher eine kleine Limousine an der Stelle warten sehen, wo Mike später gefunden wurde. Der große Wagen hat später kein anderes Auto auf der Landstraße überholt. Ich nehme daher an, daß die Limousine umgekehrt ist, nachdem der Tote auf die Straße geworfen war. Der Mörder war auch der Mann, der in Miss Lanes Wohnung eingebrochen ist«, fuhr Smith ernst fort. »Sein Rock muß mit Blut befleckt gewesen sein, ohne daß er es wußte. Er hat es erst entdeckt, als er das Bad durchsuchte. Dabei kam er mit dem Ärmel an die Wand, zog dann den Rock aus und wusch sich die Hände.«

 

»Aber irgendein Garagenbesitzer muß doch wissen, in welchem Auto die Tat verübt wurde, wenn wirklich Blut geflossen ist. Das Innere ist sicher vollständig beschmutzt«, meinte Dick.

 

Surefoot nickte.

 

»O ja, den Wagen werden wir schon bekommen. Es wurden in der Nacht drei Autos gestohlen, auf die die Beschreibung ungefähr paßt. Ich habe mich mit Scotland Yard verbinden lassen und erfahren, daß man ein leeres Auto in Sussex Gardens gefunden hat.«

 

Ein schneller Polizeiwagen brachte die beiden nach Paddington, und die Vermutung des Chefinspektors bestätigte sich. Es war das Auto, das der Täter benutzt hatte. Man sah deutlich, daß jemand darin ermordet worden war. Aber weitere Anhaltspunkte ergaben sich nicht.

 

»Wir wollen das Steuer nach Fingerabdrücken absuchen, aber Mr. Washington Wirth hat sicher Handschuhe getragen.«

 

»Dadurch ist Moran doch nun außer Verdacht?«

 

Surefoot lächelte.

 

»Wo ist Moran eigentlich? In Deutschland – ebensogut mag er auch in London sein. Man kann ja heutzutage Deutschland mit dem Flugzeug in wenigen Stunden erreichen und noch schneller wieder zurückkehren. Außerdem steht noch gar nicht sicher fest, daß Moran tatsächlich mit jener Maschine abgeflogen ist.«

 

Dick Allenby war bestürzt und um Mary Lanes Sicherheit besorgt. Er deutete das an, und Surefoot Smith gab ihm recht.

 

»Ich halte es auch nicht für gut, daß sie in ihrer Wohnung bleibt. Vielleicht besitzt sie noch andere Dinge, die mit dem Verbrechen in Zusammenhang stehen, und da sie sich jetzt mit der Aufklärung beschäftigt, wird sie unserem Freund am Ende gefährlich.«

 

Dick begleitete Smith zu der Polizeiwache, wohin der Wagen gebracht worden war. Sie fanden dort die Beamten bereits an der Arbeit. Die üblichen Untersuchungen wurden angestellt; Fotografen machten ihre Aufnahmen, und Automechaniker untersuchten den Kilometerzähler. Der Eigentümer, den man sofort aufgefunden und zur Polizei gebracht hatte, war ein gewissenhafter Mann. Er wußte, wieviel Kilometer gefahren waren, bevor man ihm den Wagen stahl, und diese Angabe bedeutete eine große Hilfe.

 

Dick Allenby trat näher heran, als einer der Leute gerade ein Kissen vom Führersitz nahm.

 

»Hallo!« sagte er und sah über die Schulter des Mannes. Er hatte ein silbernes Zigarettenetui entdeckt, das gleich darauf Surefoot überreicht wurde.

 

Es war leer, trug im Innern aber eine Inschrift, die gut zu lesen war:

 

»Mr. Leo Moran von seinen Kollegen, Mai 1920.«

 

Surefoot betrachtete den kleinen Behälter von allen Seiten. An manchen Stellen war das Etui verbeult und blankgescheuert. Entweder war es häufig benutzt oder kürzlich gereinigt worden.

 

Surefoot hatte ein Stück Papier genommen und hielt es damit fest, um keine Fingerabdrücke zu machen. Schließlich wickelte er es vorsichtig darin ein.

 

»Vielleicht können wir einen Fingerabdruck darauf finden«, meinte er. »Aber ich glaube es kaum. Merkwürdig, daß wir das Ding unter dem Sitzkissen fanden.«

 

»Es ist ja möglich, daß er es unter das Kissen gesteckt und später vergessen hat.«

 

Surefoot schüttelte den Kopf.

 

»Es ist nicht sein Wagen. Das Auto wurde doch gestohlen. Mike Hennessey hat vermutlich während der Fahrt oder kurz vorher dem Mörder von der Bankabrechnung erzählt, die sich bei Miss Lane befinden sollte. Der Mann hat Hennessey dann zu sich in den Wagen genommen und ihn erledigt. Übrigens glaubte Mike, sein Begleiter würde nach Southampton fahren, um seinen Dampfer zu erreichen. Das Auto hat an einer Tankstation am Ende der Great West Road gehalten. Hennessey stieg aus und telefonierte von dort aus mit seiner Wohnung, wahrscheinlich mit seiner Haushälterin, daß sie ihm das Gepäck auf den Bahnhof bringen sollte. Der Mörder hat sich dann Hennesseys so schnell wie möglich entledigt, ist in die Stadt zurückgefahren und hat Mary Lanes Wohnung durchsucht. Allem Anschein nach ist er früher schon dort gewesen –«

 

»Dann könnte es tatsächlich Moran gewesen sein«, meinte Dick.

