Kapitel 9

 

9

 

Soltescu hielt nicht viel von den meisten englischen Gebräuchen, und am wenigsten behagte ihm frühes Aufstehen. Aber an einem Aprilmorgen stand er trotzdem mit Sir George und Mr. Wilton an dem Pier in Tilbury und beobachtete die Ankunft des Dampfers »City of Incas«. Das weißgestrichene Schiff sah nach der langen Reise grau und schmutzig aus, und große, braune Rostflecken hatten sich überall eingenistet.

 

Sir George schlug seinen Mantelkragen hoch und ging an Bord des Schiffes, als die Landungsbrücke befestigt war.

 

Sie suchten den Zahlmeister und fanden ihn beim Frühstück in seiner großen Kabine.

 

»Es stimmt – wir haben verschiedene Pferde für Mr. Soltescu an Bord.«

 

»Hier ist der Herr selbst«, erklärte Sir George. »Die Pferde sollen morgen nach Rumänien geschickt werden. Wie hat denn El Rey die Fahrt überstanden?«

 

»Der ist frisch und fidel«, entgegnete der Zahlmeister begeistert. »Wirklich ein brillantes Pferd! Ich habe noch nie einen so vorzüglichen Renner gesehen. Eigentlich war ich ja etwas besorgt um ihn, aber er hat die Reise glänzend überstanden. Er hat gut gefressen, und außerdem war die Überfahrt verhältnismäßig ruhig. Ich glaube, daß Sie keine Schwierigkeiten mit ihm haben und ihn hier bald wieder ins Rennen stellen können.«

 

»Er soll nicht mehr an Rennen teilnehmen«, erwiderte Sir George kurz. »Er wird sofort nach Rumänien in das Gestüt von Monsieur Soltescu geschickt.«

 

Der Zahlmeister verstand etwas von Pferden und schüttelte den Kopf.

 

»Das ist aber schade«, meinte er bedauernd. »Das Tier ist erst vier Jahre alt und in allerbester Form. Es könnte noch manches Rennen gewinnen. Aber das ist ja schließlich Ihre Sache und geht mich nichts an.«

 

Sir George mußte als Soltescus Agent noch mehrere Schriftstücke ausfertigen und unterschreiben.

 

»Wann fahren Sie denn wieder ab?« fragte er nebenbei.

 

»Ausgerechnet einen Tag vor dem Derby. Es tut mir unendlich leid, daß ich das Rennen nicht sehen kann.«

 

Sir George atmete erleichtert auf. Es war ihm nur angenehm, daß der Zahlmeister nicht nach Epsom kommen konnte, denn er hatte allen Grund, dessen Anwesenheit zu fürchten.

 

Eine halbe Stunde nach der Ankunft des Dampfers führte ein Jockey das brasilianische Rennpferd die Landungsbrücke hinunter in die kleinen Gassen des Hafenviertels von Tilbury. Die drei gingen hinterher.

 

»Wohin bringen wir den Gaul jetzt?« fragte Mr. Wilton.

 

»Das werden Sie schon erfahren«, erwiderte Sir George ärgerlich. »Stellen Sie doch nicht immer so dumme Fragen, Toady.«

 

Mr. Wilton schwieg mürrisch.

 

Sie hatten einen weiten Weg vor sich, und er liebte es nicht, zu Fuß zu gehen. Zwei Kilometer vor der Stadt trafen sie ein Transportauto für Pferde, und El Rey wurde darin verladen.

 

Ein anderes Auto wartete auf die drei, und sie fuhren in der Richtung nach London voraus.

 

In Shadwell gibt es viele kleine Ställe, in denen die Gemüsehändler ihre Pferde über Nacht unterstellen. Sie sehen sehr vernachlässigt und schmutzig aus. In dieser Gegend endete die Fahrt. Sir George hatte das Auto halten lassen und dann an einen verabredeten Platz geschickt. Er öffnete selbst ein Vorhängeschloß an einer Hoftür und ging zu dem Stallgebäude hinüber. Als er die Tür aufmachte, konnte er im Dunkeln nichts sehen, aber das Rasseln einer Kette verriet, daß der Stall besetzt war. Das Grundstück lag am Ende einer kleinen Sackgasse, und dieser Stall erwies sich als sehr günstig für Sir George. Hier konnte er kaum beobachtet werden, und es spielte sich auf diesem kleinen, düsteren Hof manches ab, was das Licht der Öffentlichkeit zu scheuen hatte.

