Kapitel 6

 

6

 

Meistens vergaß Gordon, daß vor dem Namen der angebeteten Heloise van Oynne das kleine Wörtchen Mrs. stand. Er war zu diskret veranlagt, um auch nur auf indirekte Weise festzustellen, wie ihre Ehe beschaffen war. Er stellte sich Mr. van Oynne als einen großen, phantasielosen und brutalen Geschäftsmann ohne Seele vor, und er ahnte den Kampf zwischen dieser feinsinnigen Frau und diesem materiellen, rücksichtslosen Mann: Ärger und verhaltene Wut oder vollständige Interessenlosigkeit auf seiner Seite, resigniertes Leiden und stete Unruhe auf ihrer Seite, bis sie der anderen Hälfte ihres geistigen Wesens begegnete. Und das war eben Gordon.

 

Er schaute wieder aus dem Fenster.

 

Mr. Julius Superbus hatte einen Tabakbeutel aus Wildleder aus der Tasche gezogen und war gerade damit beschäftigt, seine kurze schwarze Pfeife zu stopfen. Er schien ein Mann zu sein, der selbst die gemeinsten Methoden anwandte, um zu seinem Ziel zu kommen. Ein gewöhnlicher, brutaler Mensch, der sich nichts dabei dachte, seinem Auftraggeber Berichte zu schicken, die eine Frau mit einer feinen, ästhetischen Seele stark kompromittierten. Ein Detektiv! Verzweifelt wandte er sich an Diana. »Würdest du etwas dagegen haben, wenn ich einmal das Studierzimmer einen Augenblick für mich allein haben könnte? Ich muß einen Herrn sprechen.«

 

Sie winkte ihm einen freundlichen Abschied zu, als sie durch die Tür verschwand.

 

»Rufen Sie ihn herein!«

 

»Ich soll ihn hierherbringen, Sir?« Trenter traute seinen Ohren nicht.

 

Gordon mußte seinen Auftrag wiederholen.

 

»Er ist aber kein Gentleman«, warnte Trenter, der sich schon im voraus wegen seines Bekannten entschuldigen wollte.

 

Das stimmte auch. Mr. Superbus war wirklich kein feiner Mann. Gordon hatte sich zwar auch keinen falschen Illusionen darüber hingegeben. Trenter war gespannt, was bei der Zusammenkunft herauskommen würde. Er wußte ja, daß sein Freund ihm bei nächster Gelegenheit alles erzählen würde.

 

Er brachte Mr. Superbus in das Studierzimmer und zog sich dann diskret zurück.

 

Nichts an der Erscheinung dieses Mannes erinnerte an die römische Kultur während ihrer Glanzzeit.

 

Er war sehr klein und korpulent und watschelte mehr als er ging. Er hatte einen großen Kopf, ein rotes Gesicht und einen kleinen, struppigen schwarzen Schnurrbart, den er offensichtlich färbte. Auf seinem sonst kahlen Schädel wuchsen noch siebenundzwanzig Haare, dreizehn auf der einen und vierzehn auf der anderen Seite. Er pflegte sie des öfteren zu zählen.

 

So stand er vor Gordon, atmete hörbar und drehte seinen Hut in seinen blau angelaufenen Händen.

 

»Nehmen Sie bitte Platz, Mr. Superbus«, sagte Gordon verlegen. »Trenter erzählte mir, daß Sie – ich meine, daß Sie Römer sind.«

 

Mr. Superbus verneigte sich, bevor er sich setzte, als ob er sich überzeugen wolle, daß seine Füße auch noch zur Stelle seien.

 

»Jawohl, Sir«, sagte er mit einer tiefen Stimme. »Ich kann wohl sagen, daß ich das bin. Wir Superbusse« – er betonte dieses Wort so, daß man annehmen konnte, er meine Autobusse von besonderer Größe – »stammen aus einer alten, viele Generationen zählenden Familie. Es sind nur noch vier von uns übriggeblieben. Erstens, meine Wenigkeit, dann mein Bruder Augustus, der ein junges Mädchen in Coventry heiratete, weiter meine Schwester Agrippa, die jetzt sehr gut mit ihrem dritten Mann lebt. Und dann ist noch Scipius da, der ist auf der Bühne.«

 

»Wirklich? Ist er Schauspieler?« Gordon war einen Augenblick verdutzt über diesen Aufmarsch einer ganzen römischen Kohorte.

 

In der Nähe von Caesaromagnus liegt die Universität von Cambridge, und einige sarkastische Antiquare dieser Stadt erzählten, daß die so illustre Familie Superbus ihren Ursprung der grillenhaften Laune einiger Studenten verdankt, die vor mehr als hundert Jahren dort lebten. Sie hatten in ihrem Übermut die Familie eines armen Fuhrmannes mit Namen Sooper aufgegriffen und sie auf diesen lateinischen Namen getauft. Mr. Superbus hatte auch von diesen Gerüchten gehört, aber er hatte sie mit Verachtung von sich gewiesen.

 

»Wo unsere Familie eigentlich herstammt, kann ich Ihnen nicht sagen.« Er sprach jetzt über sein Lieblingsthema. »Aber Sie wissen ja, wie Frauen sind, wenn echte Römer auftreten!«

 

Gordon gab sich nicht die Mühe, dies auch nur zu vermuten.

 

»Nun, Mr. Superbus, Sie haben eine – hm, sehr wichtige Position – Sie sind Detektiv, soviel ich weiß?«

 

Mr. Superbus nickte ernst.

 

»Es ist doch ein sehr interessanter Beruf, die Leute zu beobachten, vor Gericht aufzutreten und Zeugnis über ihre verschiedenen Missetaten und Verbrechen abzulegen?«

 

»Da sind Sie falsch unterrichtet – ich trete niemals vor Gericht als Zeuge auf. Ich bin sozusagen mehr kaufmännisch tätig. Natürlich erscheine ich auch vor Gericht bei einem besonderen Kuhp zum Beispiel –«

 

»Kuhp? Was meinen Sie denn mit Kuhp?« fragte Gordon erstaunt.

 

»Nun, ich meine – Sie verstehen doch, was ich sagen will wenn ich eine ganz große, geschäftliche Sache mache –«

 

»Ach, Sie sprechen von einem Coup!«

 

»Ich nenne das immer Kuhp«, erwiderte Mr. Superbus liebenswürdig. »Augenblicklich habe ich einen ganz großen Kuhp vor.« Er sprach ganz leise und beugte sich so weit wie möglich zu Gordon vor. »Ich bin nämlich hinter dem Doppelgänger her«, flüsterte er heiser.

 

Ein schwerer Stein fiel Gordon vom Herzen. Die Sache hatte also nichts mit Mrs. van Oynne und nichts mit ihrem großen, brutalen Ehemann zu tun, der sich mehr mit seinen Hunden und Pferden als mit seiner feinsinnigen, intellektuellen und schönen Frau beschäftigte.

 

»Ich kann mich auf den Namen besinnen – der Doppelgänger ist doch ein Verbrecher? Ist das nicht der Mann, der in der Rolle seiner Opfer auftritt?«

 

»Ja, das ist er, Sir«, entgegnete Mr. Superbus. »Er ahmt sie nicht nur nach, er ist dann wirklich der Betreffende selbst. Nehmen Sie doch nur den Fall von Mr. Smith –«

 

Gordon erinnerte sich daran.

 

»Sie können sich doch kaum vorstellen, daß ihn jemand nachmachen könne, obwohl es nicht so schwer war, da er einen weißen Backenbart trägt und nicht verheiratet ist. Der Doppelgänger hat den Alten um achttausend Pfund erleichtert. Das hat er wieder einmal gekonnt! Erst hat er den wirklichen Smith weggelockt, dann erschien er plötzlich im Privatbüro und schickte einen neuen Angestellten mit einem Scheck zur Bank. Deswegen hat sich doch Smith jetzt aufs Land zurückgezogen. Er hat sich schwer blamiert und kann sich in Gesellschaft nicht recht sehen lassen.«

 

»Ach so, jetzt verstehe ich«, sagte Gordon langsam. »Sie handeln im Auftrag –«

 

»Der Vereinigung der Versicherungsgesellschaften. Der Mann sucht seine Opfer nämlich meistens unter Direktoren und Generalvertretern dieser Branche aus.«

 

Gordon lachte vergnügt, was er selten tat.

 

»Und Sie sind mir gefolgt, um mich zu beschützen?«

 

»Das gerade nicht«, sagte Mr. Superbus mit der Zurückhaltung, die ihm sein Beruf auferlegte. »Ich wollte Sie nur kennenlernen, damit ich später im Bilde bin, wenn der Doppelgänger versucht, in Ihrer Rolle aufzutreten.«

 

»Darf ich Ihnen eine Zigarre anbieten?«

 

Mr. Superbus nahm sie gnädig an und sagte dann, er werde sie zu Hause rauchen, als er sie einsteckte.

 

»Meine Frau liebt nämlich den Rauch einer guten Zigarre so sehr. Außerdem kommen die Motten dann nicht in die Vorhänge. Denken Sie, mein Herr, ich bin jetzt dreiundzwanzig Jahre glücklich verheiratet. Es gibt keine bessere Frau auf der Erde als die meine.«

 

»Ist sie auch Römerin?«

 

»Nein, sie stammt aus Devonshire.«

 

*

 

Als Diana eine halbe Stunde später wieder in das Zimmer trat, stand Gordon an den Kamin gelehnt. Er hatte die Hände auf den Rücken gelegt, den Kopf leicht geneigt und schien ganz in Gedanken versunken zu sein.

 

»Wer war denn dieser kleine merkwürdige Mann?« fragte sie.

 

»Er heißt Superbus«, erwiderte er, plötzlich aus seinen Träumen gerissen. »Er hat einige Nachforschungen angestellt. Er will einem Verbrecher auf die Spur kommen, der einen anderen Geschäftsfreund um achttausend Pfund betrogen hat.«

 

»Ach!« sagte Diana und setzte sich schnell nieder, denn die Erinnerung an den verstorbenen Mr. Dempsi wurde plötzlich sehr lebendig in ihr.

 

Kapitel 7

 

7

 

Diana hatte Bobby Selsbury sofort gern, als sie ihn zum erstenmal sah. Er war die etwas kleinere Ausgabe seines älteren Bruders, ein offenherziger junger Mann, der mehr Neigung für Revuetheater und modernen Tanz hatte als Gordon. Er war mit einer jungen Kanadierin verlobt und interessierte sich daher weniger für andere Frauen. Er war Diana um so lieber, weil er nicht dieses innere Seelenfeuer hatte, unter dem sein Bruder so häufig litt.

 

Bobby war schon zweimal zum Abendessen gekommen, und beim zweitenmal glaubte Gordon, daß sein Bruder nun schon genügend Bekanntschaft mit dem ungebetenen Gast geschlossen habe, um einmal offen über Dianas unschickliches Benehmen sprechen zu können.

 

»Ich sehe gar nicht ein, wozu sie eine Gesellschaftsdame braucht, wenn sie mit einem so alten Herrn wie du zusammenlebt«, sagte Bobby-. »Außerdem seid ihr doch Vetter und Base, und seitdem Diana hier wohnt, ist Cheynel Gardens wenigstens einen Besuch wert. Früher war es furchtbar trist und öde hier.«

 

»Aber was werden denn die Leute sagen?« protestierte Gordon.

 

»Du hast mir doch neulich selbst gesagt, daß du dich über die Meinung der Leute hinwegsetzen kannst«, erwiderte der Verräter Bobby. »Du erzähltest mir, daß die Ansichten der hoi polloi, der großen Masse, auf dich nicht den geringsten Eindruck machen. Du sprachst davon, daß ein Mann sich nicht um das Urteil der Öffentlichkeit zu kümmern brauche. Ferner –«

 

»Was ich damals sagte«, fuhr Gordon aufgeregt dazwischen, »läßt sich nur auf gewisse philosophische Schulen im allgemeinen anwenden, aber niemals auf Fragen des guten Tons und der Wohlanständigkeit!«

 

»Diana ist nun einmal hier, und du kannst doch ein verflucht glücklicher Teufel sein, daß du jemand hast, der dir deine Socken stopft. – Zahlt er dir denn eigentlich etwas dafür?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Ich lebe von meinem kleinen Kapital«, sagte sie fast wehmütig.

 

Gordon fühlte sich schuldbeladen, aber er griff dieses Thema erst am nächsten Morgen wieder auf.

 

»Ich fürchte, daß ich sehr gedankenlos war, Diana. Kaufe dir bitte alles, was du nötig hast, und sage es mir, wenn du Geld brauchst.«

 

Sie lehnte sich in ihren Stuhl zurück und lachte leise.

 

»Du bist doch tatsächlich darauf hereingefallen! Ich brauche doch überhaupt kein Geld, ich bin sehr reich.«

 

»Aber warum hast du denn Bobby gesagt –«

 

»Mitgefühl tut mir so wohl«, erwiderte sie ruhig. »Und in diesem Hause bringt mir mit Ausnahme Eleanors niemand Sympathie entgegen. Sie ist wirklich ein hübsches, gutes Mädchen. Meinst du nicht auch?«

 

»Es ist mir noch niemals aufgefallen.«

 

»Das wußte ich, als ich entdeckte, daß du sie noch nie geküßt hast.«

 

Gordon hatte gerade einen großen Bissen Schinken im Mund und konnte nicht gleich protestieren.

 

»Nein, du mußt nicht annehmen, daß ich solche Fragen an die Dienstboten stelle. Aber eine Frau hat feine Instinkte und findet immer einen Weg, um solche Dinge herauszubekommen. Gordon, du bist nicht belastet«, fügte sie mit einer großzügigen Geste hinzu.

 

»Deine Philosophie ist verwirrend«, sagte er, nachdem er sich wieder beruhigt hatte. »Wie bist du nur auf den Gedanken gekommen, daß ich sie hätte küssen sollen?«

 

»Das ist doch sehr einfach. Sie ist hübsch, und alle Männer küssen gern hübsche Mädchen, wenigstens wenn sie normal sind. Viele Leute haben mich schon küssen wollen.«

 

Gordon zog die Augenbrauen hoch, ohne aufzuschauen.

 

»Du fragst mich ja gar nicht, ob ich ihnen auch erlaubte, mich zu küssen«, fragte sie nach einer Weile.

 

»Das interessiert mich nicht«, sagte Gordon kühl.

 

»Nicht ein ganz klein wenig?«

 

Ihre Stimme klang fast ängstlich, aber er ließ sich nicht täuschen. Er hatte durch harte Erfahrung lernen müssen, daß Diana sich vor Lachen gewöhnlich innerlich ausschütten wollte, wenn sie so war. – Ein schreckliches Mädchen! »Ich habe nur zwei Liebesaffären gehabt«, fuhr sie fort und kümmerte sich gar nicht darum, daß er anscheinend nichts davon hören wollte. »Zuerst mit Dempsi – und dann mit Dingo.«

 

»Wer war denn Dingo?« Er hatte sich also doch wieder fangen lassen.

 

»Er hieß in Wirklichkeit nicht Dingo, sondern Mr. Theophilus Shawn. Später stellte sich heraus, daß er ein verheirateter Mann mit fünf Kindern war.«

 

»Großer Gott!«

 

»Er hat mich aber niemals küssen dürfen. Seine Frau kam und holte ihn weg, als ich mich gerade an den Gewürznelkenduft gewöhnt hatte. Er knabberte nämlich immer solches Zeug. Er wohnte bei meiner Tante. Sie hatte ihn bei einem Vortrag über Sonnenflecken kennengelernt, aber sie wußte nicht, daß er verheiratet war, bis ihn seine Frau bei uns abholte. Sie war äußerst nett und dankte mir, daß ich mich um ihn gekümmert habe. Diese Frau hat sich für ihren Mann sehr interessiert. Die Frauen sollten eigentlich ihre Männer gründlich kennenlernen, bevor sie heiraten. Meinst du nicht auch, Gordon?«

 

Mr. Selsbury seufzte.

 

»Ich glaube, du redest da einen großen Unsinn, und ich wünsche beim Himmel, daß du deinen Mann kennenlernst!«

 

Sie lächelte, aber sie antwortete nicht. Sie fühlte, daß sie ihn für heute genügend geärgert hatte. Er war im Begriff, vom Frühstückstisch aufzustehen, als sie sich auf eine Frage besann, die sie ihm vorlegen wollte.

 

»Gordon, gestern kam doch ein Mann mit einem griechischen Namen hierher –«

 

»Du meinst mit einem lateinischen – es war Mr. Superbus.« Sie nickte.

 

»Was wollte der eigentlich? Wen suchte er?«

 

»Er war hinter einem Verbrecher her, einem Mann, der allgemein als der ›Doppelgänger‹ bekannt ist. Er ist ein ganz gemeiner Schwindler.«

 

»Ach so«, sagte Diana und schaute auf das Tischtuch. »Gehst du jetzt fort, Gordon? Wann wirst du wieder nach Hause kommen?«

 

»Wenn es meine Geschäfte gestatten«, sagte er würdevoll. »Weißt du, Diana, daß noch niemals jemand diese Frage an mich gerichtet hat?«

 

»Aber ich frage dich doch täglich danach!« sagte sie erstaunt.

 

»Ich meine natürlich, niemand außer dir. Mein Kommen und Gehen ist noch nie kontrolliert worden. Und ich sehe auch gar nicht ein, warum das nötig ist.«

 

»Aber ich frage doch nur ganz bescheiden. Ich will doch nur wissen, wann das Abendbrot fertig sein muß.«

 

»Es ist möglich, daß ich heute abend nicht zu Tisch komme«, sagte Gordon kurz. Er ging fort, um sich in seine Tätigkeit zu stürzen, denn sein Geschäft war in letzter Zeit sehr aufgeblüht, und er war gerade damit beschäftigt, einen neuen Versicherungszweig zu organisieren. Er war fest entschlossen, die Frage, die ihn in seinen Gedanken und Überlegungen störte, für die Stunden seiner Arbeitszeit auszuschalten. Erst beim Mittagessen dachte er wieder an die beabsichtigte Reise nach Ostende mit der Seelenfreundin. Er wünschte, daß Heloise van Oynne einen anderen Platz als gerade Ostende ausgesucht hätte. Dieser weltbekannte Badeort paßte ihm nicht, man verband mit ihm gewöhnlich den Begriff von zügelloser und luxuriöser Lebensführung. Er fühlte auch, daß er wahrscheinlich Diana gegenüber viel mehr Festigkeit und Rückgrat zeigen könnte, wenn er nicht selbst auf verbotenen Wegen ginge, oder zum mindesten beabsichtigte, die althergebrachte Sitte zu durchbrechen.

