16

 

Als Sands Mrs. Gordon Thompson aufsuchte, war es bereits Nachmittag, aber sie saß immer noch in ihrem Morgenrock da und legte Patience. Sie war eine ungewöhnliche Frau, und obwohl sie noch nicht einmal frisiert war, ließ sie Milton Sands sofort in ihr Zimmer eintreten.

 

»Wie geht es Ihnen?« fragte sie und begrüßte ihn mit einem Kopfnicken. »Nehmen Sie sich bitte einen Stuhl.« Sie unterbrach ihr Kartenspiel nicht. »Wir haben uns doch schon irgendwo getroffen?«

 

»Ja, ich glaube vor einiger Zeit in Enghien.«

 

»Oh, ich entsinne mich. Sie sind der Mann, der damals beim Spiel so großes Glück hatte.«

 

»Es ist möglich, daß ich damals mehr Glück hatte als jetzt.«

 

Sie legte die Karten zusammen, lehnte sich zurück und betrachtete ihn aufmerksam.

 

»Was kann ich für Sie tun, Mr. Sands?«

 

»Oh, Sie können mir sehr viel helfen«, sagte er freundlich, um ihre Sympathie zu gewinnen. »Auf jeden Fall denkt meine Freundin Janet Symonds das.«

 

»Ach, sehen Sie, die kleine Janet!« rief Mrs. Thompson interessiert. »Was macht sie denn?«

 

»Augenblicklich ist sie meine Sekretärin.«

 

»Und welchen Beruf haben Sie zur Zeit?«

 

»Ich bin in gewisser Weise ein Privatdetektiv.«

 

»Welches Spezialfach?« .

 

Mrs. Thompson interessierte sich nun sehr für ihn, und ein Lächeln spielte um ihre Lippen.

 

»Ich suche nach bestimmten Leuten, und Miss Symonds dachte, daß Sie mir dabei behilflich sein könnten. Sie sagt, daß Sie seit Jahren alle Leute in London kennen, die eine Rolle gespielt haben, und daß Sie …« Er zögerte, weiterzusprechen.

 

»Daß Sie alle Skandalgeschichten wissen, die sich in dieser Zeit abgespielt haben«, ergänzte sie belustigt. »Ja, die kleine Janet hat nicht so ganz unrecht.«

 

Mit wenigen Worten erklärte ihr Milton nun sein Anliegen.

 

»Sie suchen nach Eric Stantons Schwester?« sagte sie nachdenklich. »Da haben Sie sich allerdings eine schwere Aufgabe gestellt. Ich weiß nicht viel. Mrs. Stanton trennte sich von ihrem Mann und wohnte kurze Zeit in einer Pension in Bayswater mit einem älteren Dienstmädchen zusammen. Ich habe sie nie kennengelernt. Manche Leute haben auch angenommen, daß sie nach Belgien gegangen wäre. Ich kann Ihnen nur einen einzigen Anhaltspunkt geben … Das Dienstmädchen hat einen Reitknecht geheiratet, einen entsetzlichen Kerl. Den Namen habe ich im Augenblick vergessen. Er kam in Schwierigkeiten und verschwand von der Bildfläche. Mein Bruder hat ihn früher beschäftigt.«

 

Plötzlich kam Milton eine Idee.

 

»Hieß der Mann nicht Buncher?« fragte er eifrig.

 

Sie sah ihn erstaunt an.

