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Als Diana das Fazit aus dieser ganzen Affäre zog, war sie froh, daß der Doppelgänger entschlüpft war. Der Rest der Nacht war sehr unruhig gewesen. Ärzte kamen und gingen, und das laute Wehgeschrei von Mr. Superbus schallte durch das Haus. Es tat ihr unendlich leid, daß dieser treue Wächter eine Zehe verloren hatte, obwohl es nur eine kleine Zehe war, die er nicht unbedingt zu seinem Lebensglück notwendig hatte. Aber immerhin war es eine Zehe, die bis dahin, wie er immer wieder zwischen seinen Schmerzensausbrüchen erklärte, ein treuer Begleiter durch sein wechselvolles Leben gewesen war.

 

Ja, er tat ihr wirklich sehr leid, obgleich der Arzt erklärte, daß er jetzt keine Schmerzen mehr habe. Auch hatte der Doktor, der den furchtsamen Charakter von Mr. Superbus nicht kannte, gemeint, Julius sei mehr erschreckt als verletzt worden. Aber sie war froh, daß der Doppelgänger verschwunden war.

 

Die Schießerei hatte ein sehr angenehmes Resultat gehabt – Dempsi war seitdem sehr kleinlaut geworden, er hatte sie kein einziges Mal mehr seinen »von den Sternen herabgestiegenen Engel« oder sonstwie genannt. Er, der Himmel und Erde geplündert hatte, um ihre Schönheit, ihren Charme und ihre sonstigen Vorzüge zu beschreiben, gab sich jetzt mit ganz gewöhnlichen Gemeinplätzen zufrieden.

 

»Der arme Wop hat anscheinend noch nie eine Pistole in der Hand gehabt«, meinte Bobby, »und das verfluchte Ding ging los, bevor er merkte, daß er den Abzug berührt hatte.«

 

»Der arme Wop!« sagte Diana vorwurfsvoll. »Du würdest doch besser den armen Mr. Superbus bedauern!«

 

Sie hatten schon vor einiger Zeit gefrühstückt, und Bobby war schon auf der Bank gewesen. Mr. Dempsi war ausgegangen.

 

»Wie hast du eigentlich geschlafen?« fragte er liebenswürdig.

 

»Schrecklich. Aber Bobby, hast du das Geld bekommen?«

 

»Ja, glücklicherweise ist die Überweisung deiner Gelder noch am Sonnabend kurz vor Geschäftsschluß erfolgt. Der Direktor hat sich riesig entschuldigt. Ich habe das Geld – hier ist es.«

 

Er zog ein dickes Paket amerikanischer Banknoten aus seiner Hüfttasche. Sie sah die Scheine nachdenklich an und preßte die Lippen zusammen.

 

»Ich erhielt eine Telegramm von Gordon aus Inverness.«

 

»Dann ist er also dort angekommen«, sagte er trocken. »Und wie geht es unserem alten Autobus?«

 

»Der arme Kerl.« Sie lachte. »Ich hoffe, daß er sich allmählich an seinen überaus großen Verlust gewöhnt. Im Augenblick ist seine größte Sorge, was seine Frau zu seiner verlorenen Zehe sagen wird. Nach seinen Reden zu urteilen, zählt sie sie jeden Abend nach.«

 

Bobby grinste am Kamin. Es erschien ihm außerordentlich komisch, daß ein Mann eine kleine Zehe verlieren konnte.

 

»Hast du nichts von dem Doppelgänger gehört?« fragte er.

 

»Nein, er scheint verschwunden zu sein. Aus den Spuren an der Mauer geht hervor, daß er hinübergeklettert ist. Nach dem Bericht des Mr. Superbus muß er noch einen Helfershelfer gehabt haben. In einer Beziehung bin ich ganz froh, daß er fort ist.«

 

Bobby sah sie erstaunt an.

 

»Wieso denn?«

 

»Um des armen Mädchens willen.« Diana machte ein ganz trauriges Gesicht. »Du kannst dir gar nicht vorstellen, was sie alles durch ihn hat leiden müssen, Bobby. Es ist doch noch ein guter Kern in Heloise. Natürlich ist sie jetzt vollständig niedergeschlagen, daß sie ihn verloren hat. Aber das ist der Fluch der Frauen – sie geben niemals ihre Hoffnung auf.«

 

»Er muß sich aber sehr schnell aus dem Staub gemacht haben. Ich war unmittelbar nach Dempsi unten, und obgleich ich das ganze Haus und den Hof absuchte, konnte ich von dem Teufel doch nichts mehr finden.«

 