 

Der Plan der Ostender Reise war wirklich verrückt, und er fragte sich, von wem er eigentlich ausgegangen sei. Aber schließlich brauchte er ja gar nicht erkannt zu werden, wenn er nicht gerade immer am Landungssteg spazierenging, wo die Dampfer vom Kontinent anlegten. Im Notfall konnte er auch sein Aussehen ein wenig verändern … Es wurde ihm heiß und kalt bei dem Gedanken. Diana hatte sich doch schon immer über seinen kleinen Backenbart lustig gemacht. Auch sein Friseur machte immer Bemerkungen über diese kleinen Bartansätze. Er hatte auch selbst schon ganz ernsthaft an ihre Entfernung gedacht, besonders seitdem sich Heloise darüber gewundert hatte. Sie meinte, daß sie ihn viel älter machten, als er in Wirklichkeit sei, und es würde natürlich ein liebenswürdiges Kompliment ihr gegenüber bedeuten, wenn er ihr an dem Tag ihrer Reise glattrasiert gegenüberträte. Andererseits ging man aber auch nicht in Cut und Zylinder nach Ostende. Er könnte vielleicht einen Sportanzug tragen – aber er hatte einen Schneider, der ihn beraten konnte, und er sprach auf seinem Heimweg bei diesem Mann vor, der natürlich sogleich im Bilde war und aufmerksam zuhörte.

 

»Wenn Sie an die belgische Küste gehen, würde ich Ihnen den Vorschlag machen, sich ein paar leichte Sommeranzüge anfertigen zu lassen. Graukariert ist augenblicklich Mode – graue Karos mit einer roten Betonung in der Mitte. Aber nein, Sir, o nein! Lord Furnisham hat erst im letzten Monat einen solchen Anzug bestellt, und wie Sie wissen, ist er ein Mann von feinem Geschmack, der immer nach der letzten Mode gekleidet geht.«

 

Gordon sah die Muster durch und war bestürzt über ihre Farbenfreudigkeit. Aber vielleicht wäre es ganz gut – wer würde Gordon Selsbury denn in einem modernen, flotten Anzug aus graukariertem Stoff mit lebhaften roten Punkten erkennen?

 

»Ist das Muster nicht doch etwas grell?« protestierte er.

 

Der Schneider lächelte nur nachsichtig, als Gordon meinte, es wäre doch wohl besser, wenn er sich den Anzug aus dunkelblauer Seide machen ließe.

 

Schließlich ließ sich Gordon überreden und bestellte den graukarierten Anzug. Er tröstete sich damit, daß er die Reise ja nicht auszuführen brauche. Fest verpflichtet war er unter keinen Umständen. Wenn er aber doch reisen würde, hatte er wenigstens beizeiten schon für die Ausrüstung gesorgt, und dieser Gedanke war in gewisser Weise auch beruhigend.

 

Doch ein Gedanke beschäftigte ihn stark. Er mußte doch irgendwie erreichbar sein, wenn unerwartete, geschäftliche Ereignisse sein persönliches Eingreifen erforderten.

 

Dies war in Wirklichkeit der Hauptgrund seiner Abneigung gegen diese Fahrt. Er konnte dieses Abenteuer ja nur unternehmen, wenn er noch einen Dritten ins Vertrauen zog. Diana war natürlich für diesen Posten unmöglich. Gordon kniff die Lippen zusammen und wiederholte in Gedanken die Ausdrücke, in denen er seinem Stellvertreter den Charakter seiner Reise erklären wollte. Aber sooft er auch versuchte, diese so merkwürdige und unglaublich klingende Geschichte in Worte zu fassen, war er ärgerlich und unzufrieden mit sich selbst. Er ließ alle in Frage kommenden Menschen an seinem Geist vorüberziehen und kam dabei immer wieder auf seinen Bruder Bobby zurück.

 

*

 

Robert G. Selsbury hatte ein Büro an der Mark Lane, wo er mit beträchtlichem Gewinn von zehn Uhr morgens bis vier Uhr nachmittags Tee, Kaffee und Zucker kaufte und verkaufte.

 

Als Gordon gemeldet wurde, prüfte Bobby gerade eine neue Teeprobe, die eben aus China eingetroffen war.

 

»Wie, Mr. Gordon Selsbury?« fragte Bobby ungläubig. »Bitten Sie ihn herein«, sagte er, als die Stenotypistin es bestätigte. »Nun, was ist denn los?«

 

Gordon nahm etwas steif auf einem Sessel Platz, setzte seinen funkelnden, tadellosen Zylinder auf den Tisch und zog langsam die Handschuhe aus.

 

»Robert, ich bin in einer unangenehmen Lage – und ich möchte dich um deine Hilfe bitten.«

 

»Geld kann es doch nicht sein – also hast du eine Liebesaffäre. Wer ist es denn?«

 

»Es handelt sich weder um Geld noch um Liebe«, widersprach Gordon etwas gereizt. »Es ist – nun ja, es ist eine sehr delikate Angelegenheit.«

 

Bobby pfiff, und Pfeifen kann unter Umständen sehr beleidigend wirken.

 

»Ich will dir die näheren Umstände erklären.« Aber er mußte erst mit sich selbst kämpfen und war schon nahe daran, eine Entschuldigung für seinen Besuch zu finden und sich wieder zu verabschieden.

 

»Kommst du wegen Diana?«

 

»Nein, nein, Diana hat mit der ganzen Sache nichts zu tun. Es handelt sich um folgendes, alter Junge …«

 

Der »alte Junge« gab Bobby zu denken. Das zeigte, daß sein Bruder nicht mehr ganz normal war. So hörte er denn gut zu, ohne ihn zu unterbrechen. Aber die Geschichte, die Gordon vorbrachte, war die lahmste, die Bobby jemals gehört hatte, das war die durchsichtigste Schwindelei, die jemals einer zweifelnden Mitwelt unterbreitet wurde.

 

»Wer ist denn eigentlich diese Mrs. van Oynne?« fragte er schließlich.

 

»Sie ist … nun, ja, ich möchte nicht über sie sprechen. Ich habe sie früher bei einem Diskussionsabend kennengelernt … sie ist einfach wundervoll!«

 

»Ja, das möchte ich auch sagen«, entgegnete Bobby trocken. »Du wirst natürlich nicht mit ihr verreisen?«

 

Es bedurfte nur dieser Frage, um Gordons Widerspruchsgeist zu entfesseln.

 

»Aber selbstverständlich werde ich das tun«, sagte er entschieden. »Ich brauche diesen Wechsel, ich muß einmal eine seelische Erholung haben.«

 

»Aber warum geht ihr denn nach Ostende, um über Seelenharmonie zu diskutieren? Wie wäre es denn mit Battersea-Park? Ich habe noch nie eine so verrückte Idee gehört! Wenn du dir in Ostende deinen guten Namen verderben willst, kannst du dich in Zukunft ebensogut Hochwohlgeboren Herr Wüstling nennen. Ich nehme ja an, daß du mir die Wahrheit sagst. Wenn mir das ein anderer erzählte, würde ich niemals im Zweifel sein, was ich darüber zu denken hätte – ich würde wissen, daß es eine dicke Lüge ist. Hast du eigentlich schon an Diana gedacht?«

 

Das war allerdings eine verwirrende Frage. Gordon erschrak.

 

»Aber ich sehe gar nicht ein, was Diana überhaupt damit zu tun hat! Was zum Teufel geht sie denn diese Sache an?«

 

»Sie wohnt doch bei dir und ist doch deine Hausgenossin«, sagte Bobby ernst. »Jeder Schatten, der deinen guten Namen trifft, fällt auch auf sie.«

 

»Sie kann doch fortgehen – ich wünschte sogar, sie würde fortgehen!« rief Gordon böse. »Du bildest dir doch nicht etwa ein, daß ich auch nur die Möglichkeit zugebe, daß sie meinen Plänen irgendwie im Wege steht? Sie ist ein Eindringling – in gewisser Weise verachte ich sie. Manchmal ist sie mir direkt verhaßt. Willst du mir nun helfen oder nicht?«

 

Dieses Ultimatum schleuderte er seinem Bruder über den Tisch entgegen. Aber Bobby war friedlich gestimmt, er wollte keinen Krieg.

 

»Ich nehme an, daß ich dir nicht zu viel zu telegrafieren habe. Es wird sich ja wohl nichts in deiner Abwesenheit ereignen. Aber welchen Bären willst du denn nun Diana aufbinden?«

 

Mr. Gordon Selsbury schloß müde die Augen.

 

»Ist es denn nicht gleichgültig, was ich ihr erzähle?«

 

Das war eine tapfere Antwort, aber er wußte ganz genau, daß er doch eine Geschichte erfinden mußte, und zwar eine glaubwürdige.

 

»Ich bin nicht zum Lügen geboren – kannst du nicht etwas ausdenken?«

 

Bobby nahm das Taschentuch, um sein Lachen zu verbergen.

 

»Ich danke dir auf den Knien für das Kompliment, daß ich ein so geschickter Lügner bin.« Aber die Ironie verfing bei Gordon nicht. »Vielleicht erzählst du ihr, daß du nach Schottland auf die Jagd gehst?«

 

»Es widerstrebt mir, unwahre Behauptungen aufzustellen«, sagte Gordon und verzog das Gesicht. »Warum muß ich ihr denn überhaupt etwas sagen? Wann fängt denn eigentlich die Jagd in Schottland an?«

 

»Sie hat bereits begonnen. Du gehst schon am besten nach Schottland, das liegt weit weg. Dort triffst du wahrscheinlich auch keine Bekannten, denn du bist ja überhaupt nicht da.«

 

Gordon war eigentlich die ganze Unterhaltung zuwider.

 

»Es ist mir widerwärtig, daß ich unwahre Geschichten erzählen soll. Warum soll ich mich wegen meines Kommens und Gehens verantworten? Das ist einfach abgeschmackt! Aber es ist wohl besser, wenn ich Aberdeen als das Ziel meiner Reise angebe!«

 

Diana! Von allen Gründen, die gegen die Ostender Reise sprachen, war die Rücksicht auf sie die geringfügigste.

 

Gordon ging jetzt schon bei der Erwähnung ihres Namens hoch. Als er seine Wohnung in Cheynel Gardens erreicht hatte, war die Reise nach Ostende eine festbeschlossene Sache, die unwiderruflich war.

 

Zu Hause fand er ein Telegramm seines Agenten in New York vor, der ihn benachrichtigte, daß Mr. Tilmet ihn am nächsten Freitag persönlich in London besuchen werde. Zu seinem größten Schrecken entdeckte Gordon, daß er über den Überlegungen und Vorbereitungen für die Ostender Reise ein wichtiges Geschäft vollständig vergessen hatte. Sein Agent hatte in seinem Auftrag die Firma Tilmet & Voight gekauft, und Mr. Tilmet hatte den Wunsch geäußert, die Kaufsumme, fünfzigtausend Dollar, bar in London ausgezahlt zu erhalten, das er im Laufe einer Europareise besuchen werde. Die Kaufverträge waren schon mit einer früheren Post angekommen, und Gordon war davon verständigt worden, daß die Ankunftszeit Tilmets noch nicht genau festliege, daß er wahrscheinlich erst einige andere Länder aufsuchen, aber bestimmt seinen Besuch in Cheynel Gardens machen werde, um dieses Geschäft endgültig abzuschließen.

 

Gordon sah sofort die Schiffsliste der »Times« durch und stellte fest, daß die »Mauretania« um zwölf Uhr des gestrigen Tages fünfhundert Meilen westlich von Kap Lizard gemeldet worden war. Er überlegte schnell, er mußte also morgen die Summe im Hause haben, obgleich er gewöhnlich aus Prinzip keine geschäftlichen Handlungen außerhalb seines Büros vornahm. Aber diesmal waren ungewöhnliche Umstände im Spiel, und das Geschäft war außerordentlich vorteilhaft für ihn. Er notierte sich die Sache in sein Taschenbuch, machte eine zweite Eintragung auf den Umschlag seines Scheckbuches und ging dann nach oben, um sich umzuziehen. Er wollte heute mit Heloise zu Abend speisen und ihr persönlich die Nachricht überbringen, daß er sich entschlossen habe, den Plan auszuführen, den sie doch eigentlich ersonnen hatte. Sie hatte nach seinen letzten Mitteilungen ja schon ein Recht zu der Annahme, daß nicht mehr die geringsten Zweifel darüber bestanden.

 

Als er die Treppe wieder herunterkam, sah er Diana unten stehen. Sie trug ein elegantes Abendkleid aus elfenbeinfarbener Seide. Zwei Perlenketten waren um ihren Hals geschlungen. Er folgte ihr in das Studierzimmer und schaute sie erstaunt an, als sie sich jetzt umwandte. Das war eine ganz andere Diana. Es lag etwas Ätherisches, fast Überirdisches in ihrer Lieblichkeit.

 

»Diana, du siehst heute abend wundervoll aus«, sagte er.

 

Da er jetzt nach Ostende fuhr, war er großzügig.

 

»Danke«, sagte sie gleichgültig. »Mich kleidet diese Farbe immer sehr gut. Du wirst auch auswärts speisen, wie ich sehe? Wo gehst du denn hin?«

 

»Ich werde im Ritz-Carlton-Hotel essen. Und du?«

 

»Ich gehe zur australischen Gesandtschaft. Mr. Collings ist in geschäftlichen Angelegenheiten gekommen. Er hat heute nachmittag hier seinen Besuch gemacht. Er ist mein Rechtsanwalt und ein netter Mensch.«

 

Gordon murmelte irgend etwas, das eine Liebenswürdigkeit sein sollte. Er war froh, denn Diana beschwerte nun auf keinen Fall heute abend sein Gewissen, und diese Sicherheit war wohltuend.

 

Sie sonnte sich in seiner unausgesprochenen Bewunderung und freute sich über den glänzenden Eindruck, den sie auf ihn gemacht hatte. Aber sie verwischte ihn zu seinem großen Ärger sofort wieder, indem sie eine Schublade seines heiligen Schreibtisches aufschloß.

 

»Wer hat dir denn den Schlüssel dazu gegeben?« fragte er entrüstet.

 

»Es paßte einer von meinen eigenen dazu«, sagte sie, ohne im mindesten verlegen zu sein. »Die Schublade war leer, es lagen nur ein paar deutsche philosophische Bücher darin. Die habe ich einfach herausgenommen und das Schloß ändern lassen. Ich muß doch irgendeinen Platz haben, wo ich meine Sachen verwahren kann.«

 

Er schluckte seinen Ärger hinunter.

 

»Was mußt du denn verwahren?«

 

»Meinen Schmuckkasten.«

 

»Der wäre aber doch viel sicherer in meinem Geldschrank aufgehoben.«

 

»Wie heißt denn das Kennwort?«

 

»Alma«, sagte er, bevor ihm klar wurde, welche Dummheit er gemacht hatte. Niemand außer ihm hatte bisher dieses Geheimnis gewußt.

 

Aber ehe er explodieren konnte, hatte sie einen kleinen schwarzen Gegenstand aus der Schublade genommen und auf die Tischplatte gelegt. Gordon wich bei dem Anblick etwas zurück.

 

»Aber, Diana, du solltest doch keine Schußwaffe im Haus halten«, sagte er nervös. »Wenn du mit einem solchen Ding spielst, könntest du dir Schaden tun – du könntest dich verletzen!«

 

»Ich kenne den Revolver in- und auswendig. Ich kann dieses Schlüsselloch treffen – ich wette, dreimal mit fünf Schüssen.« Sie zeigte auf die Tür.

 

»Aber um Gottes willen! Die Waffe ist doch nicht etwa geladen?«

 

»Aber natürlich ist sie geladen.« Sie nahm die Pistole zärtlich in die Hand. »Im Lauf ist keine Patrone, aber es steckt ein voller Rahmen im Magazin. Soll ich dir den Mechanismus zeigen?«

 

»Nein, leg das schreckliche Ding doch weg!«

 

Diana gehorchte, schloß die Schublade zu und steckte den Schlüssel in die Handtasche.

 

»Alma – das Wort muß ich mir merken«, sagte sie erfreut.

 

»Vergiß es lieber so schnell wie möglich! Ich hatte wirklich nicht die Absicht, dir oder sonst jemand das Kennwort zu meinem Geldschrank zu verraten. Es ist eigentlich nicht recht, daß du es weißt – du könntest vielleicht aus Versehen –«

 

»Merke dir, daß ich niemals etwas aus Versehen tue. Aus Niedertracht oder aus Schadenfreude tue ich manchmal etwas, aber dann geschieht es mit voller Überlegung und Absicht. Du könntest mich übrigens bei der Gesandtschaft absetzen«, sagte sie, als Eleanor ihr in den Mantel half.

 

»Sie liegt ja ganz in der Nähe des Ritz-Hotels. Wenn du allerdings vorher noch jemand abholen willst …«

 

Gordon wollte tatsächlich jemand abholen und hatte gar nicht die Absicht, zum Ritz-Carlton zu fahren, sondern zum Buckingham Gate. Infolge der veränderten Fahrtroute kam er fünf Minuten zu spät. Die Zurückhaltung, die Mrs. van Oynne zeigte, war direkt heroisch. Er entschuldigte sich vielmals und erklärte ihr seine Verspätung.

 

»Also schon wieder Diana«, sagte sie vorwurfsvoll. »Ich hasse dieses Mädchen mit der Zeit!«

 

»Meinen Sie Diana?«

 

»Ja«, sagte Heloise schnell. »Aber Gordon, Sie glauben gar nicht, wie sehr ich mich auf den nächsten Sonnabend freue.«

 

»Es ist mir allerdings eingefallen, daß am Sonnabend viel Verkehr ist. Die Züge werden von Leuten überfüllt sein, die zum Wochenende fortfahren.« Sie seufzte.

 

»Wir brauchen ja nicht zusammen zu reisen«, sagte sie resigniert. »Wie vorsichtig und schüchtern Sie doch sind!«

 

»O nein, ich bin durchaus nicht schüchtern!« protestierte Gordon verletzt. »Ich bin nur Ihretwegen besorgt – das ist mein einziger Grund. Übrigens habe ich Robert ins Vertrauen gezogen und ihm alles erzählt.«

 

»Das ist Ihr Bruder, nicht wahr? Was hat er denn gesagt?« Sie war neugierig.