 

Surefoot zögerte.

 

»Das ist nicht vollkommen bewiesen. Auf jeden Fall hat er aber nach der Bankabrechnung gesucht. Außerdem hat er früher in Amerika gelebt. Sind Sie mit meinen Schlußfolgerungen zufrieden?«

 

»Woher wissen Sie das nun schon wieder?«

 

»Es ist ein typischer Bandenmord, wie sie in Amerika zu Dutzenden vorkommen.«

 

Smith fuhr mit Dick zurück und war auffallend gesprächig.

 

»Hennessey war von Anfang an in die Sache verwickelt. Er wußte genau, wer Washington Wirth war; er wußte, daß Wirth Schecks fälschte, und er zog seinen Vorteil daraus, indem er den Mann erpreßte. Ich werde übrigens Miss Lane den Schlüssel und den Scheck zeigen.«

 

Dick hörte zum erstenmal etwas von dem Schlüssel.

 

Als Surefoot Smith zum Scotland Yard kam, lagen alle Sachen, die der Ermordete bei sich gehabt hatte, auf einem Tisch: ein Notizbuch, einige Papiere, ungefähr zwanzig Pfund in bar, eine Uhr mit Kette, ein Schlüsselring. Mike hatte aber sicher nicht die Absicht gehabt, mit einer so geringen Barschaft auf eine weite Reise zu gehen. Surefoot vermutete deshalb, daß der Mörder sich den größeren Teil des Geldes angeeignet hatte.

 

Unter den Papieren befand sich eine aus einem Kursbuch gerissene Seite, auf der mit Bleistift verschiedene Züge angestrichen waren. Daraus ergab sich, daß Hennessey nach Wien hatte fahren wollen.

 

Das nächste Blatt, das der Chefinspektor in die Hand nahm, war interessanter. Es standen viele Zahlen darauf. Surefoot hatte ein gutes Gedächtnis und erkannte sofort die Zahlen, die in der Bankaufstellung eine Rolle gespielt hatten. Das Papier war sehr abgegriffen und mußte häufig benutzt worden sein.

 

Smith war erstaunt. Warum hatte sich Mike die Mühe genommen, die Summen der Schecks zu notieren und aufzuheben? Offenbar wußte er etwas von der Bankabrechnung; vielleicht hatte er sie selbst aufgestellt. Wenn sie aber eine Fälschung war, brauchte er doch dieses Stück Papier mit den Zahlen nicht aufzubewahren. Entweder hatte er die Angaben im Moment erfunden, oder er hatte irgendein Buch, in dem er die Fälschung und die wirkliche Summe, die Lynes Bankguthaben ausmachen mußte, eintrug.

 

In der Frühe des nächsten Morgens telefonierte er mit Mary Lane, die eine unruhige Nacht verbracht hatte.

 

Die Nachricht, daß ein Polizeibeamter auf dem Korridor vor ihrer Wohnung, ein anderer unten an der Feuerleiter wachte und ein dritter vor dem Haus auf- und abpatroullierte, munterte sie auch nicht auf.

 

»Kommen Sie bitte zu mir«, sagte sie und atmete erleichtert auf, als sie hörte, daß er sie sofort aufsuchen wollte. Sie brauchte dringend seinen Rat.

 

Surefoot hatte am Morgen keine weiteren Neuigkeiten erfahren. Eine Durchsuchung von Hennesseys Wohnung war ohne Ergebnis geblieben. Papiere und Dokumente hatte man nicht gefunden, und ein altes Bankbuch sagte ihm auch nicht mehr, als daß Hennessey seit drei Jahren von der Hand in den Mund gelebt hatte.

 

Er war nicht gerade in der besten Stimmung, als er Marys Wohnung betrat.

 

»Es sieht tatsächlich so aus, als ob wir moderne wissenschaftliche Methoden anwenden müßten, um weiterzukommen«, meinte er düster, als er ein Päckchen aus der Tasche zog und auf den Tisch legte. »Vielleicht können Sie etwas daraus machen?«

 

Er öffnete den kleinen Lederbeutel und nahm den Schlüssel heraus, dann zog er den Scheck aus seiner Brieftasche und legte ihn auf den Tisch.

 

Sie prüfte die Bleistiftnotiz auf der Rückseite und nickte.

 

»Das ist Mr. Lynes Handschrift. Ich sagte Ihnen schon, daß ich als junges Mädchen in seinem Haus lebte. Ich habe sogar eine Zeitlang seinen Haushalt geführt. Aber das Zusammenleben mit ihm war wirklich nicht angenehm.«

 

»Warum?«

 

Sie zögerte.