»Wir wollen nicht mehr über ihn sprechen. Aber Dempsi hat sich glänzend benommen. Ich war freudig überrascht – das ist das einzige Mal, daß ich das von ihm sagen kann. Ich hätte kaum gedacht, daß ein Mann von seinem erregbaren Temperament diese Sache so kühl aufnehmen könne. Er ist jetzt ganz still geworden, ich glaube, die Schießerei hat ihn ein wenig nervös gemacht. Er wollte immer wissen, ob ich die Polizei benachrichtigt habe, aber natürlich habe ich das nicht getan – soweit es sich um Mr. Superbus‘ Zehe handelt. Er verläßt heute das Haus.«

 

»Dempsi?«

 

»Er sagt, daß er tausend Jahre auf mich warten will.« Sie seufzte. »Ich sagte ihm, hundert würden auch genügen. Er hat den ganzen Morgen nichts mehr von einer Heirat gesagt. Ich möchte fast sagen, daß er mir dadurch lieb geworden ist.«

 

Der Mann, von dem sie sich unterhielten, kam ein paar Minuten später in das Zimmer. Er sah hager und nach Bobbys Meinung keineswegs anziehend aus.

 

»Guten Morgen, Mr. Selsbury – haben Sie nicht Tante Lizzie gesehen? Ich möchte ihr kondolieren. Es ist doch schrecklich, wenn Leute, die sich gern haben, getrennt werden. Und wie entsetzlich für Sie – sagten Sie nicht, daß er der Doppelgänger war? Es schaudert mich, wenn ich daran denke. Aber die kleine Diana« – er sah sie bewundernd an – »hat sich nicht im mindesten gefürchtet – oh, das war ganz wundervoll! Aber bitte, erzähle mir doch, wer ist denn eigentlich Tante Lizzie!«

 

»Eine Freundin von mir«, sagte Diana kurz.

 

Dempsi schüttelte traurig den Kopf.

 

»Ich werde es mir niemals verzeihen, daß ich Mr. Superbus – in die Zehe geschossen habe«, sagte er bedauernd.

 

Bobby lachte.

 

»Das klingt fast so, als ob es Ihnen leid täte, daß Sie ihn nicht durch den Kopf geschossen haben.«

 

Dempsi schrak vor dieser schrecklichen Verdächtigung zurück.

 

»Das mag der Himmel verhüten – ich bewundere Superbus!«

 

»Er hätte nicht schlafen sollen«, meinte Diana. »Er hatte mir versprochen zu wachen.«

 

Sie eilte zur Tür, denn das Aufstoßen eines Stockes auf dem Parkettboden der Diele kündigte den Invaliden an. Sein rechter Fuß war malerisch mit weißen Bandagen umwunden. Er hatte eine Krücke unter dem einen Arm und bewegte sich nur ruckweise vorwärts. Er lächelte Diana schwach und müde an. Bobby faßte ihn an dem einen, Mr. Dempsi an dem anderen Arm, und so kamen sie unter vielem Stöhnen und Seufzen bei dem Sofa an.

 

»Fühlen Sie sich jetzt besser, Mr. Superbus?«

 

Er schüttelte den Kopf. Er wollte nicht gern in diesem frühen Stadium schon alle Sorgfalt und Pflege vermissen, die ihm seiner Meinung nach jetzt zukamen.

 

»Mittelmäßig, Madam, mittelmäßig, natürlich bin ich ein wenig mitgenommen – das geht mir immer so, wenn ich bei einer Schießerei beteiligt war. Ach, es ist furchtbar. Wenn ich daran denke«, stöhnte er mit zitternden Lippen, »daß gestern meine Zehe noch wohl und lebendig war.«

 

Mr. Dempsi bedeckte die Augen mit seiner langen, dünnen Hand.

 

»Und ich habe es getan«, sagte er mit einem tiefen, verzweifelten Seufzer.

 

»Lassen Sie es sich nicht so sehr zu Herzen gehen«, beruhigte ihn Julius mit der Miene eines christlichen Märtyrers, der selbst noch die Löwen entschuldigt, die ihn zerreißen sollen. »Das hätte jedem anderen auch passieren können. Ich hätte nur gewünscht, daß Sie ihn getroffen hätten, oder sie …«

 

Diana wurde aufmerksam.

 

»Oder sie? War denn die andere Person eine Frau?«

 

»Das ist sehr leicht möglich.« Julius war nicht bereit, sich weiter hierüber zu äußern, da er selbst nicht ganz sicher über diesen Punkt war.