 

»Robert ist ein Geschäftsmann, der wenig Phantasie hat. Zuerst dachte er – nun ja, Sie wissen ja selbst, was gewisse Leute immer denken werden, meine teure Heloise.«

 

»Könnten wir nicht eigentlich schon am Freitag fahren?«

 

»Das ist unmöglich. Am Freitag besucht mich ein Geschäftsfreund.« Er erzählte ihr von Mr. Tilmet.

 

Während des Essens beobachtete sie, daß er etwas zerstreut war. Sie nahm an, daß er sich wegen der bevorstehenden Reise Gewissensbisse mache. Aber damit hatte sie nicht recht, denn Gordon dachte im Augenblick an Diana. Er wunderte sich, wie es möglich war, daß er erst heute auf ihren wunderbaren Teint und ihre Figur aufmerksam geworden war. In gewisser Weise hatte er sich daran gewöhnt, Diana zu ertragen und ein grimmiges Vergnügen zu empfinden, wenn sie ihm das Leben schwer machte. Aber er mußte zugeben, daß sie seinen Haushalt glänzend führte, denn sie hatte die Ausgaben bedeutend eingeschränkt. Sie war wirklich eine vorzügliche Hausfrau.

 

»Warum lächeln Sie denn?« fragte Heloise.

 

»Ach, habe ich gelächelt?« meinte er verlegen und beinahe entschuldigend. »Ich wußte es gar nicht, ich dachte an etwas – hm an etwas, das in meinem Büro passierte.«

 

Selbst in seinen kühnsten Träumen hätte er nie geglaubt, daß er sich jemals wegen Diana herauslügen müßte.

 

Kapitel 8

 

8

 

Als Diana nach Hause kam, war Gordon schon zurück. Er war nachdenklich und außerordentlich verlegen. Es war auch ganz ungewöhnlich, daß er noch auf war, im allgemeinen legte er sich sofort zur Ruhe, wenn er von einem Essen oder vom Theater nach Hause kam und ließ sich unter keinen Umständen um diese Zeit noch in große Unterhaltungen ein.

 

»Hast du dich gut amüsiert?« fragte er.

 

»Prächtig! Die Spitzen des Kolonialamtes waren da, es war eine auserlesene Gesellschaft. Du bist natürlich zu spät zur Verabredung gekommen – war sie sehr ärgerlich?«

 

Unter anderen Umständen hätte er eine solche Frage einfach unbeantwortet gelassen.

 

»Ich kam etwa fünf Minuten zu spät – die Dame war natürlich –«

 

»Verstimmt?« ergänzte sie. »Siehst du, es war doch eine Dame! Gordon, kann ich sie nicht einmal sehen?«

 

Er lächelte.

 

»Ich glaube nicht, daß du dich für sie interessieren würdest. Sie ist eine durchaus geistige Frau.«

 

Diana zeigte sich nicht beleidigt.

 

»Wovon hast du denn mit der Dame gesprochen? Über den freien Willen oder über Doppelwährung?«

 

Er war in guter Stimmung und sogar mitteilsam.

 

»Wir sprachen über Bücher und Menschen«, sagte er leichthin. »Und worüber hast du dich unterhalten?«

 

Sie legte ihr Cape über eine Stuhllehne, zog den Sessel nahe an den Kamin und setzte sich, um ihre Knie zu wärmen. Gordon, der sehr diskret war, setzte sich so, daß er es nicht sehen konnte.

 

»Wir haben über Handel im allgemeinen, über die Güte des australischen Rindfleisches, über die Schwierigkeit, gute Dienstboten zu bekommen, und über die Affäre von Mrs. Carter-Corrillio gesprochen. Es ist doch wirklich unglaublich, was diese Frau getan hat – sie ist mit dem Sekretär der montenegrinischen Gesandtschaft nach Frankreich gereist. Sie war nur drei Tage dort, aber wie Lady Penford betonte, hat jeder Tag vierundzwanzig Stunden. Manche Frauen sind doch nicht gescheit, und die meisten Männer sind in solchen Fällen verrückt. Seine Karriere ist natürlich ruiniert, obgleich er einen Eid darauf leistet, daß sie die Reise nur wegen der Gräberfunde von Abbeville unternommen haben. Sie sind beide interessiert an Archäologie.«

 

»Und warum sollte denn das nicht die richtige Erklärung für ihre Reise sein?« fragte Gordon trotzig. Dieser für Archäologie interessierte Gesandtschaftssekretär war ihm sehr sympathisch. »Warum sollen denn Männer und Frauen nicht auch einmal durch wissenschaftliche Interessen verbunden sein?«

 

»Wir können ja abwarten, was der Richter dazu sagt. Mr. Carter-Corrillio hat die Scheidungsklage eingereicht.«

 

»Was hat er denn als Grund angegeben? Gegenseitige Unverträglichkeit in archäologischen Fragen?«

 

»Sei doch nicht so verrückt. Die Konvention ist nun einmal das Gesetz der Gesellschaft, und wer dieses überschreitet, scheut wahrscheinlich auch nicht davor zurück, das wirkliche Gesetz zu verletzen.«

 

Er starrte sie verblüfft an, als sie diese inkonsequente Ansicht äußerte.

 

»Aber, Diana, du selbst wohnst hier ohne Anstandsdame im Hause eines Junggesellen –«

 

»Das ist etwas ganz anderes, wir sind doch miteinander verwandt«, erwiderte sie prompt. »Niemand sagt etwas davon, daß der Gesandtschaftssekretär der Vetter von Mrs. Carter-Corrillio ist. Das ist doch ein Unterschied. Außerdem weiß jedermann, wie unsympathisch ich dir bin.«

 

»Das stimmt zwar nicht, aber wenn du davon überzeugt bist, warum bleibst du denn noch hier?«

 

»Ich habe eine Mission hier«, erklärte sie so entschieden, daß er nichts mehr erwiderte. Er verschob die Mitteilung seiner bevorstehenden Abreise auf den nächsten Morgen.

 

»Ich habe die Absicht, nach Schottland zu fahren und dort auf die Hühnerjagd zu gehen«, sagte er beim Frühstück. Er hatte aber ein schlechtes Gewissen, als er ihr das vorlog.

 

»Was haben dir denn die Hühner getan?« fragte sie. Ihre großen, graublauen Augen sahen ihn vorwurfsvoll an.

 

»Nichts – aber man schießt sie doch in dieser Jahreszeit. Ihr habt doch vermutlich auch Schonzeiten in Australien?«

 

»Das weiß ich nicht, ich habe Känguruhs, Dingos, Kaninchen und andere Tiere geschossen, aber niemals Vögel. Nach Schottland? Das ist aber sehr weit weg, Gordon. Da werde ich mir Sorge um dich machen. Ich habe noch heute morgen von einem Eisenbahnunglück in der Zeitung gelesen. Wirst du mir auch telegrafieren, wenn du angekommen bist?«

 

»Von jeder Station«, sagte er sarkastisch. Er schämte sich aber, als sie seine Worte ernst nahm und ihm herzlich für sein Versprechen dankte.

 

»Darüber bin ich sehr froh. Ich habe immer Angst, daß Leute, die ich gern habe, bei Eisenbahnunglücken zu Schaden kommen könnten. Aber es ist gar nicht nötig, daß du mir telegrafierst, ich kann das ja auch tun. Ich kann ja an den Stationsvorsteher oder an das Hotel depeschieren, in dem du logierst.«

 

Gordon wurde es plötzlich klar, welch eine große Dummheit er wieder begangen hatte. Die an und für sich schon schwierige Situation war nun noch bedeutend verwickelter geworden. Jetzt konnte er ihr nicht mehr mit einer einfachen Entschuldigung kommen oder über ihre Ängstlichkeit lachen, mochte sie nun wirklich vorhanden oder nur vorgetäuscht sein. Er dachte an eine Lösung, aber er verwarf sie sofort wieder. Aber dann kam er doch wieder darauf zurück, weil sie unter den gegebenen Umständen der einzige Ausweg war. Aber er konnte diesen Plan nur auf Kosten seiner Selbstachtung durchführen. Beinahe fluchte er schon auf Heloise und den Idioten, der diese verrückte Reise vorgeschlagen hatte.

 

Trenter legte gerade den Anzug seines Herrn zurecht, den er am Abend tragen wollte, als Gordon in den Ankleideraum trat.

 

»Bleiben Sie hier, Trenter. Wann hatten Sie Ihren letzten Urlaub?«

 

»Im April, Sir.«

 

Gordon überlegte.

 

»Kennen Sie Schottland?«

 

»Jawohl, ich bin öfters mit den Familien, bei denen ich diente, im September dort auf der Jagd gewesen.«

 

»Nun, das ist gut. Trenter, ich muß in einer bestimmten Angelegenheit eine Reise machen, die ich selbst vor meinen besten Freunden geheimhalte. Ich habe sehr wichtige Gründe dafür, heimlich an einen bestimmten Platz zu fahren, während man mich woanders vermutet. Aber damit will ich Sie nicht beschweren, Sie würden es auch nicht verstehen.«

 

Trenter hatte wenig Anhaltspunkte für seine Vermutungen, aber er traf mit seiner ersten Anspielung gleich das Richtige.

 

»Handelt es sich um eine Dame, Sir?« fragte er diskret.

 

»Nein!«

 

Gordons Gesicht verdunkelte sich, er war sehr ärgerlich.

 

»Natürlich nicht. Es ist eine, rein geschäftliche Angelegenheit, die gar nichts mit einer Dame zu tun hat!«

 

»Es tut mir furchtbar leid«, sagte Trenter verlegen.

 

»Wir wollen über den Zweck meiner Reise nicht weiter sprechen. Ich wollte Ihnen nur folgendes sagen. Miss Ford ist etwas nervös und ängstlich und hat mich gebeten, ihr in kurzen Zwischenräumen von meiner Reise zu telegrafieren.«

 

»Und Sie wollen mich nun nach Schottland schicken, um die Telegramme abzusenden« fragte Trenter strahlend.

 

Gordon staunte über die schnelle Auffassungsgabe seines Butlers.

 

»Ja, das sollen Sie tun. Sie ersparen mir dadurch viele Unannehmlichkeiten. Wenn die Telegramme schließlich in andere Hände fallen sollten, so könnten sie dazu beitragen, noch jemand anders zu täuschen!«

 

Trenter nickte verständnisvoll. Er konnte nicht ahnen, wer mit dieser letzten Bemerkung gemeint sein sollte. Selbst Gordon kannte den Mann ja nicht. Aber er gewann allmählich mehr Sicherheit im Lügen – er war schon ganz rücksichtslos geworden.

 

»Aber daß Sie der Dienerschaft nichts davon erzählen«, warnte er.

 

Trenter lächelte. Gordon hatte ihn früher niemals lächeln sehen. Es war ein ungewohnter Anblick.

 

»Nein, Sir. Ich werde sagen, daß meine Tante in Bristol krank ist – das stimmt nämlich auch – und daß Sie mir Urlaub gegeben haben, sie zu besuchen. Wie lange soll ich fortbleiben, Sir?«

 

»Ungefähr eine Woche.«

 

Mr. Trenter ging sofort nach hinten in die Dienerstube.

 

»Der Chef hat mir eine Woche freigegeben, daß ich meine Tante besuchen kann. Ich werde morgen schon abreisen«, sagte er selbstbewußt und wichtig.

 

Eleanor war schon von Natur aus argwöhnisch.

 

»Das kommt etwas plötzlich. Der Herr fährt morgen auch ab, ihr Männer seid eigentlich recht unzuverlässige Teufel. Wir Frauen wissen niemals, wie wir mit euch daran sind.«

 

Trenter lächelte geheimnisvoll. Es schmeichelte ihm ungemein, daß man ihn wegen irgendwelcher Abenteuer in Verdacht hatte.

 

»Wir werden ja sehen«, meinte er.

 

»Verreist Miss Diana auch?« fragte die Köchin.

 

»Meinen Sie mit mir oder mit ihm?« fragte Trenter unverschämt. »Sie geht nicht mit ihm, und ich mache ihm deshalb auch keinen Vorwurf. Sie ist keine Dame – das ist meine feste Überzeugung.«

 

»Behalten Sie Ihre Weisheit nur für sich«, erwiderte Eleanor böse. »Ich dulde nicht, daß etwas Böses über Miss Diana gesagt wird.«

 

»Ihr Frauensleute steckt doch immer unter einer Decke!«

 

»Und ihr Männer haltet euch an gar nichts!« Eleanor war ein wenig inkonsequent. »Miss Diana ist viel zu gut für ihn. Ich vermute, daß ihr beide irgendwelche galanten Abenteuer vorhabt. Soweit ich in Betracht komme, können Sie ja schließlich machen, was Sie wollen. Für mich waren Sie eben nur eine Erfahrung. Jedes Mädchen muß seine Erfahrungen machen – bis zu einem gewissen Grade.«

 

Kapitel 9

 

9

 

Als Trenter vor Zeiten Mr. Superbus kennenlernte, war dieser noch Gerichtsvollzieher, ein Mann, der das Eigentum von Leuten, die bei Gericht verurteilt waren, mit Beschlag belegte, der gerichtliche Vorladungen überbrachte, Möbel pfändete und alle diese Dinge vornahm, die mit einer solchen Stellung verknüpft sind. Aber das unerbittliche Gesetz des Fortschrittes, der natürliche Hang, sich zu verbessern, veranlaßte Mr. Superbus, seinen Posten in der Provinz aufzugeben und ein kleines Büro in dem Gebäude des Versicherungstrusts zu beziehen. Man hatte seinen Namen dort auf ein Glasschild an der Tür gemalt. »Erster Auskunftssekretär« war darauf zu lesen. Den Titel Detektiv, den er auf seine Visitenkarte drucken ließ, legte er sich selbst bei. Er hatte auch den Antrag bei seinem Vorgesetzten gestellt, ihn von Amts wegen eine Nickelmarke unter seiner Westenklappe tragen zu lassen, um sich in geeigneten Momenten zu erkennen zu geben. Aber dieses Ansinnen wurde als unerwünscht abgelehnt.

 

Mr. Superbus saß am offenen Fenster seines Wohnzimmers und dachte tief nach. Trotz der kühlen Witterung des Tages war er in Hemdsärmeln, denn er zählte zu jenen heißblütigen Männern, denen das kühlere Klima nichts anhaben kann. Es war ein offenes Geheimnis, daß er einer der abgehärteten Männer war, die im Serpentine-Teich im Hydepark an jedem ersten Weihnachtstag ein Bad nahmen, selbst wenn sie die Eisdecke einschlagen mußten. Mit monotoner Regelmäßigkeit erschien sein Bild an jedem 26. Dezember in den illustrierten Zeitungen.

 

Seine Frau kam zitternd herein. Sie nahm nur warme Bäder.

 

»Du wirst dich noch auf den Tod erkälten, Julius«, sagte sie. »Macht dir denn das Spaß, vom Morgen bis zum Abend dazusitzen und nichts zu tun?«

 

»Ich bin kein Müßiggänger«, erwiderte Julius ruhig. »Ich denke tief nach.«

 

»Das ist es ja gerade, was ich Nichtstun nenne«, meinte sie und deckte den Tisch.

 

Sie hatte eine außerordentliche Achtung vor den Fähigkeiten ihres Mannes und bewunderte ihn heimlich, aber sie fühlte, daß die Harmonie ihrer Ehe gestört werden könne, wenn sie den Irrtum beging, ihm das offen zu zeigen.

 

»Ich möchte nur wissen, was du immer zusammendenkst!«

 

»Das ist reine Verstandesarbeit«, erklärte Julius.

 

»Du hast immer so verrückte Ideen«, sagte sie verzweifelt. »Ich wundere mich nur, warum du nicht zur Bühne gehst.«

 

Es war ihre Überzeugung, daß die Bühne das Reservoir war, in dem jedes Genie eingefangen wurde.

 

»Dieser Doppelgänger gibt einem wirklich Rätsel auf, obgleich ich schon größere Probleme meiner Zeit gelöst habe.«

 

Sie nickte.

 

»Die Art, wie du vorige Woche den Brunnen ausgebessert hast, hat großen Eindruck auf mich gemacht, deshalb glaube ich alles, was du sagst. Wer ist denn dieser Doppelgänger?«

 

»Ein Schwindler, ein Parasit der menschlichen Gesellschaft, ein menschlicher Vampir – aber ich werde ihn schon fassen! Man munkelt in der Verbrecherwelt, daß Mr. Gordon Selsbury sein, nächstes Opfer sein werde.«

 

Nach dem Mittagessen zog er seinen Rock an und machte sich auf den Weg nach Cheynel Gardens. Gordon war ausgegangen, aber Diana empfing ihn.

 

»Ich kenne Sie doch – sind Sie nicht Mr. –?«

 

»Superbus«, sagte Julius im Brustton der Überzeugung.

 

»Ach so, Sie sind der Römer!«

 

Mr. Superbus bekannte sich zu dieser außerordentlichen Eigenschaft. Er hätte auch hinzufügen können: »ultimus Romanorum« – der letzte Römer –, aber er kannte diesen lateinischen Ausdruck leider nicht. Statt dessen setzte er mit nicht geringem Pathos hinzu: »Es gibt nur noch wenige von uns!«

 

»Das glaube ich auch«, meinte Diana. »Nehmen Sie Platz. Wollen Sie eine Tasse Tee haben? Sie sind gekommen, um Mr. Selsbury zu sprechen? Er wird aber erst in einer Stunde zurückkommen.«

 

»Das war wohl meine Absicht – in gewisser Weise war sie es aber nicht«, erwiderte Julius geheimnisvoll. »Ich möchte nur einen gewissen Mann im Auge behalten!«

 

Er sah sie dabei mit seinen etwas glasigen Augen an.

 

»Meinen Sie den Doppelgänger – ich entsinne mich, daß Gordon mir etwas davon erzählt hat. Wer ist das eigentlich, Mr. Superbus?«

 

»Nun ja, Mrs. –«

 

»Miss, bitte!«

 

»Sie sehen nicht so aus«, sagte er galant. »Dieser Doppelgänger ist ein Desperado, er soll aus dem Westen stammen.«

 

»Meinen Sie den Westen Londons?«

 

»Nein, ich meine Amerika. Dort kriegen wir doch all diese Kerle her, und dorthin verschwinden sie auch wieder.«

 

Sie hörte aufmerksam zu, als Mr. Superbus von den Freveltaten dieses Mannes erzählte, der in der Rolle anderer Personen auftrat.

 

»Also, es gibt nichts, was dieser Mensch nicht tun könnte. Er kann sich dick oder dünn machen, er kann einen großen oder kleinen, einen alten oder einen jungen Mann darstellen. Soweit man weiß, war er früher Schauspieler, der alle Rollenfächer spielte.«

 

Er schaute sich vorsichtig im Zimmer um und sprach dann ganz leise.