 

»Ja, richtig. Das war sein Name. Kennen Sie ihn denn?«

 

»Ich habe von ihm gehört«, sagte er schnell. »Halten Sie es für möglich, daß er weiß, wo das Kind geblieben ist?«

 

»Das möchte ich stark bezweifeln.« Sie schüttelte den Kopf. »Seine Frau ist nur kurze Zeit bei Mrs. Stanton im Dienst gewesen. Aber immerhin könnte sie etwas wissen.«

 

»Ich habe mir schon viel Mühe gegeben, diese Frau ausfindig zu machen, aber bisher ohne Erfolg. Jedenfalls bin ich Ihnen zu großem Dank verpflichtet.«

 

»Janets Mutter hätte Ihnen viel helfen können, wenn sie noch lebte. Auf einen Empfehlungsbrief von Mrs. Stanton wurde ich nämlich mit den Symonds bekannt. Sehen Sie, so kommt es, daß ich wohl mit Mrs. Stanton korrespondiert habe, aber sie nicht persönlich kennenlernte. Sie und ihr Mann interessierten sich für eine der Aktiengesellschaften, die mein Mann gründete, und als er finanziell ruiniert war, schrieb sie mir einen sehr liebenswürdigen Brief. Ja, wenn ich es genau sagen soll, schickte sie mir etwas Geld, das ich damals dringend brauchte. Später hörte ich nichts mehr von ihr, bis sie mir von Brügge aus einen Empfehlungsbrief für die Symonds schrieb. Vielleicht weiß Janet das nicht. Ich lebte damals selbst in sehr traurigen Verhältnissen, aber ich tat alles, was in meinen Kräften stand.« Sie lächelte und sah ihn durchdringend an, als er sich erhob. »Ist eigentlich eine Belohnung für die Auffindung der Frau ausgesetzt?« fragte sie gespannt.

 

»Ja.

 

»Vergessen Sie nicht, daß ich einen Teil davon verdient habe«, erklärte sie mit bewunderungswürdiger Offenheit und nahm ihre Karten wieder auf. »Welches Pferd wird denn das Derby gewinnen?« fragte sie, als Milton schon in der Tür stand.

 

»Donavan«, erklärte er prompt.

 

»Da sind Sie aber schlecht beraten.« Sie verteilte die Karten auf dem Tisch.

 

»Ich glaube nicht.« Er schloß die Tür und verließ das Haus.

 

Eine Nachricht hatte er wenigstens erhalten, aber es war schwer, diesen Anhaltspunkt weiter zu verwerten, denn in Pennwaring hatte er sich nicht sehr beliebt gemacht. Hätte er vorher davon gewußt, so hätte er die Gelegenheit besser ausgenützt, die sich ihm damals bot. Trotzdem sagte er sich, daß er die Zeit in Sir Georges Haus äußerst nutzbringend angewandt hatte. Auf jeden Fall hatte er aufgeklärt, welche häßliche Rolle Toady Wilton bei dem Ehestreit der Stantons zugefallen war. Aber diese Sache war augenblicklich nicht so wichtig, da Lord Chanderson Toady ja schon genügend bloßgestellt hatte.

 

Sands hoffte eigentlich, daß er aus den Papieren Wiltons etwas über den Aufenthaltsort von Stantons Schwester erfahren würde. Er hatte geglaubt, daß Wilton stets in Verbindung mit dem jungen Mädchen geblieben war, um sie in einem günstigen Augenblick wieder auftreten zu lassen. Darin täuschte er sich aber. Wilton hatte keine Ahnung von ihrem jetzigen Aufenthalt.

 

Sands hatte mit Eric Stanton verabredet, daß sie in seinem Klub zu Mittag speisen wollten. Stanton war im Gegensatz zu seinem Freund in sehr froher Laune.

 

»Nun, Sie tun ja so, als ob Ihnen alle Felle weggeschwommen wären«, sagte er vergnügt.

 

»Ich bin nicht gerade in trüber Stimmung, aber ich habe viel erfahren, was mich sehr nachdenklich gemacht hat.«

 

»Mir geht es ähnlich. Bitte, wenden Sie Ihre volle Aufmerksamkeit jetzt der Wiederbeschaffung der verlorenen chemischen Formel für biegsames Glas zu. Ich hatte heute morgen eine längere Unterredung mit Mr. President. Und Sie wissen, daß das Komitee der Ausstellung in Lyon eine große Prämie für biegsames Glas ausgesetzt hat.«

 

Milton nickte.