 

»Warten Sie am Tor, Toady«, sagte Sir George, »und passen Sie auf, wenn der Transportwagen kommt. Sobald er um die Ecke biegt, öffnen Sie die beiden Torflügel. Machen Sie aber sofort wieder zu, wenn er auf den Hof gefahren ist.«

 

Das war gerade keine geeignete Beschäftigung für den eleganten Wilton, aber er erhob keinen Widerspruch. Lange brauchte er auch nicht zu warten, denn gleich darauf tauchten die Umrisse des großen Lastautos auf.

 

»Nun wollen wir uns das Pferd einmal ansehen«, meinte Sir George, als El Rey ausgeladen und von den Decken befreit worden war.

 

Es war ein tadelloser Grauschimmel mit einem wunderbar modellierten Körper. Für sein Alter war er etwas klein, aber in bester Verfassung.

 

»Der wird, das Rennen machen«, erklärte Sir George. »Wie schaut denn nun das andere Tier aus?«

 

Er ging zu dem Stall und öffnete weit die Tür. Das Pferd, das in der äußersten Ecke stand, wandte den Kopf nach ihm um. Es war ebenfalls grau, aber nicht im mindesten gepflegt und so abgemagert, daß man alle seine Rippen sehen konnte. Niemand hätte in ihm den Portonius vermutet, der als Zweijähriger ohne Klassierung manche Rennen mitgemacht hatte. Und am allerwenigsten hätte jemand daran gedacht, daß dieser selbe Portonius für das Derby genannt war und daß die Buchmacher für ihn Wetten auf zwanzig zu eins abschlossen. Sir George schien darüber nachzudenken, denn er lächelte sarkastisch.

 

»Was würden die Buchmacher wohl sagen, wenn sie ihn in der Verfassung sähen?«

 

»Die würden Wetten auf tausend zu eins ohne Bedenken annehmen«, entgegnete Toady.

 

Das schlechtgefütterte Tier sah sich nach seinem Herrn um, und wenn Sir George auch nur einen Funken von Gefühl gehabt hätte, wäre ihm dieser vorwurfsvolle Blick nicht gleichgültig geblieben. Aber er kannte keine sentimentalen Anwandlungen.

 

»Bringen Sie El Rey in den nächsten Stall.«

 

Der Jockey führte den Auftrag aus.

 

»Morgen früh kommt er nach Cornwall«, sagte Sir George. »Aber was machen wir nun mit Portonius?« wandte er sich an den Jockey.

 

»Am besten geben wir ihm eine Kugel«, entgegnete Buncher.

 

Sir George schüttelte den Kopf.

 

»Lieber nicht. Wir müßten einen Pferdeschlächter rufen, und der versteht so viel von Pferden, daß er sofort ein Vollblut erkennt. Nein, das dürfen wir nicht tun. Ich habe mir aber etwas anderes überlegt. Wie heißt doch der Mann, der Ihnen manchmal hier hilft?«

 

»Flickey. Seinen eigentlichen Namen weiß ich nicht. Er treibt sich hier gewöhnlich in den Kneipen herum. Wenn man ihm ein paar Glas Bier gibt, tut er alles, was man von ihm verlangt.«

 

»Haben Sie mir nicht erzählt, daß er mit der Polizei in Konflikt kam, weil er alte, ausgediente Pferde nach Antwerpen verschiffte?«

 

Buncher nickte grinsend.

 

»Ach so, jetzt verstehe ich, was Sie wollen«, meinte er.

 

»Ja, das ist das beste«, erwiderte Sir George. »Holen Sie Flickey, daß er den Gaul heute abend noch fortschafft. Er kann ihn wegbringen, ohne Geld dafür zu verlangen. Auch wünsche ich nicht, daß irgendwelche Papiere darüber ausgefertigt werden. Wir tun so, als ob das Pferd schon bezahlt ist. In ein paar Tagen ist Portonius in Antwerpen, und wir hören und sehen nie wieder etwas von ihm. Das ist der einzig sichere Weg. Der Handel mit alten Pferden ist sehr unbeliebt, und die Leute, die sich damit abgeben, halten den Mund. Und je weniger Leute darüber sprechen, desto besser ist es.«

 

Er wandte sich an den Rumänen.