 

»Voraussichtlich wird Mr. Selsbury sein nächstes Opfer sein.«

 

»Sie wollen damit sagen, daß er der nächste ist, den der Doppelgänger berauben will?«

 

Mr. Superbus nickte ernst.

 

»Ja, dahin gehende Informationen habe ich erhalten.«

 

»Weiß er selbst schon davon?«

 

»Ich habe ihm einen Wink gegeben. Ein Mann wird nervös, wenn er weiß, daß ein Verbrecher hinter ihm her ist, und das hindert dann gewöhnlich die Beamten bei ihren Nachforschungen.« Er schüttelte den Kopf. »Mancher aussichtsreiche Fall konnte deshalb nicht aufgeklärt werden.«

 

»Wenn Mr. Selsbury verreist ist, wird also jemand, der ihm sehr ähnlich sieht, hier ins Haus kommen und irgend etwas stehlen, was er brauchen kann?« fragte Diana besorgt.

 

»Ja. Meistens nimmt der Schurke Schecks oder Geld«, versicherte Julius. »Er arbeitet nur in ganz großem Maßstab, er gibt sich nicht mit Kleinigkeiten ab. Ihr Silberzeug können Sie zum Beispiel ruhig unverschlossen lassen, er wird keinen Teelöffel nehmen. Er ist einer von den ganz Großen. Ich beobachte ihn schon seit Jahren.«

 

»Das sind aber recht aufregende Nachrichten«, meinte Diana nach einem längeren Schweigen.

 

»Das glaube ich auch«, stimmte Julius bei. »Aber wenn der rechte Mann zur Stelle ist, um Sie zu beschützen, wenn er es mit seiner Pflicht genau nimmt und auf der Hut ist, dann ist das alles nicht so schlimm. Der Betreffende muß allerdings äußerst klug und vorsichtig vorgehen und mit den Verbrechern und ihren Methoden aufs beste bekannt sein.«

 

»Damit meinen Sie sich doch selbst?« Diana lächelte schwach. Sie fühlte sich sehr bedrückt.

 

»Damit haben Sie recht – ich meine mich selbst. Wenn ich an Ihrer Stelle wäre, so würde ich Mr. Selsbury einen Wink geben. Vielleicht folgt er einem Rat seiner Tochter mehr als mir.«

 

Er verabschiedete sich, nahm ihre Hand in seine große, rote Tatze, nannte sie Miss Selsbury und bat sie, ihn ihrem Vater zu empfehlen. Als Gordon nach Hause kam, erzählte sie ihm von dem Besuch.

 

»Ach, Superbus war hier?« fragte er in guter Laune. »Er hat sich wohl ein Trinkgeld holen wollen? Aber warum er dich ängstlich gemacht hat, weiß ich wirklich nicht! Ich werde ihm einmal Bescheid sagen, wenn ich ihn treffe.«

 

»Er hat mich durchaus nicht ängstlich gemacht, höchstens als er sagte, ich möchte ihn meinem Vater empfehlen, der sich vielleicht eher von seiner hübschen, jungen Tochter als von ihm beeinflussen ließe –«

 

»Glaubte er, ich sei dein Vater?« Gordon war verstimmt. »Der Kerl hat aber auch keine Augen im Kopf! Wegen des Doppelgängers brauchst du dir keine Sorgen zu machen, Diana. Er hat zwar den alten Smith hereingelegt, aber der war eben ein verliebter alter Esel. Er ließ sich von der Frau fangen, die mit dem Kerl zusammenarbeitet.«

 

*

 

Der Postdampfer war angekommen, wie Gordon am nächsten Morgen aus der Zeitung ersah. Er mußte also zu Hause bleiben. Sein erster Angestellter brachte ihm das Scheckbuch, und Gordon schrieb einen Scheck über elftausend und einige Pfund aus.

 

»Lassen Sie sich auf der Bank fünfzigtausend Dollar geben. Am besten kaufen Sie sie auf der Bank von England. Nehmen Sie ein Auto und bringen Sie das Geld hierher. Haben Sie den Leuten im Büro gesagt, daß mir Telegramme telefonisch durchgegeben werden sollen? Nun, das ist gut, ich erwarte noch eine Nachricht von Mr. Tilmet.«

 

Lange nachdem die Banknoten in dem Geldschrank deponiert waren, traf die erwartete Nachricht ein.

 

Sie kam aus Paris und besagte, daß Mr. Tilmet in Cherbourg angekommen und am nächsten Sonntag in London sein werde, aber am selben Abend noch nach Holland abreisen wolle. Gordon wünschte den Amerikaner zum Teufel. Am Nachmittag traf er Heloise, die sich unendlich auf die Reise freute. Er konnte es nicht übers Herz bringen, ihr mitzuteilen, daß der Plan aufgegeben werden müsse. Sie wollten einander um Viertel vor elf auf dem Victoria-Bahnhof treffen und Fremde füreinander sein, bis sie Ostende erreichten. Die Überfahrt würde ruhig werden, der Wetterdienst hatte ruhige See und leichte, östliche Winde angesagt.

 

Trenter hatte Gordons großen Koffer gepackt und auch den neuen grauen Anzug mit den roten Tupfen verstaut, der etwas spät in letzter Stunde vom Schneider geliefert worden war. Der Koffer war heimlich zu einem Hotel in der Nähe des Victoria-Bahnhofs gebracht worden, wo Gordon sich umziehen wollte. Nun mußte er noch die Telegramme aufsetzen, die Trenter abschicken sollte. Er konnte das leichten Herzens tun, er hatte jetzt einen guten Entschuldigungsgrund dafür. Wenn in seiner Abwesenheit der Doppelgänger erscheinen sollte – er hielt es allerdings für wenig wahrscheinlich –, dann konnten ihn ja die Telegramme sofort überführen. Es erschien ihm sogar als eine recht verdienstvolle Tat, die Telegramme absenden zu lassen.

 

Das erste sollte in Euston aufgegeben werden. Es lautete: »Reise eben ab, Gordon.« Dann schrieb er eine ganze Reihe von Telegrammen: »Hatte gute Reise, bei bester Gesundheit.« Diese sollten von York, Edinburgh und Inverness abgehen.

 

Kapitel 4

 

4

 

Als Diana an einem der nächsten Tage ihre Einkäufe besorgt hatte und nach Hause kam, fand sie im Wohnzimmer eine etwas magere Dame mittleren Alters vor, die es sich auf dem Sofa bequem gemacht hatte. Sie begrüßte Diana mit einem gleichgültigen Lächeln. Diana hatte den Eindruck, als ob eine Romanfigur früherer Zeit lebendig geworden wäre. Die Fremde trug keinen Hut und strickte an einer feuerroten Wolljacke. Die Nadeln klapperten emsig in ihren Händen und schienen ganz von selbst zu arbeiten.

 

»Guten Tag – Sie sind sicher Miss Ford. Ich bin Miss Staffle – ich hoffe, daß wir gute Freunde werden!«

 

»Das hoffe ich auch!« erwiderte Diana. »Und wir werden noch bessere Freunde werden, wenn ich erst alles verstehe. Sind Sie hierzu Gast?«

 

Hurtig und flink schlugen die Stricknadeln aneinander.

 

Diana sah erstaunt zu – sie hatte noch niemals in ihrem Leben eine Wolljacke oder Strümpfe gestrickt.

 

»Nun ja, Mr. Selsbury dachte, daß Sie sich zu einsam fühlten. Es paßt ja für uns Mädchen nicht, daß wir allein sind, dann brüten wir zuviel.«

 

»Da haben Sie recht – ich brüte in diesem Augenblick auch über etwas nach.« Diana konnte sehr bestimmt auftreten. »Ist es richtig, daß Sie gewissermaßen als meine Anstandsdame engagiert sind?«

 

»Als Ihre Gesellschafterin«, erwiderte Miss Staffle leise.

 

»Nun, dann liegt der Fall ja sehr einfach.« Diana öffnete ihre Handtasche und nahm ein Scheckbuch heraus. »Wie hoch ist Ihr Gehalt?«

 

Miss Staffle nannte den Betrag.

 

»Hier haben Sie Ihr Gehalt für zwei Monate. Es war nicht meine Absicht, eine Gesellschafterin zu engagieren.« Sie klingelte, und die Stricknadeln hörten ganz plötzlich auf zu klappern.

 

»Eleanor, Miss Staffle verläßt das Haus vor dem Tee. Wollen Sie bitte dafür sorgen, daß das Gepäck heruntergebracht wird. Trenter soll ein hübsches Auto besorgen.«

 

»Aber, meine Liebe«, – Miss Staffles Stimme klang erregt und etwas scharf –, »Mr. Selsbury hat mich engagiert, und ich fürchte …«

 

»Mr. Selsbury braucht keine Gesellschaftsdame. Und nun, mein Engel, wollen Sie Spektakel machen oder wollen Sie als ein süßer, zarter Cherub von hier entschweben?«

 

Gordon kam nach Hause und war auf eine stürmische Szene vorbereitet. Er hatte sich aber fest vorgenommen, diesmal hart zu bleiben wie ein Felsen, mochte sie nun leidenschaftlich schelten oder ihn durch Tränen zu erweichen versuchen. Als er eintrat, ließ Diana gerade eine neue Platte auf einem ebenfalls neuen Grammophon spielen und tanzte vergnügt nach den Takten des neuen Schlagers: »Niemand darf mich Liebling nennen!«

 

Er konnte Grammophone im allgemeinen nicht leiden, aber im Augenblick gab es wichtigere Dinge zu besprechen.

 

Von der trefflichen Miss Staffle war nichts zu sehen.

 

»War jemand hier?« fragte er leichthin.

 

»Niemand, mit Ausnahme einer etwas verrückten alten Jungfer, die leider glaubte, daß ich eine Gesellschafterin brauche.«

 

Gordons Mut sank.

 

»Wo ist sie denn?«

 

»Ich habe mir nicht die Mühe gegeben, ihre Adresse zu notieren. Warum fragst du denn eigentlich? War die Gouvernante etwa für dich bestimmt?«

 

»Du hast sie wieder fortgeschickt?« Diana nickte.

 

»Ja, ihr Fleiß war ganz entsetzlich.« Plötzlich kam ihr ein Gedanke. »Sie hat die rote Strickweste doch nicht für dich gearbeitet?«

 

»Was, du hast eine – hm, eine Frau, die ich engagierte, fortgeschickt?« fragte er streng. »Wirklich, Diana, das geht etwas zu weit!«

 

Diana wechselte sofort das Thema der Unterhaltung.

 

»In zehn Minuten wird der Tee serviert sein. Mein lieber Gordon, deine Schuhe sind so schmutzig, geh schnell nach oben und zieh andere an.«

 

Der Widerspruchsgeist in ihm regte sich, sein Gesicht war rot vor Ärger.

 

»Ich werde nichts Derartiges tun!« sagte er scharf. »Ich will mich nicht in meinem eigenen Hause kommandieren lassen! Diana, die unerträgliche Situation muß jetzt ein Ende haben.« Er schlug mit der Hand schwer auf die Stuhllehne. »Einer von uns beiden verläßt heute abend das Haus. Ich habe genug! Die Dienstboten sprechen schon darüber. Ich sah, wie Trenter lächelte, als du heute morgen im Negligé zum Frühstück herunterkamst. Ich habe eine Stellung, einen guten Ruf und einen Namen in der City. Ich muß meine Interessen gegen die Gedankenlosigkeit selbstsüchtiger, rücksichtsloser Backfische wahren!«

 

»Aber wie kannst du mir einen solchen Namen geben?« fragte sie vorwurfsvoll.

 

»Ich gestatte unter keinen Umständen, daß eine so ernste Situation sich in einen Scherz oder Witz auflöst. Und ich säge noch einmal: Einer von uns beiden verläßt Cheynel Gardens.«

 

Sie dachte einen Augenblick nach, dann ging sie aus dem Zimmer. Gordon hörte, wie sie in der Diele telefonierte, und lächelte. Er hatte gesiegt. Man mußte nur fest auftreten und sich nicht einschüchtern lassen. Mehr war nicht notwendig –

 

»Ist dort die Redaktion des ›Morning Telegram‹? Hier ist Miss Diana Ford. Senden Sie doch bitte einen Reporter nach Cheynel Gardens Nr. 61.«

 

In zwei Sekunden war Gordon neben ihr in der Diele und hielt die Sprechmuschel zu. »Was machst du da?« fragte er erregt.

 

Sie zuckte die Schultern.

 

»Ein Leben ohne dich ist einfach unerträglich, Gordon«, sagte sie, scheinbar ganz gebrochen. »Wenn du mich aus der Wohnung weist, muß ich ins Wasser gehen.«

 

»Du bist verrückt!« stöhnte er.

 

»Der Leichenbeschauer wird vielleicht auch eine solche Ansicht äußern, wie ich hoffe – unterbrich mich nicht, Gordon. Die Leute der Redaktion wollen mich sprechen.«

 

Nur mit der größten Anstrengung gelang es ihm, sie von dein Apparat zu entfernen. Mit Gewalt nahm er ihr den Hörer aus der Hand.

 

»Machen Sie sich keine Mühe, jemand zu schicken … die Dame befindet sich sehr wohl. Sie ist am Leben – ich meine, es ist kein Selbstmord zu fürchten …«

 

Außer Atem ging er in sein Studierzimmer zurück.

 

»Dein Benehmen ist wirklich schändlich, direkt schamlos! Jetzt verstehe ich auch, warum dieser niederträchtige Dempsi vor dir Reißaus genommen hat und lieber draußen in der Wildnis sterben als länger bei einem so schrecklichen Zankteufel sein wollte!«

 

Gordon war an der Grenze seiner Geduld angekommen. Er war wild und grausam und wußte schon, bevor er zu Ende gesprochen hatte; daß sein Betragen unverzeihlich war.

 

»Es tut mir leid«, sagte er leise.

 

Ihre Gesichtszüge waren verschlossen, ihr Blick undurchdringlich. Er konnte ihre Gedanken nicht erraten.

 

»Es tut mir unendlich leid, das hätte ich nicht sagen dürfen bitte verzeih mir.«

 

Sie sprach noch nicht. Sie sah fast tragisch aus, wie sie hochaufgerichtet vor ihm stand.

 

Gordon schlich sich leise aus dem Zimmer. Dann sprach sie ihre Gedanken laut aus.

 

»Es ist doch einfach Unsinn, daß das Telefon nicht hier im Zimmer ist. Ich werde noch heute abend an das Postamt schreiben, daß das geändert wird.«

 

Das Abendessen verlief sehr schweigsam. Später ging Gordon aus.

 

»Ich habe mich mit einem Freund heute abend zum Theater verabredet«, sagte er.

 

»Ich habe auch seit Jahren kein Schauspiel mehr gesehen«, seufzte sie.

 

»Aber das wird dich nicht interessieren – es ist ein russisches Stück, das soziale Probleme behandelt.«

 

Sie seufzte aufs neue.

 

»Aber ich liebe doch das russische Theater so sehr! Die Haupthelden sterben so schön auf der Bühne, und man kann der Handlung so gut folgen. In einer Oper oder Operette weiß man nie genau, wen die Leute eigentlich darstellen, besonders wenn man den Text nicht genau versteht.«

 

»Dies ist aber kein Stück für junge Damen«, erwiderte er.

 

Aber sie ließ sich nicht überzeugen.

 

»Wenn du mich mitnehmen willst, ich bin in fünf Minuten umgezogen. Ich weiß sowieso nicht, was ich heute abend anfangen soll.«

 

»Du kannst dir doch überlegen, was es morgen zum Frühstück geben soll«, sagte er ärgerlich.

 

Als sie nun allein war, teilte sich ihre Aufmerksamkeit zwischen dem Grammophon und ihren Grübeleien. Sie mußte zuweilen an Dempsi denken, aber der Gedanke war ihr etwas unbehaglich. Nicht, daß sie diesen etwas merkwürdigen Menschen, den Sohn Michael Dempsis und Marie Stezzagannis, geliebt hätte. Dempsi brach in ihr Leben ein wie ein Erdbeben über das Haus eines kalifornischen Farmers. Er hatte alle ihre Lebensanschauungen umgestoßen und sie furchtbar erschüttert. Aber jetzt erinnerte sie sich nur noch schwach an seine schmächtige, sehnige Gestalt und an seine vielen Reden. Er hatte sich ihr damals zu Füßen geworfen, hatte gedroht, sie zu erschießen, dann hatte er wieder erklärt, daß er sie anbete und ihretwegen seine geistliche Laufbahn aufgeben wolle. An einem heißen Februarmorgen – sie besann sich noch darauf, wie reich die Rosen in dem Garten blühten – hatte er sein ganzes Vermögen vor sie hingeschleudert und einen tränenreichen Abschied von ihr genommen. Dann war er in die Wildnis gelaufen, um niemals wieder zurückzukommen.

 

Tatsächlich war die nächste Wildnis etwa hundert Meilen entfernt, aber er hatte gesagt, daß er in die Wildnis gehen und seinem Leben ein Ende machen wolle, das schon über die Grenzen menschlichen Duldens hinaus durch Kummer und Qualen bedrückt sei. Er wolle dort vergessen und Erlösung von seinen Leiden finden. Wahrscheinlich hatte er auch sein Versprechen erfüllt, soweit es sich um den Weg in die Wildnis handelte. Diana beklagte oder betrauerte ihn nicht. Sie war nur neugierig, unter welchen Umständen er wieder erscheinen und die achttausend Pfund von ihr zurückfordern würde, die er ihr damals wohlverpackt und zusammengeschnürt in einer so großartigen dramatischen Szene vor die Füße geworfen hatte. Er hatte allerdings in der Aufregung sein Ziel verfehlt. Das Bündel Banknoten war in weitem Bogen über ihre Füße hinweggeflogen und hatte die Katze getroffen, die gerade Junge hatte und auf Dempsi losstürzte. So wurde seine wilde Flucht noch beschleunigt.

 

Als die Jahre vergingen, wurde ihr der Besitz des Geldes immer unangenehmer, und sie machte einen schwachen Versuch, seine Verwandten zu entdecken, obwohl sie wußte, daß er nicht einmal einen Vetter hatte. Aber dann geriet das Andenken an Dempsi allmählich in Vergessenheit. Ein romantischer Farmer machte ihr den Hof. Dieses Abenteuer endete jedoch etwas plötzlich, als die sehr unromantische Frau dieses Mannes in einem Auto auf der Bildfläche erschien und ihn wieder mit sich fortnahm.