 

»Der letzte Einsendetermin für die Lösung ist nächste, Woche. Und wenn es Ihnen gelingen sollte, diese Papiere zu finden, so würde das für Mr. President sehr viel bedeuten. Heute morgen noch sagte er, daß er es sehr bedauerte, die Lösung nicht einsenden zu können. Ich bin direkt gerührt über das Zutrauen, das er zu seiner Erfindung hat.«

 

»Ist er eigentlich reich?«

 

Stanton schüttelte den Kopf.

 

»Er lebt in ganz guten Verhältnissen und hat ein paar tausend Pfund zurückgelegt, aber er gibt für seine Pferde sehr viel Geld aus.«

 

»Für Donavan?«

 

»Ja. Und nach allem, was ich heute morgen sah, wird das Pferd das Derby gewinnen. Es hat Dean um mehrere Längen geschlagen, und zwar ohne die geringste Anstrengung. Ich habe selbst abgestoppt. Es hat die Meile fast in Rekordzeit zurückgelegt.«

 

»Ich bin davon überzeugt, daß es das Derby beinahe gewinnen wird.«

 

»Warum sollte Donavan nicht Sieger werden? Welches Pferd könnte denn sonst den ersten Platz belegen?«

 

Milton lächelte.

 

»Das Pferd von Sir George Frodmere.«

 

»Ist das tatsächlich Ihre Meinung? Glauben Sie, daß Portonius das Rennen macht?«

 

»Ich habe nur gesagt, daß Sir George Frodmeres Pferd das Rennen macht. Was nachher passiert, ist eine Sache für sich.«

 

»Sie sind ja heute sehr geheimnisvoll«, sagte Eric etwas unwillig. »Wollen Sie den Schleier nicht ein wenig lüften?«

 

»Da müssen Sie bis zum Rennen warten.«

 

Die beiden erhoben sich und verließen zusammen den Klub. Milton verabschiedete sich auf der großen Treppe.

 

»Mit der Auffindung Ihrer Schwester bin ich übrigens einen Schritt vorwärtsgekommen. Ich habe jetzt wenigstens einen Anhaltspunkt, der mir vielleicht weiterhilft. Und wegen Mr. Presidents Schriftstücken wird sich auch noch Rat schaffen lassen. Wann wird denn das Resultat des Wettbewerbs in Lyon bekanntgegeben?«

 

»Merkwürdigerweise an demselben Tag, an dem das Derby stattfindet.«

 

Milton nickte.

 

»Darm kann Mr. President vielleicht an diesem Tag einen doppelten Sieg buchen. Sollten wir uns nicht vorher treffen, so sehen wir uns jedenfalls bei dem Rennen in Epsom.«

 

Damit trennten sich die beiden.

 

*

 

Das kleine Haus, das Sir George seinem Trainer zur Verfügung gestellt hatte, lag an der verwahrlosten großen Fahrstraße, die die Ländereien durchschnitt. Sie war jetzt nicht mehr in Gebrauch, weil ihre Instandsetzung zuviel Geld gekostet hätte.

 

Eines Abends ging Mr. Buncher zum nahegelegenen Dorfwirtshaus. Seine Frau blieb zu Hause und atmete erleichtert auf, als die Tür ins Schloß fiel. Sie war hager und hatte in ihrer siebzehnjährigen Ehe harte Züge bekommen. Schwere Jahre lagen hinter ihr.

 

Sie saß in der Küche und fuhr erschreckt zusammen, als sie hörte, daß jemand an der Gartentür war. Zuerst glaubte sie, ihr Mann wäre zurückgekommen, und eilte hinaus. Aber draußen stand ein Fremder.

 

»Sind Sie Mrs. Buncher?« fragte er freundlich.

 

»Ja.«

 

Es war offenbar ein vornehmer Herr. Nicht nur seine Kleidung, auch sein Benehmen und seine Sprache ließen darauf schließen. Obendrein war er in einem Auto angekommen.