 

»Sie sehen, daß die Sache klappt, Mr. Soltescu. Ich glaube, wir brauchen Sie jetzt nicht mehr zu belästigen. Haben Sie übrigens noch etwas von Ihrer vermißten Mappe gehört?«

 

Soltescu schüttelte den Kopf.

 

»Ich fürchte auch, daß ich nie wieder etwas von der wertvollen Formel sehen werde.«

 

»Ja, die Sache war wohl eine Million wert«, meinte Sir George.

 

»Was fällt Ihnen ein!« Soltescu lachte bitter. »Eine Million? Drei, fünf Millionen mindestens! Wissen Sie, daß Ende nächsten Monats eine Glasausstellung in Frankreich eröffnet wird? Man hat eine Belohnung von hunderttausend Pfund für denjenigen ausgesetzt, der biegsames Glas herstellen kann.«

 

»Da sollte man doch denken, daß der alte President sich um den Preis bewirbt?« Sir George runzelte die Stirn.

 

»Ich glaube nicht«, sagte Soltescu. »Ich kann mich noch sehr gut darauf besinnen, wie kompliziert der Herstellungsprozeß war. Sicherlich hat er versucht, die Formel wieder zu rekonstruieren, aber ich glaube kaum, daß es ihm gelungen ist. Wahrscheinlich wurden ihm die Schriftstücke während seiner schweren Krankheit gestohlen.«

 

»Woher wissen Sie denn davon?« fragte Sir George erstaunt.

 

»Der Mann, der mir das Fabrikationsgeheimnis verkaufte, hat es mir gesagt. Übrigens kommt er nächstens nach London.«

 

»Könnte der Ihnen denn keinen Aufschluß über die Formel geben?«

 

Soltescu machte ein trauriges Gesicht.

 

»Ich habe bereits darüber mit ihm verhandelt. Er weiß natürlich noch verschiedenes, aber das Wichtigste hat er vergessen. Wir haben auch schon verschiedene Experimente zusammen gemacht, aber keine Resultate erzielt.«

 

»Ist mir der Mann eigentlich bekannt?« fragte Sir George interessiert.

 

Während des Gespräches hatten sie den kleinen Hof verlassen und gingen jetzt durch die schmutzigen Straßen von Shadwell.

 

»Sie haben wahrscheinlich schon von ihm gehört.« Soltescu lachte verschmitzt. »Es ist ein Graf –«.

 

»Ach, ist es der?« Der Baron, sah ihn erstaunt an. »Er hat doch in Monte Carlo die Bank gesprengt?«

 

»Ja, ganz recht. Er ist dann nach Paris gefahren, wo er ein Leben in Saus und Braus führte. Da er jetzt über viel Geld verfügt, fürchtet er sich auch nicht mehr vor John President und wagt sich nach London.«

 

»Graf Colini«, sagte Sir George nachdenklich.

 

»Diesen Namen hat er sich allerdings erst nach seinem großen Erfolg zugelegt«, erwiderte der Rumäne lachend.

 

»Ich möchte ihn eigentlich näher kennenlernen«, erklärte Sir George. »Ein Mann mit einem so großen Vermögen kann einem immer nützlich sein.«

 

Einen Augenblick begegneten sich ihre Blicke, und sie verstanden einander vollkommen.

 

»Er wird Ihnen nicht soviel nützen wie ich«, meinte der Rumäne.

 

Sie standen vor dem Wagen. Mit einem kurzen Nicken verabschiedete sich Soltescu und fuhr davon.

 

*

 

An demselben Abend um halb neun ging Mr. Flickey etwas unsicher zu dem Stallgebäude, das Sir George in Shadwell gemietet hatte. Buncher gab ihm dort die letzten Anweisungen.

 

»Wenn jemand Sie anhält und fragt, wohin Sie den Gaul führen, sagen Sie, daß Sie ihn zum Tierarzt nach Camden Town bringen.«

 

»Lassen Sie mich nur machen«, erklärte Flickey selbstbewußt. »Ich habe nicht umsonst meine Zeit hauptsächlich im Gefängnis zugebracht. Da lernt man allerhand. Wird für den Gaul bezahlt, wenn ich ihn abliefere?«

 

»Nein, darum brauchen Sie sich nicht zu kümmern. Ihre zehn Schilling haben Sie ja schon in der Tasche. Sie sollen das Pferd nur den Leuten übergeben, die die Pferdetransporte nach Antwerpen besorgen. Weiter haben Sie nichts zu tun.«

 

»Ja, die Firma kenne ich gut.«

 

»Und nun machen Sie, daß Sie fortkommen«, sagte Buncher ärgerlich.