 

Diana dachte an diesem Abend auch nur fünf Minuten an Dempsi, dann probierte sie einen neuen Walzerschritt aus, den man eventuell auch nach Jazzmelodien tanzen konnte.

 

»Ich verstehe nur nicht«, sagte Trenter, »daß unser gnädiger Herr so etwas erlaubt. Es schickt sich doch nicht, daß eine junge Dame im Hause eines Junggesellen wohnt. Das erinnert mich an einen Fall, den der alte Superbus erzählt hat. Er ist ein Gerichtsvollzieher und sieht immer nur die Schattenseiten des Lebens.«

 

»Ich würde mich schämen, einen Gerichtsvollzieher zum Freund zu haben, selbst wenn man mir eine Million dafür bezahlte«, erwiderte Eleanor, die in dürftigsten und ärmlichsten Verhältnissen groß geworden war. »Eher würde ich mir noch einen Bettler zum Freunde nehmen. Und sorgen Sie sich nur nicht um unsere Miss Diana, Arthur, es ist sehr gut, daß sie da ist. Besonders ich bin sehr froh darüber. Denken Sie denn nicht an mich? Habe ich denn nicht auch eine Moral? Haben die Köchin und ich nicht seit Jahren in demselben Haus mit einem Junggesellen gelebt?«

 

»Mit euch ist das doch etwas ganz anderes Das Haus ist lange nicht mehr das, was es war«, klagte er.

 

Aber seine Trauer hatte einen tieferen Grund, den die beiden nicht kannten. So methodisch Gordon sonst auch war, so zählte er doch niemals seine Zigarren. Diana aber hatte ein gutes Schätzungsvermögen und paßte auf alles auf. Eines Tages fragte sie Trenter so nebenbei, ob Mäuse im Hause seien, und als er das bejahte, meinte sie, es sei doch sonderbar, daß Mäuse Havannazigarren auffräßen.

 

»Es wird noch ein großer Umschwung kommen, ein schrecklicher Wechsel, das fühle ich schon«, sagte er. »Ich weiß es ganz bestimmt. Ich habe immer das zweite Gesicht gehabt, schon als ich noch ein Junge war.«

 

»Dann sollten Sie eine Brille tragen«, erwiderte Eleanor.

 

Kapitel 5

 

5

 

An einem Spätsommernachmittag schaute Heloise van Oynne über den dunklen Fluß und schien in den Anblick eines farbenfreudig gestrichenen Hausbootes versunken zu sein, das am Ufer befestigt war.

 

»Erzählen Sie mir doch noch etwas mehr von Diana, sie muß wirklich faszinierend sein«, sagte sie plötzlich.

 

Gordon wurde unruhig. Er hatte schon viel mehr über Diana erzählt, als er eigentlich wollte und ihm lieb war.

 

»Nun … Sie wissen doch schon alles über sie, ich hoffe, daß Sie sie kennenlernen werden … eines Tages.«

 

Die kleine Pause, die er vor den letzten Worten machte, hatte für eine sensitive Frau eine ganz besondere Bedeutung, und Heloise war sehr hellhörig, denn das gehörte zur Durchführung ihrer Absichten. Heute schien sie wieder unglaublich ätherisch zu sein.

 

Sie war schön, schlank – Diana hätte sie wahrscheinlich mager genannt – und geistreich.

 

In ihren tiefen schwarzen Augen verbärgen sich Geheimnisse und unergründliche Rätsel. Manchmal fürchtete er sich fast vor ihr.

 

Gordon Selsbury war nicht verliebt. Er gehörte nicht zu den Leuten, die leicht ihr Herz verloren. Aber es schmeichelte ihm, daß er ein Geheimnis hatte. Früher hatte einmal jemand von ihm gesagt, daß er etwas Sphinxhaftes an sich habe.

 

Wenn Diana älter und vor allem nicht seine Kusine gewesen wäre, wenn sie sich nicht in dieser meisterlichen Art ganz gegen jedes Herkommen und gegen jede Sitte in seinem Hause festgesetzt hätte und nicht so verteufelt sarkastisch und selbstbewußt gewesen wäre – dann hätte er ihr gegenüber wahrscheinlich so etwas wie Zuneigung, vielleicht auch Liebe, gefühlt.

 

Er dachte an Diana und schaute auf seine Armbanduhr. Er hatte versprochen, zum Abendessen zu Hause zu sein. Heloise hatte die kurze Bewegung gesehen und innerlich gelächelt.

 

»War eigentlich die erste Liebesaffäre Dianas sehr ernster Natur?«

 

Gordon hustete.

 

Heloise konnte ihn in letzter Zeit überhaupt nicht mehr sehen, ohne dauernd über Dianas frühere Liebe zu sprechen. Das war doch ein merkwürdig weiblicher Zug, den er nicht bei ihr vermutet hatte. Er wurde einer Antwort enthoben, denn sie stellte plötzlich eine andere Frage an ihn.

 

»Wer ist dieser Mann, Gordon?«

 

Eine merkwürdige Gestalt war schon zweimal an der Hotelterrasse vorübergerudert, wo sie beim Nachmittagstee saßen, und zweimal hatte der dicke Mann mit dem roten Gesicht zu ihnen heraufgeschaut.

 

»Ich weiß es wirklich nicht – sollen wir nicht besser gehen?«

 

Sie machte keinen Versuch, sich zu erheben.

 

»Wann werde ich Sie wiedersehen, Gordon? Das Leben ist so leer und öde ohne Sie. Hat denn Diana ein Monopol auf Sie? Die Leute würden uns beide nicht verstehen. Ich liebe Sie nicht, und Sie lieben mich nicht; wenn Sie dächten, daß ich Sie etwa liebte, würden Sie mich nicht wiedersehen wollen.« Sie lachte ruhig vor sich hin. »Es ist nur Ihre Seele und Ihr Geist« – sie sprach sehr leise – »nur das vollkommene Verstehen, das uns eint. Liebe oder Ehe bringen das nicht zustande.«

 

»Es ist wundervoll«, sagte er und nickte. »Nein, die böse Welt würde uns nie verstehen.«

 

»Ich sehne mich so sehr nach dem einen Tag.« Sie schaute zu dem Fluß hinüber. »Aber ich wage nicht zu hoffen, daß er jemals kommen wird, dieser Tag meiner Träume.«

 

Auch Gordon Selsbury glaubte nicht daran und hatte schon den ganzen Nachmittag darüber nachgedacht, wie er ihr seine Zweifel sagen könne.

 

»Ich habe mir den Plan unserer Reise nach Ostende genau überlegt, Heloise. Es würde natürlich etwas Wunderbares sein, wenn wir einander den ganzen Tag sehen könnten und miteinander, wenn auch nicht unter demselben Dach, so doch in derselben Umgebung, leben könnten. Die ungestörte Verbindung unserer Seelen – das ist ein zu glücklicher Gedanke. Aber glauben Sie, daß es klug ist, nach Ostende zu gehen? Ich spreche natürlich von Ihrem Standpunkt aus, denn Skandal und Klatsch berühren einen Mann kaum.«

 

Sie wandte ihm ihre sehnsüchtig strahlenden Augen zu.

 

»Was könnten uns die Leute anhaben? Was wollen sie denn von uns sagen? Lassen Sie sie doch klatschen!« sagte sie verächtlich. Er schüttelte den Kopf.

 

»Ihr Ruf ist mir heilig«, erwiderte er bewegt. »Er ist mir teuer und kostbar und darf nicht irgendwie in den Schmutz getreten werden. Die Saison in Ostende ist zwar vorüber, die meisten Hotels sind geschlossen, und viele Kurgäste sind abgefahren, aber trotzdem besteht die Möglichkeit – allerdings nur die Möglichkeit, daß wir einen Bekannten treffen, der womöglich gleich das Schlimmste über unsere unschuldige Seelenfreundschaft dächte. Es ist außerordentlich gefährlich.«

 

Sie lachte hart, als er sich erhob.

 

»Ich sehe, daß Sie sich doch innerlich noch nicht befreien können, Gordon. Es war ein verrückter Gedanke, wir wollen nicht mehr darüber sprechen. Es tut mir weh.« Er zahlte schweigend, und schweigend folgte er ihr zu seinem Auto. Er war etwas gekränkt. Niemand hatte ihm bis jetzt gesagt, daß er innerlich gebunden sei.

 

»Wir werden nach Ostende fahren. Ich werde Sie treffen, wie wir es schon seit langem verabredet haben«, sagte er, als sie halbwegs zum Richmond-Park gefahren waren.

 

Sie antwortete ihm nicht, aber sie drückte seinen Arm innig.

 

Sie saßen schweigend nebeneinander und träumten.

 

»Es liegt etwas Unendliches in unserer Freundschaft. Ach, Gordon, es ist doch zu wundervoll …«

 

Diana las ein Magazin im Studierzimmer, als Gordon eintrat. Sie ließ das Heft sofort sinken und sprang von ihrem Stuhl auf. Wenn sie las, saß sie an seinem Schreibtisch, der sich gewöhnlich bei seiner Rückkehr abends in einem chaotischen Zustand befand, obwohl er ihn morgens nett und ordentlich zurückgelassen hatte.

 

»Das Essen ist schon lange fertig«, sagte sie kurz. »Du kommst verteufelt spät, mein lieber Gord.«

 

Mr. Selsbury fühlte sich bedrückt.

 

»Ich wünschte, du würdest mich nicht Gord nennen, Diana«, sagte er vorwurfsvoll. »Es klingt – es klingt fast wie Hohn.«

 

»Aber es paßt doch so gut zu dir. Du weißt gar nicht, wie dir dieser Name steht.«

 

Gordon zuckte die Schultern.

 

»Jedenfalls nimmt eine Dame nicht das Wort ›verteufelt‹ in den Mund.«

 

»Wo bist du eigentlich gewesen?« fragte sie mit herausfordernder Offenheit, die ihr besonders eigen war.

 

»Ich bin aufgehalten worden –«

 

»Aber doch nicht in deinem Büro«, erwiderte Diana prompt, als sie sich zu Tisch setzten. »Seit dem Mittagessen bist du nicht dort gewesen.« Mr. Selsbury sah verzweifelt zur Decke.

 

»Ich bin in einer reinen Privatsache aufgehalten worden«, sagte er steif.

 

»Aha!« Diana schien von seinen Worten in keiner Weise beeindruckt zu sein. Sie hatte, wie sie selbst sagte, das Alter längst hinter sich, in dem man sich durch andere Leute imponieren läßt.

 

Gordon hatte sich eingestanden, daß sie sehr hübsch sei: In gewisser Weise war sie sogar eine Schönheit. Sie hatte tiefe, graublaue Augen und eine seidenweiche Haut. Auch gab er zu, daß ihre Figur sehr anmutig und graziös war. Wenn sie älter oder jünger gewesen wäre – wenn sie keinen Bubikopf trüge, wenn sie ein wenig mehr Respekt vor wahrer Bildung und Kenntnissen hätte, wenn sie die Gedankenarbeit mehr schätzte und wenn sie weniger selbstsicher wäre!

 

Er trat nachdenklich ans Fenster und schaute in die Dunkelheit. Diana war für ihn ein ungelöstes Problem.

 

Der Butler erschien in diesem Augenblick im Zimmer.

 

»Trenter!«

 

»Jawohl, Sir?«

 

»Sehen Sie den Herrn dort auf der anderen Seite der Straße den Mann mit dem roten Gesicht?«

 

Es war wieder der Fremde, der am Nachmittag an ihnen vorbeigefahren war. Gordon hatte ihn sofort wiedererkannt.

 

»Ich habe ihn heute schon einmal gesehen – es ist ein merkwürdiges Zusammentreffen.«

 

»Das ist Mr. Julius Superbus.«

 

Gordon schaute Trenter erstaunt an.

 

»Julius Superbus – was zum Teufel wollen Sie denn damit sagen?«

 

»Welch eine Sprache in Gegenwart einer Dame«, tönte eine Stimme aus dem Hintergrund. Das sah Diana wieder ganz ähnlich.

 

»Was meinen Sie denn – das ist doch ein lateinischer Name.«

 

Trenter lächelte verschmitzt.

 

»Jawohl, Sir, Mr. Superbus ist ein Römer, der letzte Römer in England. Er stammt aus dem Ort Caesaromagnus, das ist ein kleines Dorf bei Cambridge. Ich bin dort in der Nähe in Stellung gewesen, daher weiß ich das.«

 

Gordon runzelte die Stirn.

 

Welch ein merkwürdiger Zufall führte ihm diesen seltsamen Menschen zweimal am Tage in den Weg – einmal in Hampton, wo er mit größter Anstrengung in einem Boot an ihm vorbeiruderte, und dann in Cheynel Gardens, wo er scheinbar in den Anblick eines Laternenpfahls versunken war?

 

»Was ist er denn – ich meine von Beruf?«

 

»Detektiv, Sir«, sagte Trenter.

 

Gordon wurde plötzlich blaß.

 

Kapitel 23

 

23

 

Er hatte die schreckliche Vision, daß sich diese entsetzliche Tragödie tatsächlich abspielte. Im Vordergrund lag er selbst, zu Tode getroffen.

 

»Aber Sie sollen nicht ungerächt sterben, mein Superbus!«

 

Dempsi hatte ihn liebevoll am Arm gefaßt. Julius ging jetzt vom Feuer weg, es war ihm plötzlich zu heiß geworden.

 

»Wissen Sie bestimmt, daß er einen Revolver bei sich hat?«

 

Dempsi nickte.

 

»Eine geladene Pistole? Das ist aber doch ganz gegen das Gesetz. Ein Mann kann deswegen verurteilt werden!«

 

Mr. Dempsi faßte die Sache nicht so ernst auf. In Julius‘ Augen war seine Gleichgültigkeit beinahe schon ein Verbrechen.

 

»Natürlich hat er eine Schußwaffe. Ich habe bis jetzt noch keinen Verbrecher gesehen – ich bin schon einigen begegnet –, der nicht einen geladenen Revolver bei sich gehabt hätte. Und gewöhnlich benützen diese Menschen Dum-Dum-Geschosse und sind sichere Schützen.«

 

Er schien fast darauf stolz zu sein. Julius betrachtete ihn von der Seite und sah nicht sehr geistreich aus.

 

»Ja, das glaube ich auch«, sagte er heiser. »Natürlich wird meine Frau –«

 

Dempsi ließ ihn nicht ausreden. Er wurde plötzlich ernst, als ob ihm die Schwere der Situation zum Bewußtsein käme.

 

»Ihre Frau? Fürchten Sie sich nicht, Superbus!« sagte er ruhig. »Sie soll keinen Mangel leiden. Ich werde für sie sorgen. Und Ihre Tat soll dem Gedächtnis der Nachwelt überliefert werden. Ich sehe schon in meinem Geiste einen großen, schwarzen Marmorblock, einfach und schlicht, aber von erhabener Größe. Kein reicher Schmuck wird ihn zieren, aber in großen, goldenen, flammenden Buchstaben werden die Worte darauf stehen:

 

Seine Stimme zitterte, als er sprach. Er stand in Gedanken schon vor diesem erhabenen Monument und weinte.

 

Julius wischte sich den Schweiß von der Stirn.

 

»Ach ja, das muß sehr schön sein«, brachte er heiser hervor. »Meiner lieben Frau wird das sehr gefallen. Sie hatte schon immer eine gute Meinung von mir, obgleich sie nie darüber sprach. Aber obwohl ich Ihnen sehr zu Dank verbunden bin und niemand liebenswürdiger zu mir sein könnte –«

 

»Können Sie nicht schon jetzt im Geiste sehen, wie sie vor Ihrem Grabstein steht und die Inschrift liest?« fragte Dempsi erregt. »Können Sie sich vorstellen, wie sie tränenden Auges auf diese Marmortafel schaut, die in einer großen Kirche aufgestellt ist, vielleicht unter einem bunten Glasfenster? Wie sie mit stolzen, leuchtenden Augen den Kindern an ihrer Seite erzählt –«

 

»Aber ich habe ja gar keine Kinder«, unterbrach ihn Julius laut.

 

Dempsi machte eine abwehrende Handbewegung.

 

»Sie kann doch wieder heiraten«, sagte er unbewegt. »Sie ist wahrscheinlich noch in der Blüte ihres Lebens und findet noch ein neues Glück.«

 

Mr. Superbus setzte sich ganz verstört.

 

»Sie erschrecken mich furchtbar«, rief er vorwurfsvoll.

 

Dempsi beugte sich über ihn und sprach beruhigend auf ihn ein.

 

»Heute abend schlafe ich in Erwartung, Ihre Stimme zu hören. Zögern Sie nicht, sofort zu rufen. Vielleicht komme ich noch zeitig genug, um Sie zu retten. Ich bete, daß mir das gelingen wird, denn ich liebe Sie. Wir sind vielleicht sogar Blutsverwandte. Wer Sie schlägt, schlägt auch mich – Giuseppe Dempsi!«

 

Mr. Superbus stand auf. Seine Knie zitterten, die Zunge klebte in seinem Munde.

 

»Wenn Sie hier schlafen und Mr. Bobby hier schläft, ist meine Hilfe doch eigentlich nicht mehr notwendig. Es macht mir natürlich nichts aus. Weit davon entfernt. Superbus war stets da zu finden, wo die Gefahr am größten war. Es ist nur meine Frau, an die ich denke. Ich soll in diesem Zimmer schlafen. Das ist doch eigentlich Unsinn.«

 

»Ich werde zur Stelle sein.« Mr. Dempsi betrachtete einen Revolver, den er aus seiner Hüfttasche genommen hatte. Julius wäre beinahe ohnmächtig geworden.

 

Kapitel 24

 

24

 

Die Atmosphäre in einer Küche, so peinlich, sauber und nett sie auch sein mag, langweilt einen intellektuellen Mann. Es bedurfte der epikuräischen Gesinnung eines Materialisten wie etwa des Gatten von Heloise, um sich in einem Raum wohl zu fühlen, in dem der Duft gebackener Pasteten und leckerer Speisen schwebte, der dem Herd und seinen Kochtöpfen seit Jahren entströmte und alle Möbel und Wände durchdrungen hatte.

 

Gordon hatte alles gelesen, was irgendwie lesbar war, er hatte in zwei guten Kochbüchern herumgeschmökert und hatte die alten Zeitungen vorgenommen, die in der Küche aufbewahrt wurden.