 

»Ich möchte Sie in einer dringenden Angelegenheit ein paar Minuten sprechen.«

 

Sie zögerte. Ihr Mann hatte ihr den strikten Auftrag gegeben, niemand in das Haus zu lassen. Aber einen solchen Fall hatte er wohl nicht vorausgesehen.

 

»Ich glaube, es ist Ihr Vorteil, wenn Sie mit mir sprechen«, erklärte Milton Sands.

 

Mrs. Buncher war sofort interessiert und schloß das Tor auf, wenn ihre Hände auch zitterten.

 

»Wollen Sie bitte nähertreten.«

 

Sie führte Milton in das Wohnzimmer und bot ihm einen Stuhl an.

 

»Ich will Sie nicht lange aufhalten«, sagte Milton, der absichtlich gewartet hatte, bis Mr. Buncher zu seinem Abendschoppen ins Dorf gegangen war. »Sie waren doch früher bei Mrs. Stanton im Dienst?«

 

Sie zögerte mit der Antwort, aber nach einer kleinen Pause bejahte sie die Frage.

 

»Es ist Ihnen auch bekannt, daß sich Mrs. Stanton von ihrem Mann trennte. Und ihre kleine Tochter mitnahm? Gingen Sie damals mit ihr?«

 

»Ja. Mrs. Stanton ist immer sehr gut zu mir gewesen; ihr Mann dagegen war ein abscheulich brutaler Mensch …« Sie wollte alle Einzelheiten des Falles erzählen, aber Milton hinderte sie daran.

 

»Wie lange waren Sie noch bei Mrs. Stanton, nachdem sie sich von ihrem Mann getrennt hatte?«

 

Mrs. Buncher sah zur Decke und überlegte.

 

»Im ganzen zwei Jahre, ein Jahr in England und ein Jahr in Brügge. Dann kam ich mit ihr nach England zurück, mußte mich aber von ihr trennen, da sie nicht mehr genügend Geld hatte, um meinen Lohn zu bezahlen. Sie mußte sehr sparen.«

 

»Sie wissen doch, daß Mr. Stanton für die Auffindung seiner Schwester eine Belohnung ausgesetzt hat?«

 

Die Frau nickte.

 

»Ich habe davon gehört. Aber es hat keinen Zweck, daß ich mich darum bemühte; ich weiß ja selbst nichts Genaues.«

 

»Wo wohnte denn Mrs. Stanton, als sie nach London zurückkam?«

 

»In Hornsey – in einer Pension.«

 

Milton schrieb sich die Adresse genau auf.

 

»Können Sie mir vielleicht irgendein besonderes Erkennungszeichen nennen, das das Kind an sich hatte? Ein Muttermal, an dem man es erkennen könnte?«

 

»O ja, es hatte ein gelbliches Muttermal rund um das linke Fußgelenk. Es sah aus wie eine Schlange. Und das war merkwürdig, denn wir sagten immer –«, sie hielt plötzlich inne.

 

»Sprechen Sie doch weiter«, ermutigte sie Milton.

 

»Ich möchte nichts gegen Mr. Wilton sagen – er wohnt jetzt hier im Herrenhaus, aber Mrs. Stanton haßte ihn – und wir nannten ihn immer die Schlange.«

 

»Das ist wenigstens ein Anhaltspunkt«, meinte Milton lächelnd.

 

Die Unterhaltung der beiden wurde plötzlich durch ein lautes Klopfen an der Haustür unterbrochen, und die Frau sprang auf.

 

»Mr. Buncher!« rief Sir George von draußen.

 

»Sagen Sie Sir George nicht, daß ich bei Ihnen bin. Wo kann ich mich solange verstecken?« fragte Milton.

 

»Gehen Sie durch den hinteren Gang in die Küche«, erwiderte sie verstört, denn jetzt erinnerte sie sich wieder an den Auftrag ihres Mannes, niemand ins Haus zu lassen.