 

»Er hatte zum Beispiel seit vierzig Jahren dieselben Kaufleute, bei denen er seine Waren bezog. Er wechselte sie nicht, und trotzdem hatte er dauernd mit ihnen Auseinandersetzungen wegen der Rechnungen.«

 

Sie nahm den Schlüssel in die Hand und betrachtete ihn.

 

»Halten Sie es für Selbstüberhebung, wenn ich Ihnen sage, daß ich meiner Meinung nach den Mörder von Mr. Lyne finden kann?«

 

»Ich würde es für sehr unklug halten, wenn Sie es auf eigene Faust versuchen wollten«, erklärte Smith offen. »Der Mörder ist ein Mensch, mit dem man nicht spaßen kann.«

 

»Das weiß ich wohl. Aber lassen Sie mir eine Woche Zeit für meine Nachforschungen.«

 

»Ist es nicht besser, Sie sagen mir jetzt gleich, wen Sie verdächtigen?«

 

»Nein, dann mache ich mich vielleicht lächerlich, und das möchte ich nicht.«

 

Smith biß sich auf die Unterlippe.

 

»Sie können die Sachen nicht behalten –«, begann er.

 

»Ich brauche sie auch nicht«, entgegnete sie schnell und entschlossen. »Sie meinen doch den Scheck und den Schlüssel? Wäre es aber zuviel verlangt, wenn ich Sie um ein Duplikat des Schlüssels bäte? Sobald ich das dazu passende Schlüsselloch finde, gebe ich Ihnen Bescheid.«

 

Er sah sie erstaunt an.

 

»Glauben Sie denn, Sie finden das Schloß?«

 

Sie nickte.

 

Surefoot seufzte:

 

»Solche romantischen Geschichten machen mich krank. Aber ich will Ihren Wunsch gern erfüllen.«

 

Zwei Tage später erhielt Mary Lane einen nagelneuen Schlüssel und begann ihre Nachforschungen. Sie ahnte nicht, daß sie auf Surefoots Anordnung hin Tag und Nacht von drei Detektiven bewacht wurde.

 

Am dritten Tag nach der Ermordung Mike Hennesseys stiegen plötzlich die Aktien von Cassari-Petroleum, die in den letzten fünf Jahren zwischen dreiundzwanzig und siebenundzwanzig Schilling geschwankt hatten. Der Nennwert betrug vierzig Pfund pro Aktie. Das Ölfeld lag in Kleinasien, und man hatte immer genug Petroleum gefunden, so daß die Gesellschaft nicht zusammenbrach; aber es war nicht genug, um den vollen Wert der Aktien zu garantieren.

 

Mary las die große Überschrift »Sensationelle Hausse in Cassari-Petroleum« im Handelsteil der Zeitung und rief Mr. Smith an.

 

»Also Ihrer Meinung nach waren das die Aktien, die Sie damals auf Moran übertrugen?« fragte er interessiert. »Wie hoch wurden sie gestern notiert? Ich habe die Zeitung nicht gelesen.«

 

Sie waren über Nacht von fünfundzwanzig auf fünfundneunzig Schilling gestiegen, und als Surefoot Smith einen Geschäftsmann in der City anrief, hörte er zu seinem Erstaunen, daß sie bereits auf dreißig Pfund standen und jede Minute höher kletterten. Um den Grund für diese plötzliche Hausse zu erfahren, suchte er einen Bekannten in der Old Broad Street auf, der ihm gewöhnlich über finanzielle Angelegenheiten Informationen gab.

 

Etwa vor drei Monaten hatte die Gesellschaft eine neue Petroleumquelle angebohrt, und es wurden dauernd neue Bohrtürme errichtet. Allem Anschein nach hatte man unerwartet große Ölmengen gefunden, diese Nachricht aber zunächst unterdrückt, bis die Gesellschaft heimlich alle im freien Handel befindlichen Aktien aufgekauft hatte.

 

»Sie werden wahrscheinlich auf hundert Pfund steigen, und wenn es Ihnen möglich ist, gebe ich Ihnen nur den Rat, auch Cassari zu kaufen. Sie machen Geld damit.«

 

»Wer steht denn hinter dieser Hausse?« fragte der Chefinspektor.

 

Der Börsenmann schüttelte den Kopf.

 

»Wenn ich versuchen wollte, die Namen auszusprechen, würde ich mir die Zunge abbrechen. Es sind meistens Türken – Effendis, Paschas und so weiter. Sie können die Namen finden, wenn Sie im Börsenjahrbuch nachschlagen. Es sind solide, zuverlässige Geschäftsleute. Fast alle Millionäre, so sicher wie die Bank von England. Diese Hausse ist kein Scheinmanöver. Die Gesellschaft hat in London kein besonderes Büro. Jolman & Joyce sind ihre Agenten.«

 

Surefoot sprach bei dieser Firma vor. Das Haus war von vielen Leuten belagert, aber er sandte seine Karte hinein und wurde auch sofort von Joyce empfangen.

 

»Ich kann Ihnen kaum mehr berichten, als auch schon in der Zeitung steht, Mr. Smith. Es sind wenig Aktien auf dem Markt. Der einzige, der in London eine große Menge davon besitzt, ist ein gewisser – Leo Moran.«