 

Glücklicherweise hatte er wenig von Heloise und noch weniger von Diana zu sehen bekommen. Wie außerordentlich begabt sie doch war! Diese Erkenntnis arbeitete sich sogar durch seine ungeheure Erbitterung und Empörung durch. Und wie liebenswert sie war! Er hatte sie väterlich behandeln wollen, er wurde rot, als er daran dachte. Aber wenn er sich nicht in dieses wahnsinnige Abenteuer eingelassen hätte, würde er jemals alle ihre Fähigkeiten erkannt haben? Er bezweifelte es. Er war so am Ende seiner Kräfte, und seine Nerven waren so angespannt, daß er jeden Zug an ihr zergliederte und wertete. Sie handelte ja in seinem eigenen Interesse! Dieser Gedanke machte ihn froh. Aber Dempsi … sein Herz wurde wieder kalt.

 

Die Tür öffnete sich langsam, und er schaute auf. Er hoffte Diana zu sehen. Aber es war eine Enttäuschung, denn Heloise kam herein.

 

»Sie haben mich in eine schöne Lage gebracht«, sagte er ohne Erregung.

 

Sie sah ihn von der Seite an.

 

»Ich habe Sie in eine schöne Lage gebracht?« wiederholte sie ironisch. »Das klingt gut; aber immerhin brauchen Sie noch nicht verrückt zu werden, mein Liebling.«

 

Ein kalter Schauer befiel ihn, als er diese familiäre Anrede hörte.

 

»Ich wünschte, Sie würden mich nicht ›mein Liebling‹ nennen. Das gehört zu Bubiköpfen, Stilkleidern, Kunstseide … und Seelen.«

 

Sie lachte ruhig, sie hatte lange nicht mehr gelacht.

 

»Sie pflegten es gern zu hören, wenn ich Sie so nannte – in den Tagen unserer geistigen Freundschaft. Als Seele noch zu Seele sprach – ach, ich vergaß den ganzen Unsinn! Und vor zwei Tagen wußte ich doch noch alles.«

 

Gordon schaute sie verwirrt an.

 

»Ich verstehe nicht … was meinen Sie denn?«

 

»Ich meine all den Unsinn, über den wir sprachen! Über unsere Seelenverwandtschaft. Jetzt sind Sie ganz anders – so gefallen Sie mir besser! Ich bin immer für gewöhnliche Vernunft gewesen, mein Junge! Ich habe Sie ja erst aufgeweckt!«

 

»Sie haben mich ruiniert, wollen Sie wohl sagen«, keuchte er. »Wenn Sie nicht hierhergekommen wären, hätte ich Diana – Miss Ford – alles erklärt.«

 

»Diana klingt besser«, erwiderte sie. »Wenn ich nicht gekommen wäre!« Sie warf den Kopf spöttisch zurück.

 

»Warum taten Sie es?« fragte er. Selbst jetzt glaubte er die Geschichte noch halb, die sie ihm erzählt hatte.

 

»Weil mich mein Mann betrog«, sagte sie kalt.

 

Gordon wollte seinen Ohren nicht trauen.

 

»Ihr Mann? Sie meinen Ihren Gatten?«

 

Heloise warf die Zigarette weg, stand auf und legte die Hände hinter den Kopf.

 

»Nein, mein Mann ist der aufrichtigste Mensch auf der Welt. Ich spreche von dem – Doppelgänger, wie Sie ihn nennen.«

 

»Sie arbeiten – mit – dem Doppelgänger?« fragte er atemlos.

 

Sie lächelte mitleidig.

 

»Natürlich! Hatten Sie sich etwa eingebildet, daß ich so verrückt wäre, mich wirklich in Sie zu verlieben? Seien Sie doch einmal ehrlich gegen sich selbst und sagen Sie mir, was eine Frau denn an Ihnen bewundern könnte?«

 

»Ich habe doch gar nicht von Liebe zu Ihnen gesprochen«, stammelte Gordon. »Wir haben uns über philosophische Fragen unterhalten – Sie und ich … über seelische Regungen, über Dinge des guten Geschmacks …«

 

»Wenn Sie so viel Erfahrung hätten wie ich, wäre Ihnen bekannt, daß das eben Liebe ist. Vielleicht haben Sie es wirklich nicht gewußt – dann sind Sie wenigstens jetzt aufgeklärt.«

 

Gordon wurde wütend.

 

»An so gemeine Dinge habe ich niemals gedacht«, sagte er scharf. »Wir sprachen von … unwägbaren Dingen. Jede … Liebkosung lag mir fern – ich habe ja kaum Ihre Hand gehalten. Wollen Sie vielleicht behaupten, daß sich irgend etwas anderes hinter unseren Gesprächen über prähistorische Dinge oder hinter unserem Gedankenaustausch über das unterbewußte Ich verbarg?«

 

Zu seinem nicht geringen Schrecken nickte sie.

 

»Natürlich, in dieser Art äußert sich eben bei Hochintellektuellen die Liebe! Wenn diese Leute anfangen, mir von ihrer Wissenschaft, vom Steinzeitalter und all solchen Dingen zu erzählen, dann weiß ich, daß sie einen Narren an mir gefressen haben.«

 

»Sie haben also die ganze Sache nur angezettelt, um mich wegzulocken?«

 

»Begreifen Sie denn das immer noch nicht?« fragte sie ehrlich erstaunt. »Sie haben wirklich eine lange Leitung, Ihre Denkmaschine arbeitet etwas zu langsam! Aber nun haben Sie das Richtige entdeckt. Es war meine Aufgabe, Sie fortzubringen, während der Doppelgänger –«

 

Er sah jetzt alles vollkommen klar, nun gab es keine Geheimnisse mehr für ihn. Nun brauchte er nicht mehr nachzugrübeln, er durchschaute die ganze List. Ihre Gesichtszüge waren finster, sie schien von düsteren Gedanken gequält zu sein.

 

»In meiner Maske hierherkam.«

 

»Er hat mich hintergangen – dieser Mann kann nicht einmal gerade und aufrichtig sein, wenn er eine Röhre entlanggleitet. Und ich bin mit offenen Augen in die Falle gegangen! Ein paar Leute, die mit ihm zusammen gearbeitet haben, sagten es mir. Und es ist auch wirklich so gekommen. Gestern morgen, bevor ich Sie nach Ostende lotsen wollte, ging ich zu ihm, damit er das Geld aus der Smith-Sache mit mir teilen sollte – nein, an der Geschichte selbst war ich nicht beteiligt, meine Freundin machte den alten Esel so verrückt, daß er sie heiraten wollte. Sie mußte aber unerwarteterweise nach Hause zurück, weil ihr ältester Junge krank war, und ich streckte ihr ihren Anteil vor. Sie arbeitete wie ich mit ihm auf der Basis von vierzig bis sechzig Prozent. So habe ich sie auch ausgezahlt. Sie hat ihr Geld redlich verdient, sie hat sich die größte Mühe mit dieser alten Vogelscheuche gegeben. Das einzige Interesse, das er überhaupt hatte, waren Briefmarken, und sie mußte diese ganz verdrehte Sache eingehend studieren. Dan hatte früher versprochen, ehrlich zu teilen – obendrein bin ich noch seine Freundin!«

 

Gordon rieb sich die Stirn.

 

»Ist er nicht Ihr – Ihr Mann?«

 

Sie wurde zornig.

 

»Was, das soll mein Mann sein?« fuhr sie ihn an. »Nun hören Sie aber mal zu. Ich bin eine anständige, verheiratete Frau, denken Sie stets daran, mein Junge! Ich bin schon seit zehn Jahren verheiratet. Ich habe eine hübsche, kleine Wohnung in New York und einen wirklich netten und lieben Mann.«

 

»In New York?« fragte er erstaunt.

 

Sie zögerte.

 

»Nun, er ist augenblicklich gerade nicht in New York – er ist im Zuchthaus. Aber er ist vollkommen unschuldig, das weiß der Himmel. John konnte beweisen, daß er ein Schlafwandler ist, jawohl. Er ist es schon seit Jahren. Als ihn die Polizisten in Attonsmiths Juwelierladen faßten, wußte er überhaupt nicht, wie er dort hingekommen war. Er ist einer der besten Sänger im Männerchor des Sing-Sing-Gefängnisses, aber in einem Monat kommt er heraus. Dann gehe ich natürlich nach Hause zurück, um ihn zu begrüßen.«

 

»Aber er ist doch ein ganz gemeiner Dieb«, sagte Gordon.

 

Heloisens klassisch schönes Gesicht wurde dunkelrot.

 

»Sagen Sie einmal, woher haben Sie denn eigentlich den Mut, andere Leute so zu beleidigen? Ein Dieb! John ist kein Dieb! Er hatte nur furchtbares Pech bei seiner Arbeit. Und dann vergessen Sie nicht, er ist ein Schlafwandler! Wenn er wach ist und seine Gedanken beisammen hat, nimmt er nicht das geringste ohne Quittung. Nur manchmal in der Nacht kommt es über ihn. Nein, John ist ein Gentleman – obgleich er im Polizeipräsidium auf der Liste der besten Geldschrankknacker steht.«

 

»Dann ist er also ein Bankräuber?« sagte er verstehend. »Wie interessant! Und natürlich besucht er nur Banken, bei denen er kein Depot hat!«

 

»Selbstverständlich – das ist sein Beruf. Ich habe ihn früher begleitet, aber er fühlte sich beunruhigt und nervös, wenn ich dabei war. Deshalb habe ich dann auf eigene Faust gearbeitet, und so bin ich auch mit dem Doppelgänger zusammengekommen. Er ist zwar nicht gerade sehr ehrlich, aber er kann etwas. Das muß man ihm lassen. In seinem Fach ist er ungewöhnlich tüchtig. Er behandelt seine Partnerin stets wie eine Dame. Das ist aber auch das einzig Anziehende an ihm.«

 

Sie sprach von ihm, wie eine Schauspielerin etwa von einem Kollegen gesprochen hätte – ohne Ärger, ohne Neid.

 

Gordon hörte nun auf, mit den Fingern auf den Küchentisch zu trommeln und kehrte wieder zur Wirklichkeit zurück.

 

»Kommt denn nun der Doppelgänger hierher? In meiner Verkleidung? Läuft die ganze Sache darauf hinaus? Welch ein Idiot war ich doch! Und Sie waren der Lockvogel … und alle unsere Unterhaltungen über seelische Probleme waren …«

 

»Unsinn!« fiel sie ihm ins Wort. »Es wäre schon an und für sich Unsinn gewesen. Alles derartige Gerede und Gewäsch ist Blech!«

 

»Aber – warum sind Sie denn überhaupt hierher ins Haus gekommen?«

 

»Weil ich mein Geld zurückhaben will – das Geld, das ich meiner Freundin vorgestreckt habe. Er wollte es mir nicht geben. Er log mir vor, daß er das Geld für den Scheck von Smith noch nicht habe. Er sagte, daß er selbst nichts habe, und dabei schwimmt er doch im Überfluß. Er war so auswattiert mit Banknoten, daß man ihn nicht anfassen konnte, ohne daß es raschelte. Als ich ihm sagte, daß ich nicht weiterarbeiten würde, bis er die alte Rechnung beglichen habe, sagte er, ich solle zum Teufel gehen, ich hätte kein Recht gehabt, meine Freundin auszuzahlen, und er würde die Sache auch ohne mich zu Ende bringen. Aber das wird ihm nicht gelingen!«

 

Gordon sah sie düster an.

 

»Warum sagen Sie mir denn das alles? Ist Ihnen nicht klar, daß Sie sich dadurch vollständig in meine Hand gegeben haben? Ich brauche nur die Polizei anzurufen, dann sitzen Sie fest!«

 

Sie war nicht im mindesten verwirrt.

 

»Mein Junge, Sie haben wirklich einen Verstand wie eine Fledermaus! Vergessen Sie alles, Onkel Artur!«

 

Ihre Worte trafen ihn wie Schläge. Onkel Artur! Es war ja alles hoffnungslos!

 

»Wie kann ich denn diesen Doppelgänger erkennen – wenn er kommt? Wann erwarten Sie ihn denn?«

 

Was sich auch immer ereignen sollte, er war fest entschlossen, den Plan des Doppelgängers zum Scheitern zu bringen.

 

»Warum wollen Sie denn das wissen? Dan wird auf einmal dasein, ganz natürlich! Er ist der schlaueste und tüchtigste Kerl in seinem Fach. Unser gespanntes Verhältnis veranlaßt mich nicht dazu, ihn ungerecht zu beurteilen. Er ist einer von den ganz Großen. Er hat zwar keine Begabung für einfache Division, aber wir sind eben nicht alle als Mathematiker geboren. Wenn der kommt, werden Sie es nicht wissen. Er kommt auch nicht immer in der Rolle seines Opfers. Manchmal spielt er auch sehr geschickt einen Butler.«

 

Gordon erschrak und dachte an Superbus. Aber es erschien ihm doch unmöglich, daß der Mann sich soweit erniedrigen sollte, eine solche Rolle zu spielen.

 

»Glauben Sie, daß der Detektiv –?«

 

»Ich habe es früher schon erlebt, daß Dan als der Detektiv aufgetreten ist, der seine Opfer bewachen sollte. Das ist sogar eine seiner Lieblingsverkleidungen. Er ist unerschöpflich in seinen Erfindungen. Aber, mein Junge, ich gebe Ihnen hier Aufschlüsse, die mehr als eine Million Dollar wert sind. Sie sollten mir auf den Knien danken. Aber Sie sind natürlich ein undankbares Geschöpf. Wissen Sie, seine beste Rolle ist eigentlich, wenn er den Geistlichen spielt, der auf Besuch kommt. Darin ist er einfach unübertrefflich. Er hat mir erzählt, daß er einmal eine Viertelmillion Dollar auf diese Weise aus der Kirche herausgeholt hat.«

 

»Ein Pfarrer – heute war doch einer hier?« sagte Gordon nachdenklich. »Aber warum machen Sie sich denn nicht den Gesetzesparagraphen zunutze, nach dem Sie frei ausgehen, wenn Sie gegen ihn als Zeugin auftreten?«

 

»Sind Sie denn ganz verrückt? Sie beleidigen mich, wenn Sie mir so etwas zumuten! Die ganze Sache ist eine reine Privatangelegenheit zwischen Dan und H. C. Ich heiße nämlich Chowster. Mein Vater war der Pastor Chowster in Minneapolis. Ich habe eine höhere Schule besucht und bin zu sehr Dame, als daß ich jemand bei der Polizei verpfeifen würde. Abstammung und Erziehung lassen sich nicht so leicht vergessen!«

 

Er bedeckte das Gesicht mit den Händen.

 

»Was bin ich doch für ein Esel gewesen, es ist unglaublich!«

 

Heloise betrachtete ihn. In dieser Haltung war er ihr interessanter.

 

»Ich werde es nicht dulden! Was sich auch ereignen mag, ich werde ihm einen Knüppel zwischen die Beine werfen!«

 

»Was meinen Sie?« fragte sie ironisch.

 

»Soll ich vielleicht ruhig zusehen, wie ein Verbrecher …«

 

»Gebrauchen Sie nicht solche Ausdrücke!« protestierte sie.

 

»… ungestraft die menschliche Gesellschaft ausplündert?«

 

»Mein John sagt, daß er einen Geldschrank sogar mit einer Haarnadel öffnen könne –«

 

»Ich werde es der Polizei berichten«, sagte Gordon entschieden. »Es war töricht von mir, daß ich es nicht gleich tat. Vielleicht werde ich dadurch bloßgestellt, es mag meinen gesellschaftlichen Ruin bedeuten … aber ich werde dafür sorgen, daß Sie beide hinter Schloß und Riegel kommen – Sie alle beide!«

 

Sein Wutausbruch machte aber keinen Eindruck auf sie.

 

»Mein honigsüßer Liebling!« girrte sie. »Werde doch nicht verrückt, mein Baby.«

 

Er fuhr zornig auf sie los.

 

»Nur Sie sind daran schuld, daß Miss Ford glaubt, zwischen uns bestehe irgendein Verhältnis. Ich könnte Ihnen alles verzeihen, aber das nicht!«

 

»Ach, haben Sie mich nie geliebt?« verspottete sie ihn. »Oh, mein lieber Junge, lache doch, mein Liebling, mein reizendes Baby, zeige doch einmal deine reizenden kleinen Zähnchen!«

 

Diana war in die Küche getreten und hatte die paar letzten Worte gehört.

 

»Wollen Sie so freundlich sein, Ihre Liebeserklärungen für eine Zeit aufzuheben, wenn Sie wieder aus dem Hause sind?« fragte sie böse. Gordon erschrak, als er ihre Stimme vernahm.

 

»Aber warum denn?« fragte Heloise und lachte Diana unverschämt an. »Hat denn ein Verbrecher nicht auch das Recht auf ein bißchen Liebe? Ich will ja gern zugeben, daß Onkel Artur nicht so hübsch und süß ist wie Ihr lieber Wopsy, aber er ist in Tante Lizzies Augen wirklich ein netter Junge.«

 

Gordon wäre dazwischengefahren, wenn er nicht vollständig gebrochen gewesen wäre. Er ging in die Aufwaschküche und ließ seinen schmerzenden Kopf auf die Messerputzmaschine sinken.

 

Diana fühlte, daß es absurd war, sich einer solchen Frau gegenüber zu antworten. Aber sie tat es dennoch.

 

»Mr. Dempsi ist – ein lieber Freund von mir. Wie können Sie ihn mit Ihrem Komplicen vergleichen?« Es war ihr elend zumute, denn sie erkannte plötzlich bestürzt, daß der Doppelgänger entschieden der Begehrenswertere von beiden Männern war. Heloise hatte sie gespannt beobachtet.

 

»Ach, die letzten Ereignisse haben mir einen Stoß versetzt. Es ist wirklich keine Beschäftigung für mich«, seufzte Heloise.

 

Ihre Worte machten Eindruck. Dianas Gesicht hellte sich auf und nahm einen freundlichen Ausdruck an.

 

»Es tut mir manchmal wirklich leid um Sie.«

 

Heloise senkte den Kopf.

 

»Ich bin fast immer traurig. Wenn Sie wüßten – es ist ein Höllenleben«, sagte sie bitter.

 

Diana fühlte Mitleid mit ihr. Die Verlassenheit und das tragische Geschick dieser Frau riefen nach Hilfe.

 

»Daran hätte ich eben denken sollen«, sagte Diana gütig. »Es tut mir leid, daß ich eben so hart zu Ihnen war.«

 

Der größte Stratege zeichnet sich dadurch aus, daß er den Augenblick erkennt, in dem der Feind zu schwanken beginnt. Heloise brachte jetzt ihr schweres Geschütz in Front.

 

»Ich war gut, bevor ich ihm begegnete!« Sie schluchzte unterdrückt.