 

»Ob es ein Mann oder eine Frau war, kann ich im Augenblick nicht sagen«, erklärte er düster. »Das wird bei der Untersuchung alles noch herauskommen.«

 

»Was ist denn eigentlich tatsächlich passiert?«

 

Bobby stellte diese Frage. Er hatte nur eine Ahnung von dem, was sich im Dunkeln alles zugetragen hatte. Julius suchte in seiner Tasche und zog ein großes Notizbuch hervor, das er gewichtig öffnete. Nachdem er einige Zeit darin geblättert hatte, fand er die Stelle auch, die er suchte. »Am Fünfzehnten dieses Monats, um zwei Uhr morgens«, las er mit volltönender Stimme vor, »wurde ich in meinem Schlaf von dem unangenehmen Gefühl geweckt, daß sich etwas Unheimliches ereignen würde, daß zum Beispiel Einbrecher oder andere Verbrecher in die Wohnung eingedrungen seien. Ich sprang aus meinem Bett, das zwei Fuß und sechs Zoll vom Fenster entfernt war – ich habe Tante Lizzie gebeten, die Entfernung genau auszumessen. Das Studierzimmer lag in vollkommener Dunkelheit, aber ich sah die Gestalt eines Mannes. Als ich vorwärtsstürzte, um ihn festzuhalten, sprangen anscheinend zu meinen Füßen eine oder mehrere unbekannte Personen auf. Da ich erkannte, daß Gefahr im Verzug war, wurde ich mit ihnen handgemein – ich vermute, Sie hörten das Toben des Kampfes?« fragte er ängstlich.

 

Diana hatte nichts gehört, und Bobby schüttelte den Kopf.

 

»Nein, ich habe nichts davon gehört, aber es ist möglich, daß ich nicht nahe genug war«, meinte er.

 

Mr. Dempsi hatte die Hände auf den Rücken gelegt, hielt den Kopf gesenkt und schaute nicht auf.

 

»Plötzlich«, fuhr Mr. Superbus fort, »ertönte ein Schuß, und ich wußte von nichts mehr.«

 

»Aber Sie sagten, es könne eine Frau gewesen sein?«

 

Diana war fest entschlossen, sich über diesen Punkt Aufklärung zu verschaffen.

 

»Es mag ein Mann oder eine Frau gewesen sein«, entgegnete Julius, »das wird alles ans Tageslicht kommen, wenn ich sozusagen die Geheimgeschichte erzählen werde. Im Augenblick muß es genug sein, wenn ich sage, eine oder mehrere unbekannte Personen – wo ist eigentlich Onkel Artur, ich habe ihn heute noch nicht gesehen?«

 

»Aber als Sie mit der unbekannten Person rangen, Mr. Superbus, müssen Sie doch gemerkt haben, ob es ein Mann oder eine Frau war«, bestand Diana hartnäckig.

 

Julius neigte verschämt den Kopf.

 

»Als ein verheirateter Mann sollte ich es eigentlich wissen«, sagte er diskret.

 

»Aber Sie haben doch mit der Person gerungen!«

 

»In gewisser Weise, ja, aber nur in gewisser Weise. Ich habe den Ausdruck mehr im allgemeinen gebraucht.«

 

»Aber Sie sahen doch –«

 

»Die Person sah wie ein Mann aus … ich werde Ihnen die ganze Wahrheit sagen. Er sah aus wie Onkel Artur. Ich habe mir aber keinen Augenblick eingebildet, daß es wirklich Onkel Artur war. Ich will niemand verdächtigen. Er ist durch die Tür entschlüpft, bevor ich ihn genau erkennen konnte.«

 

»Da müssen Sie sich aber geirrt haben, Mr. Superbus«, sagte Diana.

 

»Er schlüpfte hinter mir vorbei zur Tür hinaus.« Julius zeigte auf den Eingang.

 

»Da irren Sie sich«, erwiderte Diana. »Der Mann ist durch das Fenster entflohen, von dort in den Hof gesprungen und nachher über die Mauer geklettert. Das Fenster stand doch offen.«

 

»Erzählen Sie uns doch einmal, wie es eigentlich kam, daß Sie schliefen, während die Leute den Geldschrank aufbrachen?« fragte Bobby.

 

Mr. Superbus legte die Stirn in Falten und schloß die Augen.

 

»Ich bin betäubt worden – in meinem Kaffee muß ein Schlafmittel gewesen sein. Ich habe sonst einen ganz leichten Schlaf, bei dem geringsten Geräusch wache ich sofort auf!«

 

Bobby nickte.

 

»Aber den Pistolenschuß haben Sie doch gehört?«