 

Flickey verschwand mit seinem Pferd durch das Tor und wandte sich später zur Commercial Road. Es kam ihm etwas unheimlich auf der großen Straße vor, auf der viele Polizisten zu sehen waren, denn er hatte nicht die geringste Absicht, mit ihnen in Berührung zu kommen. Nach einer Viertelstunde bog er jedoch in eine ruhige, verlassene Straße ein und kam an einer Kneipe vorbei. Die hellerleuchteten Fenster besaßen eine besondere Anziehungskraft für ihn, der er nicht widerstehen konnte. Er hielt an und sah sich um. Aber er konnte nur einen einzigen Menschen in der Nähe entdecken, einen schlampigen Mann, der mit den Händen in den Hosentaschen hinter ihm herging. Mr. Flickey fühlte, daß jetzt der Augenblick gekommen war, in dem er unbedingt etwas trinken mußte. Außerdem fiel ihm ein, daß es kurz vor Toresschluß war. Der Mann, den er bemerkt hatte, schlenderte gerade langsam an ihm vorüber.

 

»Hallo, Bill!« rief ihn Flickey an.

 

Er wußte zwar nicht, ob der Mann Bill hieß, aber dieser Anruf erschien ihm als eine freundliche Einleitung, da er den Mann um einen Gefallen bitten wollte.

 

»Halten Sie doch mal dieses Pferd fünf Minuten lang«, sagte er. »Sie kriegen nachher auch ein Trinkgeld, wenn ich wieder aus der Kneipe komme.«

 

»Gemacht!« entgegnete der andere sofort bereitwillig.

 

Er war groß, aber sehr schlecht gekleidet. Flickey betrachtete ihn und gewann den Eindruck, daß der Mann bessere Tage gesehen haben mußte. Das schloß er auch aus seiner Sprache und aus seinen Bewegungen.

 

»Wo kommt der Gaul denn hin?« fragte der Fremde, der das Pferd neugierig musterte.

 

»Das geht Sie nichts an«, erklärte Flickey brummig. »Stellen Sie keine dummen Fragen, dann bekommen Sie keine falschen Antworten. Man muß nicht allen Leuten gleich alles auf die Nase binden.«

 

»Nichts für ungut«, erwiderte der andere und nahm den Zügel des Pferdes.

 

»Aber Ihnen kann ich es ja im Vertrauen sagen«, meinte Flickey gnädig. »Der kommt nach der Knochenmühle.«

 

»Was, zum Abdecker?«

 

»Nein, das gerade nicht«, entgegnete Flickey, der keine Neuigkeit für sich behalten konnte. »Ich bringe ihn zu einem Freund, der schickt ihn per Schiff fort.«

 

»Aha, ich verstehe.«

 

»Ich bleibe keine fünf Minuten aus«, sagte Flickey noch, als er sich in der Tür umdrehte.

 

Aber in der Stube war es gemütlich warm, und er konnte seinen gewaltigen Durst löschen, da er Geld in der Tasche hatte.

 

Die fünf Minuten wurden zu zehn – zu fünfzehn – und schließlich kam Flickey noch mit einem Mann ins Gespräch, der eine entgegengesetzte Meinung über Politik vertrat. Eine Dreiviertelstunde war vergangen, als ihm zum erstenmal wieder einfiel, daß er noch einen Auftrag zu erledigen hatte.

 

»Jetzt muß ich aber machen, daß ich fortkomme«, sagte er und schaute auf die große Uhr über dem Büfett. Dann taumelte er zu der Tür.

 

»Verdammt, ich habe ziemlich schwer geladen. Wenn ich bloß nicht zwei Pferde sehe«, brummte er, als er auf die Straße trat.

 

Aber davor blieb er bewahrt, denn als er hinauskam, konnte er nicht einmal ein Pferd sehen. Der Gaul und sein Wächter waren vollkommen von der Bildfläche verschwunden.