 

Gordon hörte zu seinem Entsetzen diese Worte und kam eilig in die Küche zurück.

 

»Diese Heuchelei –«

 

»Seien Sie sofort ruhig!«

 

Der Mut verließ ihn wieder, als Diana ihn zornig anblitzte.

 

»Er hat mich erst schlecht gemacht, er hat mich in den Abgrund gezogen –«

 

Heloise kämpfte um ihre Sicherheit und Freiheit. Sie war eine ausgezeichnete Schauspielerin.

 

Dianas Stimme zitterte, als sie sich an den bestürzten Mann wandte.

 

»Sie gemeiner, brutaler Mensch! Daß es überhaupt möglich ist, solch einen Verbrecher auf die Menschheit loszulassen! Ich habe das schon geahnt. Sie sind ein Tiger, ein Vampir in Menschengestalt! Warum verlassen Sie ihn denn nicht, Heloise?« fragte sie liebevoll.

 

Heloise wischte sich die Augen und schluchzte.

 

»Er hat mich vollständig in der Hand. Diese Männer lassen eine Frau nicht wieder los. Ich bin ihm verfallen bis zum Ende!«

 

Gordon sprang auf. Sie wich angstvoll vor ihm zurück.

 

»Lassen Sie nicht zu, daß er mich anrührt!« rief sie erschrocken.

 

In der nächsten Sekunde hatte Diana den Arm um sie gelegt.

 

»Zurück!« donnerte sie Gordon an. »Schlägt er Sie auch?«

 

Heloise nickte mit jener zögernden Schüchternheit, die so überzeugend wirkt.

 

»Ich bin manchmal am ganzen Körper schwarz und braun und blau«, weinte sie. »Er wird mich sicher deshalb wieder furchtbar schlagen. Aber kümmern Sie sich nicht um mich, Miss Ford, ich bin es nicht wert. Ich muß bei ihm bleiben bis zum bitteren Ende – der Himmel mag mir helfen!«

 

»Sie gemeiner Schuft!«

 

Heloise weinte. Gordon war so entsetzt, daß er auch hätte weinen mögen.

 

»Warum können Sie ihn denn nicht verlassen? Sind Sie mit ihm verheiratet?«

 

Heloise hatte sich wieder etwas beruhigt. Sie lächelte jetzt unendlich traurig, und ihre müden, abgespannten Gesichtszüge schienen eine Geschichte von maßloser Qual und Erniedrigung zu erzählen.

 

»Diese Art Männer heiraten nicht«, sagte sie leise.

 

Diana schaute Gordon mit Basiliskenaugen an.

 

»Aber er wird Sie jetzt heiraten«, erwiderte Diana.

 

Heloise warf sich Gordon zu Füßen. Er machte nicht einmal den Versuch, seine Hand fortzuziehen, als sie sie umklammerte. Dieser entsetzliche Traum mußte doch einmal zu Ende sein! So ungeheuerliche Dinge konnten sich doch in einer wohlgeordneten Welt nicht zutragen! Er brauchte sich ja nur ruhig zu verhalten – gleich würde ihn Trenters Stimme wecken: »Es ist acht Uhr, mein Herr. Ich fürchte, es regnet heute.« Trenter entschuldigte sich immer wegen des schlechten Wetters. Und dann würde er die Augen öffnen …

 

Aber Heloisens seufzende Stimme weckte ihn.

 

»Du hast gehört, was die liebe junge Dame eben gesagt hat – heirate mich, Dan! Ach bitte, heirate mich!«

 

Gordon lächelte wie ein Narr. Diana hielt das für ein höhnisches, sarkastisches Grinsen.

 

»Mach mich doch wieder so gut, wie ich war, als du mich von Connecticut fortlocktest«, bat Heloise.

 

Sie hatte zum Schluß nur noch ganz leise gesprochen, und nun erstickten ihre Worte in einem Schluchzen. Für einen Augenblick erlangte Gordon seine Selbstbeherrschung wieder.

 

»Was soll denn dieses ganze Geplärr bedeuten?« fuhr er sie an und versuchte, seine Hand frei zu machen.

 

»Mann!« rief Diana wütend. »Sehen Sie sich jetzt vor!«

 

»Ich sage Ihnen –«

 

»Sie werden das Mädchen heiraten!«

 

»Ich – ich kann nicht – und ich will auch nicht! Schert euch doch alle zum Teufel!«

 

Heloise brach unter diesem Schicksalsschlag vollkommen zusammen.

 

»Aber du hast es mir doch versprochen – denke doch an deine heiligen Eide! Du wirst dich doch noch an dein Wort halten! Sage doch, daß es nicht wahr ist, Dan!«

 

Diana empfand das tiefe Leid dieser Frau.

 

»Du meinst es doch nicht so, Dan – du hast doch eben nur einen Scherz gemacht!«

 

Gordon zeigte seine Zähne und schnitt eine Grimasse.

 

»Oh, ich sehe, du lächelst wieder – du siehst mich wieder gütig an! Wir werden in Zukunft dieses elende Handwerk lassen – diese liebe junge Dame hat recht. Wir wollen ein anderes Leben beginnen. Nicht wahr, Dan, du versprichst es mir? Ich werde dann wieder deine liebe, kleine Frau sein, die auf der Veranda sitzt, während du die Hühner im Garten fütterst!«

 

»Das verdammte Hühnerfutter!« rief Gordon außer sich vor Wut. »Ich wünsche Sie und Ihre ganze Veranda zum Kuckuck! Heiraten soll ich Sie auch noch? Diana, kannst du denn dieses ganze Theater nicht durchschauen? Sie spielt dir etwas vor! Zwischen uns besteht keine Beziehung!«

 

»Er verhöhnt mich auch noch!« stöhnte Heloise und warf sich auf den Boden. Diana war sofort an ihrer Seite und hob sie wieder auf.

 

»Kommen Sie mit mir, mein Liebling, alle Bitten an diesen steinharten Wüstling sind doch nur umsonst und verschwendet und Sie können obendrein noch lachen!«

 

»Ich lache nicht«, sagte Gordon beleidigt. »Was zum Teufel sollte ich denn über diese Gemeinheit auch noch lachen! Wenn es überhaupt etwas zu lachen gäbe, dann könnte man über Sie lachen, die sich von einer solchen Gaunerin hereinlegen läßt!«

 

Diana sah ihn verächtlich an und wandte sich dann ganz dem Mädchen zu.

 

»Wenn ich Ihnen nun das Geld zur Rückreise schenkte, würden Sie dann nach Hause fahren?«

 

Heloise nickte schwach.

 

»Ich werde es Ihnen morgen geben. Kommen Sie jetzt.«

 

Heloise befreite sich sanft aus ihren Armen.

 

»Nein – ich will hierbleiben«, sagte sie ganz gebrochen. »Ich muß Dan etwas sagen – etwas, das keine andere Frau hören soll.«

 

Diana wurde bleich.

 

»Oh, ich verstehe«, sagte sie freundlich und ging hinaus.

 

Heloise wartete, schlich sich zur Tür, lauschte eine Weile, dann drehte sie sich plötzlich in ausgelassenster Freude um.

 

»Holla!« sie tanzte wild in der Küche umher. »Mein Junge, das ist eine Frau! Heloise, dein Gehalt ist erhöht, wie stehst du nun da?«

 

»Sie – Sie verruchtes Frauenzimmer!« rief Gordon atemlos. »Wie dürfen Sie – das ist doch die äußerste Schamlosigkeit!«

 

»Ach, sehen Sie einmal an!« Sie stemmte die Hände in die Hüften und sah ihn von unten herauf an. »Ich muß mir doch auch etwas auf die Seite legen, seien Sie doch vernünftig, Mann! Ich habe zur Zeit kein Geld, man könnte keine zwei Dollar aus mir herauspressen. Wenn Dan nun keinen Erfolg hat, wo soll ich denn mein Reisegeld herbekommen? Seien Sie doch vernünftig, mein Liebling!«

 

»Sie haben Miss Ford hintergangen!«

 

»Aber nun schlägt es dreizehn! Heiliger Michael! Haben Sie sie vielleicht nicht hintergangen? Sie sind ein dummer Esel, daß Sie dieses hübsche Mädel gar nicht verdienen. Glauben Sie nur nicht, daß ich sie verachte, weil man leicht mit ihr fertig werden kann! Diana ist wirklich gut. Sie haben mich belogen, als Sie sagten, Sie seien verheiratet. Vielleicht sind Sie tatsächlich verheiratet, aber nicht mit Diana! Die ist viel zu vernünftig, um einen solchen Einfaltspinsel zu nehmen!«

 

Er ging in der Küche wütend auf und ab, sprach zu sich selbst, dann blieb er plötzlich vor ihr stehen.

 

»Sie haben mich der schändlichsten Gemeinheiten angeklagt, Sie haben mir meinen guten Ruf genommen – in ihren Augen bin ich jetzt der Doppelgänger!«

 

Heloise steckte sich wieder eine Zigarette an, setzte sich auf die Tischkante und baumelte mit den Beinen.

 

»Na, mein Junge, Sie haben aber wenig Sinn für Humor!« sagte sie vergnügt. »Diana kann sich gut kleiden – Donnerwetter, das Kleid, das sie heute nachmittag trug, war fabelhaft, dagegen sehe ich alt aus.«

 

Er beruhigte sich etwas, sah die Nutzlosigkeit ein, mit ihr zu streiten. »Ich werde noch in einem Irrenhaus enden! Aber ebenso sicher wird der Doppelgänger ins Zuchthaus kommen!«

 

»Kümmern Sie sich bloß nicht um anderer Leute Angelegenheiten! Dieses kleine Spiel hier geht sehr bald seinem Ende zu. Ich habe meine Aufgabe glänzend gelöst. In einigen Wochen kommt mein John nach Hause, und mit dem Doppelgänger werde ich auch noch fertig werden.«

 

»Meinen Sie, daß er doch noch kommt? Werden wir ihn sehen?« fragte Gordon gespannt.

 

»Wir werden uns sehen, und er wird fortgehen«, erwiderte sie geheimnisvoll. »Und er muß diesmal ehrlich mit mir teilen. Wenn er glaubt, daß ich mich diesmal mit zwanzig zu achtzig zufriedengebe, täuscht er sich. Ich kenne es von Hause aus nicht anders, als daß fünfzig zu fünfzig geteilt wird.«

 

»Jetzt warne ich Sie aber. Die Sache ist schon zu weit gediehen«, sagte Gordon nachdrücklich. »Im Geldschrank sind fünfzigtausend Dollar eingeschlossen, und deswegen wird er wohl hierherkommen wollen. Aber woher er das wissen konnte –«

 

»Fünfzigtausend?« fragte sie atemlos. »Das erklärt alles. Sie haben mir in vertraulichen Gesprächen einmal gesagt, daß Sie höchstens tausend Pfund zu Hause hätten, aber nicht –«

 

»Das Geld ist auch nur ausnahmsweise hier, um einen Amerikaner auszuzahlen«, erwiderte er ungeduldig. »Außerdem habe ich gar keinen Grund, Ihnen zu erklären, warum ich Geld in meinem Hause habe. Es liegt in meinem Geldschrank – das genügt doch!« Heloise war nachdenklich geworden.

 

»Er wußte es also – dieser gemeine Mensch, dieser Heuchler! Kann man da nicht alle Lust verlieren? Fünfzigtausend Dollar! Und das wollte er alles so mir nichts, dir nichts allein schlucken?«

 

Sie schien Gordons Gegenwart vergessen zu haben. Die Ungeheuerlichkeit dieses Verrats war zu groß.

 

»Deshalb wollte er also allein arbeiten! ›Gehe nach Ostende‹, sagte er, ›und überlasse mir das übrige.‹ Und das waren fünfzigtausend Dollar. Mir erzählte er, daß er tausend Pfund hier zu finden hoffte! Eine solche Gemeinheit ist doch noch nie in unseren Kreisen vorgekommen.«

 

»Was Sie da alles erzählen, interessiert mich nicht im mindesten«, sagte Gordon mürrisch.

 

»Aber er wird diesmal anständig mit mir teilen«, fuhr Heloise grimmig fort. »Er wird sich ordentlich benehmen, selbst wenn es ihm schwerfällt. Ja, mein Herr, zwischen Dan und Heloise Chowster muß es anständig zugehen! Dieser schamlose Mensch, dieser verdammte Affenpinscher!«

 

Die Hinterlist dieses Mannes änderte plötzlich ihre ganze Lebensanschauung. All ihre Ideale wankten.

 

»Es wird überhaupt nichts geteilt hier, verstehen Sie?! Ich werde mich doch nicht ausplündern lassen – denken Sie denn, ich bin ein Narr?«

 

Sie sah ihn an, als ob sie in seinem Gesicht das Gegenteil lesen wollte. Aber plötzlich änderte sich ihr ganzes Wesen wieder, als sie Dianas Schritte auf der Treppe hörte.

 

»Ich bitte dich um nichts mehr, Dan, du bist ja doch hart wie Stein. Ich wünsche dir alles Gute. Willst du mir nicht noch ein letztes Mal deine Hand geben?«

 

Gordon starrte sie entsetzt an, dann fielen seine Blicke auf Diana, und er verstand.

 

»Wir wollen doch nicht so voneinander scheiden, Dan! Ich verzeihe dir alles, was du mir angetan hast. Lebe wohl!«

 

Sie streckte zaghaft die Hand aus. Gordon hätte sie am liebsten links und rechts geohrfeigt.

 

»Guten Abend!«

 

»Sie niederträchtiger Halunke, wollen Sie ihr wohl sofort die Hand geben?« fuhr ihn Diana an.

 

Er gehorchte widerwillig. »All right – Guten Abend!«

 

Diana wußte zwar, daß Verbrecher abgestumpft und gefühllos waren, aber wie gemein und brutal sie sein konnten, hatte sie sich nie träumen lassen.

 

»Kommen Sie mit mir, meine Liebe. Sie sollen ihn nicht wiedersehen.«

 

»Danke vielmals«, sagte Gordon. »Das sind die ersten angenehmen Worte, die ich von Ihnen höre.«

 

Diana behandelte ihn mit der Verachtung, die er ihrer Meinung nach verdiente.

 

»Miss Ford, darf ich Sie um etwas bitten?« Heloise sah nachdenklich auf ihre Wohltäterin.

 

»Aber sicherlich.«

 

»Diese Kleider passen nicht recht zu meiner Gemütsverfassung. Sie denken natürlich, ich sei verrückt. Aber Kleider bedeuten sehr viel, selbst für eine Frau meiner Art. Und sie sind etwas zu bunt und schreiend für ein Mädchen mit gebrochenem Herzen. Wenn Sie ein etwas ruhigeres und ernsteres Kleid hätten, das mehr zu meiner Trauer paßte …«

 

Diana lächelte. Wie gut sie das verstehen konnte!

 

»Ich kann Ihnen das sehr gut nachfühlen. Kommen Sie in mein Zimmer, Heloise. Sie brauchen sich nicht zu fürchten. Ich werde Superbus schicken, damit er auf diesen Mann hier aufpaßt!«

 

Kapitel 25

 

25

 

Gordon lag in seinem Bett und lauschte. Eine Kirchturmuhr schlug eins. Vor einer Stunde hatte er gehört, wie Bobby draußen gute Nacht sagte, und er hatte ebenfalls mit gute Nacht geantwortet.

 

»Ich spreche nicht mit Ihnen«, rief Bobby unwirsch.

 

Er war den ganzen Abend fort gewesen, um den Polizeiinspektor Carslake zu sprechen, aber seine Bemühungen waren nicht sehr erfolgreich gewesen. Bobby machte seine Tür zu, auch Diana verschloß ihr Zimmer. Dempsi ging daran vorbei und hielt noch lange Monologe vor dem versperrten Portal ihres Gemaches. Von unten drang das Schnarchen von Julius Superbus herauf.

 

Alle Ausgänge aus dem Hause waren gesichert – mit Ausnahme eines einzigen, der kleinen Öffnung in dem großen Glasfenster des Studierzimmers. Gordon hatte sich vorher genau informiert, denn Diana konnte ja so vorsichtig gewesen sein, es zuzuschrauben. Aber sie hatte es anscheinend vergessen, oder sie traute Mr. Superbus, der im Studierzimmer auf dem Sofa schlief. Gordon war schon zweimal auf Zehenspitzen zu seiner Tür geschlichen und hatte die Klinke niedergedrückt. Er war in dieser Nacht nicht eingeschlossen worden. Da Bobby im Hause war, hatte Diana ihre Wachsamkeit verringert.

 

Es schlug halb zwei, Gordon verließ das Bett und kleidete sich an. Er hatte keinen Pfennig Geld bei sich, aber das Personal in den Hotels kannte ihn ja, und er konnte auf das Hotelpapier einen Scheck schreiben, dann hatte er so viel Geld, wie er nur brauchte. Dann wollte er aber hierher zurückkehren und sich Mr. Dempsi einmal vornehmen. Er hatte sich noch nicht entschieden, welchen Tod dieser Halunke sterben sollte, aber sicher würde ihm ein qualvolles Ende bevorstehen. Er dachte an Heloise … er hoffte für sie nur, daß sie inzwischen verschwunden war.

 

Er löschte das Licht, öffnete die Tür und lauschte. Als er kein Geräusch hörte, schlich er sich leise die Treppe hinunter und ging in das Studierzimmer. Mr. Superbus atmete regelmäßig. Während Gordon noch horchte, stöhnte er und warf sich auf die andere Seite. Das Schnarchen hörte auf, und Julius schlief tiefer als jemals.

 

Nun war die günstige Gelegenheit für Gordon gekommen. Aber er hatte noch keinen Schritt vorwärts getan, als plötzlich ein kreisrunder Lichtschein auf dem Fenster erschien. Er wartete und hielt den Atem an. Ein leises Geräusch folgte, dann öffnete sich der eine Fensterflügel, und eine dunkle Gestalt kam ins Zimmer.

 

Eine Weile war der Eindringling unsichtbar, dann tauchte der helle Kreis wieder auf – diesmal auf dem Geldschrank.

 

Ein Einbrecher! Gordons erster Gedanke war, auf ihn zuzuspringen und ihn dingfest zu machen, aber – dann überlegte er es sich und näherte sich ihm langsamer und vorsichtiger …

 

»Hände hoch, oder ich schieße!«

 

Sofort ging das Licht aus.

 

»Schießen Sie nicht, Sir!«

 

»Schießen Sie nicht, Sie Narr!« zischte Gordon. »Es schläft hier noch ein Mann im Zimmer. Wo ist Ihr Revolver?«

 

»Ich habe keinen bei mir.«

 

»Was machen Sie hier?«

 

»Stellen Sie keine dummen Fragen –«

 

Gordon hatte die Blendlaterne des Mannes gepackt und leuchtete ihm ins Gesicht.