 

Sie wartete, bis Milton Sands das Zimmer verlassen hatte, und ging erst dann, um Sir George zu öffnen.

 

»Wo ist Ihr Mann?« fragte der Baronet scharf.

 

»Er ist ins Dorf gegangen.«

 

»Dann holen Sie ihn rasch.«

 

Er stand in der offenen Haustür und klopfte ungeduldig mit der Reitpeitsche an seine hohen Stiefel.

 

Die Frau zögerte eine Sekunde, aber dann machte sie sich auf den Weg. Sie hoffte nur, daß der unbekannte Fremde seine Anwesenheit nicht verraten würde.

 

»Sind Sie Ihrer Sache auch vollkommen sicher?« wandte sich Sir George an Toady, der ihn begleitet hatte.

 

»Vollkommen. Ich habe mich bestimmt nicht getäuscht.«

 

»Ich dachte, er würde England an dem Tag vor dem. Derby verlassen?«

 

»Vielleicht hat er Urlaub bekommen, oder er ist auf ein anderes Schiff versetzt worden.«

 

»Das ist allerdings ein unglücklicher Zufall.«

 

Die beiden gingen langsam den Gartenweg auf und ab, der am Haus vorbeiführte, und blieben schließlich eine Weile vor dem Küchenfenster stehen.

 

»Daß dieser niederträchtige Zahlmeister sich ausgerechnet für Rennen interessieren muß, ist schlimm genug. Daß er bei dem Derby zugegen sein wird, ist noch schlimmer, aber am schlimmsten ist es, daß er hierhergekommen ist. Es ist einfach katastrophal, daß er nach – Pennwaring geht, um zu spionieren. Sind Sie sicher, daß er den Galopp gesehen hat?«

 

»Ganz sicher«, erklärte Toady. »Wenn Sie die Bemerkung gestatten, halte ich es entschieden für einen Fehler, das Pferd nachmittags laufen zu lassen. Während des Galopps kann man es ja glücklicherweise nicht beobachten, aber bei der Rückkehr zum Stall kommt der Gaul in einer Entfernung von hundert Metern an der Mauer vorbei. Ich beobachtete Buncher, als er das Pferd zum Stall zurückführte. Dabei sah ich mich zufällig um und entdeckte unseren Zahlmeister. Er saß mit einem Feldstecher oben auf der Umfassungsmauer.«

 

Sir George sah düster drein und runzelte die Stirn.

 

»Er hat uns schon lange im Verdacht. Erinnern Sie sich noch, was er alles sagte, als wir auf den Dampfer kamen? Er meinte, es sei doch sehr zu bedauern, daß El Rey zu einem Gestüt geschickt würde, da er noch so manches Rennen gewinnen könnte. Der hat damals schon etwas gemerkt. Und nun ist er hergekommen, um sich von der Richtigkeit seiner Vermutung zu überzeugen. Was haben Sie denn gemacht?«

 

Toady warf sich in die Brust.

 

»Ich habe vor allem nicht den Kopf verloren«, erwiderte er stolz. »Ich sah nur einen Augenblick zu ihm auf und war sofort auf der Höhe. In solchen Momenten der Gefahr stehe ich immer meinen Mann.«

 

»Reden Sie nicht soviel von sich selbst«, entgegnete Sir George ärgerlich. »Ich will wissen, was passiert ist. Was Sie in gefährlichen Augenblicken machen, weiß ich zur Genüge. Ich habe da meine bösen Erfahrungen mit Ihnen.«

 

»Ich wünschte ihm einfach guten Tag und sprach ein paar Worte mit ihm über das Pferd. Dann fragte ich ihn, ob er einmal zum Stall kommen wollte, um sich den Gaul näher zu besehen. Und er nahm mein Anerbieten an.«

 

»Wenn wir mit Buncher gesprochen haben, müssen wir uns entscheiden, was wir tun wollen.« Sir George schlug mit der Faust in die flache Hand. »Ich brauche dringend größere Summen. Wenn etwas schiefgeht und etwas dazwischenkommt, weiß ich nicht, wie ich durchhalten soll. Wir müssen vor allem herausbringen, wieviel der Zahlmeister weiß, und wieviel er vermutet. Aber das eine kann ich Ihnen nur sagen, er muß um jeden Preis zum Schweigen gebracht werden.«

 

Toady nickte. Er hatte die gefährliche Situation vollkommen erfaßt. Auch ein großer Teil seines eigenen Geldes war auf Portonius gesetzt.