 

Flickey starrte bestürzt vor sich hin, ging dann langsam zur nächsten Straße und schaute um die Ecke, aber auch da war keine Spur zu finden. Er öffnete sogar die gute Stube der Kneipe, denn es kam ihm plötzlich der absurde Gedanke, daß sich der Mann mit dem Pferd dort niedergelassen haben könnte. Bald beruhigte er sich aber wieder. Er hatte ja seine Bezahlung schon im voraus bekommen, und deshalb hatte er ein gutes Gewissen.

 

»Na, meinetwegen soll er den Gaul heiraten«, brummte er, trollte sich nach Hause und sank schwer aufs Bett. Als er am nächsten Morgen erwachte, hatte er alles vergessen, was sich am vorigen Abend zugetragen hatte, und als Buncher ihn später fragte, ob er das Pferd richtig abgeliefert hätte, zögerte er keinen Augenblick mit der Antwort.

 

»Ja, ich habe den Gaul dem Mann gegeben, und er hat sich obendrein noch freundlich dafür bedankt«, erklärte er seelenruhig.

 

Kapitel 22

 

22

 

»Die Sache hat Sie schwer mitgenommen«, meinte Eric Stanton.

 

Milton saß teilnahmslos am Tisch und starrte ins Leere. Die Zigarre zwischen seinen Fingern war ausgegangen.

 

»Ja, da haben Sie recht«, sagte er jetzt. »Mir hat noch nichts im Leben so sehr zugesetzt.«

 

»Kommen Sie mit in die Stadt und erholen Sie sich.«

 

Auf dem Heimweg hatten sie in der Nähe eines Vergnügungsparks einen Reifenschaden. Während der Chauffeur das Rad wechselte, gingen sie durch die Reihe der Würfelbuden und Schießstände und blieben schließlich vor einem größeren Zelt stehen. Ein auffallend bemaltes Schild verkündete, daß hier eine wandernde Theatertruppe Vorstellungen gab. Die Schauspieler und Schauspielerinnen standen in ihren Kostümen auf einer erhöhten Plattform.

 

»Der Mann dort kommt mir so bekannt vor«, sagte Eric plötzlich und wies auf einen Schauspieler, der mit lauttönender Stimme die Umstehenden zum Besuch des Theaters aufforderte.

 

»Und die Frau dort muß ich auch schon gesehen haben«, erwiderte Milton und zeigte auf eine reichlich geschminkte Dame, die auf einem Stuhl saß und mit einem Kollegen sprach.

 

»Es ist doch merkwürdig, daß man sich manchmal einbildet, gewisse Leute schon zu kennen, die man plötzlich trifft«, fuhr Milton fort. »Jedem von uns ist das schon begegnet.«

 

Er folgte einer plötzlichen Eingebung und nahm Eric mit in die Vorstellung, die mittlerweile begonnen hatte. Sie kauften reservierte Plätze in der Nähe der Bühne, und der erste Akt war beinahe zu Ende, als Milton einen Zettel schrieb. Er schickte ihn durch einen Angestellten hinter die Bühne und erhielt auch gleich darauf die Antwort, daß der Schauspieler ihn nach der Vorstellung sprechen würde.

 

»Ich habe eine Idee«, erklärte Milton, »aber ich weiß nicht, ob ich recht habe.«

 

Eric schüttelte den Kopf.

 

»Sie sind wieder einmal geheimnisvoll, und ich weiß nicht, was Sie beabsichtigen.«

 

Die Vorstellung endete erst gegen zwölf Uhr, und die Schauspieler kamen einzeln aus dem Zelt ins Freie. Ein etwas untersetzter Mann trat auf Milton Sands zu.

 

Sie musterten sich einen Augenblick, als sie einander gegenüberstanden, und Milton sah, daß der Mann verlegen wurde.

 

»Ich glaube, wir haben uns schon kennengelernt«, bemerkte der Detektiv ruhig.

 

»Ich glaube nicht«, entgegnete der andere ablehnend.

 

»Würden Sie vielleicht so liebenswürdig sein und mich in mein Hotel begleiten? Ich möchte einige Fragen an Sie richten.«

 

»Nein, das lehne ich entschieden ab.«

 

»Dann muß ich die Polizei rufen und Sie verhaften lassen.«

 

»Das können Sie nicht. Ich habe Sie überhaupt noch nicht gesehen!«

 

»Machen Sie doch keine Geschichten. Ich will Ihnen gern für Ihre Bemühungen zahlen, wenn Sie mir einige Informationen geben können«, erklärte Milton lächelnd. »Wenn Sie vernünftig sind, gehen Sie mit mir.«

 

Diese Zusicherung beruhigte den Schauspieler, und er begleitete die beiden.