 

»Ich kenne Sie!«

 

Der Mann grinste verlegen.

 

»Sie haben mich gefaßt«, sagte er verstimmt.

 

»Sie sind der Mann, der gestern morgen die Fenster geputzt hat!«

 

Der Einbrecher nickte.

 

»Das ist das erste Mal, daß man mich geschnappt hat – ich heiße Stark. Ich werde keinen Widerstand leisten, und wenn Sie dem Richter sagen, ich hätte einen Revolver bei mir gehabt, dann lügen Sie!«

 

Der Einbrecher hatte etwas lauter gesprochen, und Gordon sah sich ängstlich um. Aber Mr. Superbus schnarchte aufs neue.

 

»Pst, nicht so laut! Haben Sie den Geldschrank schon geöffnet?« Gordon kam plötzlich eine glänzende Idee.

 

»Es wäre geschehen gewesen, wenn Sie einige Minuten später gekommen wären«, sagte der Mann vorwurfsvoll.

 

Gordon nickte.

 

»Sie haben mir die Sache ganz und gar verdorben.«

 

»Öffnen Sie den Schrank.«

 

Stark wollte seinen Ohren nicht trauen.

 

»Was?«

 

»Öffnen Sie den Schrank – ich werde Sie gut bezahlen und Sie außerdem freilassen. Es ist nur ein Schloß daran, und das Schlüsselwort heißt ›Alma‹. Haben Sie verstanden?«

 

»Ist das Ihr Ernst, mein Herr?« fragte Stark ungläubig.

 

»Jawohl, ich habe meinen Schlüssel verloren. Nun gehen Sie schnell an Ihre Arbeit. Können Sie es ohne Licht machen?«

 

»Natürlich – nur dumme Amateure brauchen viel Licht, ein ganz kleiner Lichtschein genügt mir.«

 

Er holte unter seinem Rock ein kurzes Stemmeisen und ein längeres, dünnes Instrument hervor. Seinem Beruf nach war er nur ein armer Fensterputzer, aber als Einbrecher gehörte er zu den hervorragendsten Fachleuten. »Haben Sie schon einmal gesehen, wie ein Geldschrank aufgeknackt wird?« fragte er über die Schulter.

 

Gordon schüttelte den Kopf.

 

»Nein, auf diese Art jedenfalls noch nicht«, gab er zu.

 

»Es dauert Jahre, bis man das lernt. Viel Geld ist auch nicht damit zu machen«, meinte Mr. Stark traurig. »Das ganze Geschäft ist durch die Fremden verdorben worden. Es sind zu viele Leute im Handwerk, zu viele Outsider. Es ist hier genauso wie überall – meistens sind es Amerikaner. Warum sie nicht in ihrem Lande bleiben, weiß ich auch nicht. Sie sind aber tüchtig, das muß man schon sagen, obgleich sie uns unser sauer verdientes Brot vor der Nase wegschnappen. Wir haben aber auch glänzende Vertreter – wenn sie nur ein wenig Aufmunterung hätten, ich meine etwas Kapital.« Die Geldschranktür öffnete sich. »So, sehen Sie, das hätten wir wieder einmal gekonnt!«

 

»Wie – schon offen?« fragte Gordon erstaunt und etwas verärgert. Der Mann, der ihm den Geldschrank verkauft hatte, hatte ihn also tüchtig belogen.

 

»Jawohl.«

 

»Leuchten Sie einmal hinein! Donnerwetter, es sind ja kaum noch Zehntausend da!«

 

Er raffte alles zusammen, was an Banknoten noch im Schrank lag. Plötzlich hob er den Kopf, um zu lauschen, denn es kam jemand die Treppe herunter.

 

»Machen Sie sich schnell aus dem Staub – es kommt jemand – hier, nehmen Sie das!«

 

Er steckte dem Einbrecher ein paar Banknoten in die Hand, und im nächsten Augenblick war Stark durch das Fenster verschwunden. Gordon folgte ihm auf dem Fuße.

 

»Wer ist dort?« fragte eine zitternde Stimme vom Sofa her.

 

Gordon gab ihm aber keine Antwort. Als Mr. Superbus mit überraschendem Mut auf ihn zueilte, sprang er durch das Fenster.

 

»Halt!«

 

Das war Dempsis Stimme.

 

Gordon sprang auf den Hof hinunter, als im Zimmer zwei Schüsse fielen.

 

Ein gellender Schrei ertönte. Es mußte jemand schwer getroffen sein. Diana hörte es, sprang aus dem Bett, warf den Morgenrock über und eilte in das Studierzimmer. In der Mitte des Raumes stand Dempsi, und zu seinen Füßen auf dem Boden wand sich in tausend Schmerzen die Gestalt von Julius Superbus.

 

»Er war ein Opfer seiner Pflicht«, sagte Dempsi ehrerbietig.

 

Und er hatte nicht unrecht. Mit zehn Zehen war Mr. Superbus nach Cheynel Gardens Nr. 61 gekommen, aber das Schicksal hatte bestimmt, daß er dieses Haus nur mit neun Zehen wieder verlassen sollte, denn eine hatte er bei der Schießerei verloren.

 

Kapitel 26

 

26

 

Als Diana das Fazit aus dieser ganzen Affäre zog, war sie froh, daß der Doppelgänger entschlüpft war. Der Rest der Nacht war sehr unruhig gewesen. Ärzte kamen und gingen, und das laute Wehgeschrei von Mr. Superbus schallte durch das Haus. Es tat ihr unendlich leid, daß dieser treue Wächter eine Zehe verloren hatte, obwohl es nur eine kleine Zehe war, die er nicht unbedingt zu seinem Lebensglück notwendig hatte. Aber immerhin war es eine Zehe, die bis dahin, wie er immer wieder zwischen seinen Schmerzensausbrüchen erklärte, ein treuer Begleiter durch sein wechselvolles Leben gewesen war.

 

Ja, er tat ihr wirklich sehr leid, obgleich der Arzt erklärte, daß er jetzt keine Schmerzen mehr habe. Auch hatte der Doktor, der den furchtsamen Charakter von Mr. Superbus nicht kannte, gemeint, Julius sei mehr erschreckt als verletzt worden. Aber sie war froh, daß der Doppelgänger verschwunden war.

 

Die Schießerei hatte ein sehr angenehmes Resultat gehabt – Dempsi war seitdem sehr kleinlaut geworden, er hatte sie kein einziges Mal mehr seinen »von den Sternen herabgestiegenen Engel« oder sonstwie genannt. Er, der Himmel und Erde geplündert hatte, um ihre Schönheit, ihren Charme und ihre sonstigen Vorzüge zu beschreiben, gab sich jetzt mit ganz gewöhnlichen Gemeinplätzen zufrieden.

 

»Der arme Wop hat anscheinend noch nie eine Pistole in der Hand gehabt«, meinte Bobby, »und das verfluchte Ding ging los, bevor er merkte, daß er den Abzug berührt hatte.«

 

»Der arme Wop!« sagte Diana vorwurfsvoll. »Du würdest doch besser den armen Mr. Superbus bedauern!«

 

Sie hatten schon vor einiger Zeit gefrühstückt, und Bobby war schon auf der Bank gewesen. Mr. Dempsi war ausgegangen.

 

»Wie hast du eigentlich geschlafen?« fragte er liebenswürdig.

 

»Schrecklich. Aber Bobby, hast du das Geld bekommen?«

 

»Ja, glücklicherweise ist die Überweisung deiner Gelder noch am Sonnabend kurz vor Geschäftsschluß erfolgt. Der Direktor hat sich riesig entschuldigt. Ich habe das Geld – hier ist es.«

 

Er zog ein dickes Paket amerikanischer Banknoten aus seiner Hüfttasche. Sie sah die Scheine nachdenklich an und preßte die Lippen zusammen.

 

»Ich erhielt eine Telegramm von Gordon aus Inverness.«

 

»Dann ist er also dort angekommen«, sagte er trocken. »Und wie geht es unserem alten Autobus?«

 

»Der arme Kerl.« Sie lachte. »Ich hoffe, daß er sich allmählich an seinen überaus großen Verlust gewöhnt. Im Augenblick ist seine größte Sorge, was seine Frau zu seiner verlorenen Zehe sagen wird. Nach seinen Reden zu urteilen, zählt sie sie jeden Abend nach.«

 

Bobby grinste am Kamin. Es erschien ihm außerordentlich komisch, daß ein Mann eine kleine Zehe verlieren konnte.

 

»Hast du nichts von dem Doppelgänger gehört?« fragte er.

 

»Nein, er scheint verschwunden zu sein. Aus den Spuren an der Mauer geht hervor, daß er hinübergeklettert ist. Nach dem Bericht des Mr. Superbus muß er noch einen Helfershelfer gehabt haben. In einer Beziehung bin ich ganz froh, daß er fort ist.«

 

Bobby sah sie erstaunt an.

 

»Wieso denn?«

 

»Um des armen Mädchens willen.« Diana machte ein ganz trauriges Gesicht. »Du kannst dir gar nicht vorstellen, was sie alles durch ihn hat leiden müssen, Bobby. Es ist doch noch ein guter Kern in Heloise. Natürlich ist sie jetzt vollständig niedergeschlagen, daß sie ihn verloren hat. Aber das ist der Fluch der Frauen – sie geben niemals ihre Hoffnung auf.«

 

»Er muß sich aber sehr schnell aus dem Staub gemacht haben. Ich war unmittelbar nach Dempsi unten, und obgleich ich das ganze Haus und den Hof absuchte, konnte ich von dem Teufel doch nichts mehr finden.«

 

»Wir wollen nicht mehr über ihn sprechen. Aber Dempsi hat sich glänzend benommen. Ich war freudig überrascht – das ist das einzige Mal, daß ich das von ihm sagen kann. Ich hätte kaum gedacht, daß ein Mann von seinem erregbaren Temperament diese Sache so kühl aufnehmen könne. Er ist jetzt ganz still geworden, ich glaube, die Schießerei hat ihn ein wenig nervös gemacht. Er wollte immer wissen, ob ich die Polizei benachrichtigt habe, aber natürlich habe ich das nicht getan – soweit es sich um Mr. Superbus‘ Zehe handelt. Er verläßt heute das Haus.«

 

»Dempsi?«

 

»Er sagt, daß er tausend Jahre auf mich warten will.« Sie seufzte. »Ich sagte ihm, hundert würden auch genügen. Er hat den ganzen Morgen nichts mehr von einer Heirat gesagt. Ich möchte fast sagen, daß er mir dadurch lieb geworden ist.«

 

Der Mann, von dem sie sich unterhielten, kam ein paar Minuten später in das Zimmer. Er sah hager und nach Bobbys Meinung keineswegs anziehend aus.

 

»Guten Morgen, Mr. Selsbury – haben Sie nicht Tante Lizzie gesehen? Ich möchte ihr kondolieren. Es ist doch schrecklich, wenn Leute, die sich gern haben, getrennt werden. Und wie entsetzlich für Sie – sagten Sie nicht, daß er der Doppelgänger war? Es schaudert mich, wenn ich daran denke. Aber die kleine Diana« – er sah sie bewundernd an – »hat sich nicht im mindesten gefürchtet – oh, das war ganz wundervoll! Aber bitte, erzähle mir doch, wer ist denn eigentlich Tante Lizzie!«

 

»Eine Freundin von mir«, sagte Diana kurz.

 

Dempsi schüttelte traurig den Kopf.

 

»Ich werde es mir niemals verzeihen, daß ich Mr. Superbus – in die Zehe geschossen habe«, sagte er bedauernd.

 

Bobby lachte.

 

»Das klingt fast so, als ob es Ihnen leid täte, daß Sie ihn nicht durch den Kopf geschossen haben.«

 

Dempsi schrak vor dieser schrecklichen Verdächtigung zurück.

 

»Das mag der Himmel verhüten – ich bewundere Superbus!«

 

»Er hätte nicht schlafen sollen«, meinte Diana. »Er hatte mir versprochen zu wachen.«

 

Sie eilte zur Tür, denn das Aufstoßen eines Stockes auf dem Parkettboden der Diele kündigte den Invaliden an. Sein rechter Fuß war malerisch mit weißen Bandagen umwunden. Er hatte eine Krücke unter dem einen Arm und bewegte sich nur ruckweise vorwärts. Er lächelte Diana schwach und müde an. Bobby faßte ihn an dem einen, Mr. Dempsi an dem anderen Arm, und so kamen sie unter vielem Stöhnen und Seufzen bei dem Sofa an.

 

»Fühlen Sie sich jetzt besser, Mr. Superbus?«

 

Er schüttelte den Kopf. Er wollte nicht gern in diesem frühen Stadium schon alle Sorgfalt und Pflege vermissen, die ihm seiner Meinung nach jetzt zukamen.

 

»Mittelmäßig, Madam, mittelmäßig, natürlich bin ich ein wenig mitgenommen – das geht mir immer so, wenn ich bei einer Schießerei beteiligt war. Ach, es ist furchtbar. Wenn ich daran denke«, stöhnte er mit zitternden Lippen, »daß gestern meine Zehe noch wohl und lebendig war.«

 

Mr. Dempsi bedeckte die Augen mit seiner langen, dünnen Hand.

 

»Und ich habe es getan«, sagte er mit einem tiefen, verzweifelten Seufzer.

 

»Lassen Sie es sich nicht so sehr zu Herzen gehen«, beruhigte ihn Julius mit der Miene eines christlichen Märtyrers, der selbst noch die Löwen entschuldigt, die ihn zerreißen sollen. »Das hätte jedem anderen auch passieren können. Ich hätte nur gewünscht, daß Sie ihn getroffen hätten, oder sie …«

 

Diana wurde aufmerksam.

 

»Oder sie? War denn die andere Person eine Frau?«

 

»Das ist sehr leicht möglich.« Julius war nicht bereit, sich weiter hierüber zu äußern, da er selbst nicht ganz sicher über diesen Punkt war.

 

»Ob es ein Mann oder eine Frau war, kann ich im Augenblick nicht sagen«, erklärte er düster. »Das wird bei der Untersuchung alles noch herauskommen.«

 

»Was ist denn eigentlich tatsächlich passiert?«

 

Bobby stellte diese Frage. Er hatte nur eine Ahnung von dem, was sich im Dunkeln alles zugetragen hatte. Julius suchte in seiner Tasche und zog ein großes Notizbuch hervor, das er gewichtig öffnete. Nachdem er einige Zeit darin geblättert hatte, fand er die Stelle auch, die er suchte. »Am Fünfzehnten dieses Monats, um zwei Uhr morgens«, las er mit volltönender Stimme vor, »wurde ich in meinem Schlaf von dem unangenehmen Gefühl geweckt, daß sich etwas Unheimliches ereignen würde, daß zum Beispiel Einbrecher oder andere Verbrecher in die Wohnung eingedrungen seien. Ich sprang aus meinem Bett, das zwei Fuß und sechs Zoll vom Fenster entfernt war – ich habe Tante Lizzie gebeten, die Entfernung genau auszumessen. Das Studierzimmer lag in vollkommener Dunkelheit, aber ich sah die Gestalt eines Mannes. Als ich vorwärtsstürzte, um ihn festzuhalten, sprangen anscheinend zu meinen Füßen eine oder mehrere unbekannte Personen auf. Da ich erkannte, daß Gefahr im Verzug war, wurde ich mit ihnen handgemein – ich vermute, Sie hörten das Toben des Kampfes?« fragte er ängstlich.

 

Diana hatte nichts gehört, und Bobby schüttelte den Kopf.

 

»Nein, ich habe nichts davon gehört, aber es ist möglich, daß ich nicht nahe genug war«, meinte er.

 

Mr. Dempsi hatte die Hände auf den Rücken gelegt, hielt den Kopf gesenkt und schaute nicht auf.

 

»Plötzlich«, fuhr Mr. Superbus fort, »ertönte ein Schuß, und ich wußte von nichts mehr.«

 

»Aber Sie sagten, es könne eine Frau gewesen sein?«

 

Diana war fest entschlossen, sich über diesen Punkt Aufklärung zu verschaffen.

 

»Es mag ein Mann oder eine Frau gewesen sein«, entgegnete Julius, »das wird alles ans Tageslicht kommen, wenn ich sozusagen die Geheimgeschichte erzählen werde. Im Augenblick muß es genug sein, wenn ich sage, eine oder mehrere unbekannte Personen – wo ist eigentlich Onkel Artur, ich habe ihn heute noch nicht gesehen?«

 

»Aber als Sie mit der unbekannten Person rangen, Mr. Superbus, müssen Sie doch gemerkt haben, ob es ein Mann oder eine Frau war«, bestand Diana hartnäckig.

 

Julius neigte verschämt den Kopf.

 

»Als ein verheirateter Mann sollte ich es eigentlich wissen«, sagte er diskret.

 

»Aber Sie haben doch mit der Person gerungen!«

 

»In gewisser Weise, ja, aber nur in gewisser Weise. Ich habe den Ausdruck mehr im allgemeinen gebraucht.«

 

»Aber Sie sahen doch –«

 

»Die Person sah wie ein Mann aus … ich werde Ihnen die ganze Wahrheit sagen. Er sah aus wie Onkel Artur. Ich habe mir aber keinen Augenblick eingebildet, daß es wirklich Onkel Artur war. Ich will niemand verdächtigen. Er ist durch die Tür entschlüpft, bevor ich ihn genau erkennen konnte.«

 

»Da müssen Sie sich aber geirrt haben, Mr. Superbus«, sagte Diana.

 

»Er schlüpfte hinter mir vorbei zur Tür hinaus.« Julius zeigte auf den Eingang.

 

»Da irren Sie sich«, erwiderte Diana. »Der Mann ist durch das Fenster entflohen, von dort in den Hof gesprungen und nachher über die Mauer geklettert. Das Fenster stand doch offen.«

 

»Erzählen Sie uns doch einmal, wie es eigentlich kam, daß Sie schliefen, während die Leute den Geldschrank aufbrachen?« fragte Bobby.

 

Mr. Superbus legte die Stirn in Falten und schloß die Augen.

 

»Ich bin betäubt worden – in meinem Kaffee muß ein Schlafmittel gewesen sein. Ich habe sonst einen ganz leichten Schlaf, bei dem geringsten Geräusch wache ich sofort auf!«

 

Bobby nickte.

 

»Aber den Pistolenschuß haben Sie doch gehört?«