 

»Hier ist er schon«, sagte Sir George leise.

 

Sie waren langsam nach vorne gegangen und standen jetzt an der Haustür, von der aus man die Gartentür beobachten konnte. Der Fremde kam zu gleicher Zeit mit Mr. Buncher und seiner Frau. Sie warf einen ängstlichen Blick auf das Küchenfenster, konnte aber von dem früheren Besucher nichts sehen und hoffte nur, daß er die erste beste Gelegenheit benützt hatte, um sich aus dem Staube zu machen. Sir George wies vielsagend mit dem Kopf auf die Frau.

 

»Schon gut«, brummte Buncher. »Ich brauch dich nicht mehr. Wir wollen allein miteinander reden.«

 

»Wollen Sie ins Wohnzimmer gehen?« fragte sie furchtsam.

 

»Nein, wir sprechen hier draußen. Ach, hier ist ja Mr. Delane.«

 

Sir George erkannte ihn trotz des schwachen Lichtes sofort. Es war tatsächlich der Zahlmeister des Dampfers, auf dem El Rey nach England transportiert worden war.

 

Buncher maß den Fremden mit düsteren Blicken und brummte etwas, das man nicht verstehen konnte.

 

»Wie ich hörte, haben Sie mein Pferd beim Training gesehen?« begann Sir George.

 

Der Zahlmeister nickte.

 

»Nun, was halten Sie von ihm?« fragte der Baronet leichthin.

 

Mr. Delane antwortete nicht gleich, sondern schien sich seine Worte genau zu überlegen.

 

»Es macht sich sehr gut«, sagte er schließlich.

 

»Haben Sie seinen Galopp gesehen?«

 

»Nur das Finish.«

 

»Wirklich ein gutes Pferd. Sind Sie nicht auch der Meinung?« fragte Sir George anscheinend harmlos. Aber er ließ den Mann nicht aus den Augen und beobachtete ihn scharf.

 

»Außerordentlich gut in Form«, entgegnete Mr. Delane sachlich. Aber seine Worte schienen eine besondere Bedeutung zu haben.

 

»Glauben Sie, daß es das Derby gewinnen wird?«

 

Der Zahlmeister nickte.

 

»Ja, der Gaul geht als erster durchs Ziel«, erklärte er überzeugt.

 

»Ich verstehe vollkommen.«

 

Sir George blickte eine Weile dumpf brütend vor sich hin, dann sah er plötzlich auf.

 

»Es wäre mir sehr lieb, wenn Sie mit mir zum Herrenhaus kämen«, sagte er.

 

Der Zahlmeister lächelte.

 

»Das geht leider nicht, Sir George«, entgegnete er höflich. »Ich muß heute abend noch nach London zurückfahren.«

 

»Kommen Sie zu den Rennen nach Epsom? Ich dachte, Sie wären schon auf See …«

 

»Eigentlich war es ja auch so bestimmt, aber ich wurde auf ein anderes Schiff versetzt, und die Gesellschaft gibt mir bis dahin Urlaub.«

 

Ein peinliches Schweigen trat ein.

 

»Sind Sie eigentlich schon einmal in Bukarest gewesen?« fragte Sir George dann unvermittelt.