 

Sie fuhren zu einem nahegelegenen Hotel, in dem Eric ein Zimmer nahm, und setzten sich bei einem Glas Wein zusammen.

 

»Wie kam es denn, daß Sie heute nachmittag auf dem Hausboot von Sir George waren?« fragte Milton nach einigen einleitenden Bemerkungen. »Und warum haben Sie behauptet, daß Sie das Boot gemietet hätten?«

 

»Darüber möchte ich nichts weiter sagen«, entgegnete der Mann zurückhaltend.

 

Milton zog seine Brieftasche heraus und legte fünf Banknoten auf den Tisch. Jede hatte einen Wert von fünf Pfund.

 

»Wenn Ihre Informationen nützlich für mich sind, zahle ich Ihnen diese Summe.«

 

Der Mann sah das Geld gierig an.

 

»Unter diesen Umständen bin ich schließlich nicht abgeneigt, Ihnen die Geschichte zu erzählen. Wir haben ja nichts Schlimmes getan, sondern uns einfach engagieren und bezahlen lassen.«

 

»Wer hat Sie denn engagiert?«

 

»Ein eleganter Herr. Ich glaube, er heißt Sir George Frodmere. Außerdem war noch ein gewisser Mr. Kitson bei ihm.«

 

»Ach so, Bud Kitson.« Milton nickte.

 

Der andere grinste.

 

»Der hat mir eine merkwürdige Geschichte vorerzählt. Eine hübsche Schauspielerin sollte zu dem Boot kommen, die immer von zwei jungen Leuten belästigt wurde. Sie wollte sich dort vor ihnen in Sicherheit bringen. Ich und meine Kolleginnen sollten eine Familienszene auf dem Hausboot spielen und die beiden Herren hinters Licht führen. Wir bekamen zehn Pfund für unsere Bemühungen und sollten von morgens bis zur Abendvorstellung auf dem Boot bleiben.«

 

»Jetzt verstehe ich alles«, sagte Milton. »Hier haben Sie Ihre fünfundzwanzig Pfund. Ich will Sie nicht weiter stören.«

 

Er verließ das Zimmer, öffnete draußen seine Aktentasche, nahm eine Browningpistole heraus und untersuchte sie. Er überzeugte sich, daß das Magazin gefüllt war, steckte die Pistole in seine Hüfttasche und ging dann zu Eric zurück.

 

»Wir wollen noch einmal zu dem Hausboot fahren und es gründlich untersuchen. Da Kitson zu der Gesellschaft gehört, ist es ratsam, daß wir uns vorsehen.«

 

Es gab noch einen kleinen Aufenthalt, bevor sie abfahren konnten, und die Kirchenuhren schlugen eins, als sie zum Themseufer kamen.

 

»Wir sind da«, sagte Milton und zeigte auf die beiden weißen Pfosten, die die Anlegestelle markierten.

 

Der Wagen hielt, sie stiegen aus und gingen nach dem Fluß zu. Es war eine dunkle Nacht, und ein leichter Regen fiel.

 

»Wir müssen falsch gegangen sein«, rief Eric plötzlich.

 

»Warum denn?« fragte Milton erstaunt.

 

Aber dann sah er plötzlich, daß das Hausboot nicht mehr am Ufer lag. Sie fanden wohl die Pfosten, an denen es vertäut gewesen war, und im Schein ihrer Taschenlampen entdeckten sie auch Fußspuren und die Stelle, wo die Landungsbrücke am Ufer aufgelegen hatte. Aber das Hausboot selbst war verschwunden.

 

*

 

»Wie spät ist es?« fragte Sir George.

 

»Halb eins«, entgegnete Kitson.

 

»Der Schlepper muß jeden Augenblick ankommen.«

 

»Der Schlepper?« fragte Bud erstaunt.

 

Sir George nickte.

 

»Sie lassen uns hier sicher nicht in Ruhe, denn sie werden bald auf unserer Spur sein. Die Schauspieler haben ihren Zweck erfüllt, aber ich brauche mehr Zeit, um zum Ziel zu kommen. Deshalb habe ich einen Schlepper engagiert, der uns den Strom hinunterbugsieren soll. Ich kenne eine ruhige, nette Bucht weiter unten, in der wir wochenlang liegen können, ohne daß man uns dort sucht.«

 

»Aber wird denn das alte Boot die Fahrt aushalten?« fragte Kitson zweifelnd.