 

»Nein«, erwiderte Mr. Delane erstaunt. »Warum fragen Sie danach?«

 

»Ich überlegte mir gerade, ob Sie einen geschäftlichen Auftrag für mich übernehmen wollten. Ich erwarte in nächster Zeit wichtige Nachrichten, die es notwendig machen, daß ich einen Vertreter in Bukarest habe. Und ich glaube, daß Sie sich für den Posten vorzüglich eignen würden. Auf diese Weise könnten Sie Ihren Urlaub nutzbringend verwerten. – Sie müßten nach Bukarest gehen, wo Sie im besten Hotel wohnen würden. Warten Sie dort, bis Sie meine weiteren Anweisungen erhalten. Ich bin bereit, Ihnen für Ihre Mühe sehr anständig zu zahlen. Etwa fünfzig Pfund wöchentlich für Ihre Spesen, und weitere fünfzig Pfund für die Dienste, die Sie mir leisten. Es würde sich um eine Zeit von etwa sechs Wochen handeln. Nebenbei könnten Sie die schöne Gegend am Schwarzen Meer kennenlernen. Und –«

 

»Und auf diese Art und Weise würde ich aus England entfernt sein. Nein, Sir George, ich muß Ihren Auftrag ablehnen.«

 

» Vielleicht willigen Sie ein, wenn ich Ihnen zweihundert Pfund die Woche bewillige. Das wären im ganzen eintausendzweihundert Pfund – das ist doch wirklich eine sehr gute Bezahlung für so kurze Zeit.«

 

Der Zahlmeister war nicht gerade reich, und er zögerte. Schließlich war es ja nicht seine Sache, sich in diese Affäre einzumischen. Hier bot sich eine Gelegenheit wie vielleicht nie wieder in seinem Leben. Er war sonst ein absolut ehrlicher Mann. Aber Sir George hatte ja nichts gesagt, was ihm die Annahme des Vorschlags unmöglich gemacht hätte.

 

Dieser englische Baronet hatte so vielfache Interessen, daß er vielleicht tatsächlich wichtige geschäftliche Transaktionen in Bukarest vornehmen mußte.

 

»Ich will mir die Sache noch überlegen.«

 

»Treffen Sie Ihre Entscheidung lieber jetzt«, sagte Sir George mit freundlichem Lächeln, »und fahren Sie heute abend noch nach Rumänien ab. Sind Sie eigentlich verheiratet?«

 

Mr. Delane schüttelte den Kopf.

 

»Sehen Sie, das macht die Sache ja noch bedeutend leichter. Sie können den Zehnuhrzug von Liverpool Street über Hoek van Holland noch erreichen und dann in Amsterdam den Orientexpreß benützen. An Ihrer Stelle würde ich sofort annehmen.«

 

Der Mann zögerte immer noch. Er hatte das unangenehme Gefühl, daß er anders handelte, als er beabsichtigte. Aber schließlich hatte diese Rennangelegenheit ja nichts mit ihm zu tun. Er wußte nicht einmal genau, ob hier wirklich ein Schwindel durchgeführt werden sollte. Und graue Pferde sahen einander für gewöhnlich ziemlich ähnlich. Es bestand kein großer Unterschied.

 

»Während Ihres Aufenthalts in Bukarest können Sie ja schließlich auch Soltescus Gestüt und El Rey besuchen.«

 

Sir George sagte das so gleichgültig, als ob er nicht viel Wert auf die Entscheidung des Zahlmeisters legte. Aber mit dieser geschickten Äußerung gelang es ihm, das Gewissen Delanes zu beruhigen.

 

»Ich werde noch heute abend fahren«, erklärte dieser.

 

»Gut, kommen Sie mit in mein Haus, damit wir den Vertrag abschließen können«, sagte Sir George und ging voraus.

 

Unterwegs unterhielt er sich noch angeregt mit Mr. Delane über alle möglichen Dinge, nur nicht über Pferde.

 

Da Mr. Buncher nicht fortgeschickt worden war, schloß er sich ihnen an. Das war günstig für Milton Sands, denn nun konnte er sich ungesehen davonschleichen.