 

Sir George lächelte.

 

»Der Schlepper muß das Boot längsseits festmachen, dann kann so leicht nichts passieren. Ich habe auch schon Anweisung gegeben, daß er die Taue sofort loswerfen soll, wenn wir in der Nähe der Bucht sind. Wir müssen den alten Kasten dann selbst mit Stangen und Rudern bis zu einer guten Landungsstelle bringen.«

 

Sir George schaltete das Licht im Salon aus und öffnete eins der Fenster, die auf den Fluß hinausführten.

 

»Da kommt er schon.«

 

Mitten im Strom konnten sie die dunklen Umrißlinien des kleinen Dampfers sehen. Die roten und grünen Lichter leuchteten hell in der Dunkelheit.

 

Nach kurzer Zeit war das Hausboot von den Pfosten losgemacht und an dem Schlepper befestigt. Langsam fuhren sie auf den Strom hinaus.

 

»Die einsame Bucht befindet sich auf dem Landgut von Lord Chanderson, und es trifft sich vorzüglich, daß er gerade heute abend nach Frankreich reist. Ich hörte es auf dem Rennplatz, als er mit einem anderen Herrn darüber sprach. Niemand wird uns dort beobachten, und wenn uns das Glück günstig ist, können wir uns bequem drei Wochen lang versteckt halten. Haben Sie das Boot verproviantiert, wie ich Ihnen gesagt habe?«

 

Kitson nickte.

 

»Was soll denn aus ihr werden?«

 

Sir George lächelte.

 

»In drei Wochen kann viel passieren. In dieser Zeit kann selbst eine eigensinnige junge Dame ihre Meinung ändern. Augenblicklich bin ich allerdings in einer etwas unangenehmen Lage, Kitson. Das werden Sie auch verstehen. Wir haben ja schon öfter solche Situationen miteinander erlebt.«

 

»Das könnte ich nicht gerade behaupten«, entgegnete Bud kühl. »Mich hat man zwar mehrmals ins Gefängnis gesteckt. – Pentridge gab Ihnen doch zweitausend Pfund«, sagte er dann unvermittelt. »Davon möchte ich auch meinen Teil haben.«

 

»Selbstverständlich«, entgegnete Sir George beruhigend. »Wir teilen, wenn die Sache vorüber ist. Sie sollen nicht zu kurz kommen, weil Sie zu mir halten. Ich kann bald über ein großes Vermögen verfügen, und Sie wissen doch auch, daß ich ein wertvolles Landgut besitze.«

 

»Damit können Sie mir nicht imponieren. Das Ding ist über und über mit Schulden und Hypotheken belastet. Meiner Meinung nach besteht Ihr ganzes Besitztum aus den zweitausend Pfund, die Sie in Ihrer Brieftasche haben. Und ich muß schon darauf dringen, daß Sie mir einen Teil davon abgeben.«

 

»Wir wollen die Sache in einigen Tagen weiter besprechen«, sagte Sir George bestimmt.

 

»Nein, wir müssen sie jetzt ins reine bringen«, brummte Bud Kitson. »Unsere gemeinsame Verbindung war bis jetzt für mich nicht gerade sehr vorteilhaft, und ich verlange endlich einmal eine größere Summe.«

 

Sie standen beide auf dem Oberdeck und sahen auf den dunklen Fluß hinunter, während der Schlepper langsam stromabwärts dampfte.

 

»Ich habe bei Ihnen wirklich keine Seide spinnen können«, fuhr Kitson fort. »Und die tausend Pfund, die Sie mir jetzt geben werden, sind noch lange keine Entschädigung für all meine Mühe.«

 

Sir George lachte.

 

»Tausend Pfund soll ich Ihnen geben? Mein lieber Mann, Sie sind wohl nicht mehr ganz bei Verstand! Ich brauche den ganzen Betrag, ich kann nichts davon entbehren. Ich habe Ihnen doch vorhin schon gesagt, daß Sie Ihre volle Belohnung erhalten, wenn wir die Sache zu einem guten Abschluß gebracht haben.«

 

»Und ich sage Ihnen, daß ich meine Hälfte jetzt sofort haben will«, entgegnete Bud Kitson heftig.

 

Sir George wandte sich zu ihm um und trat ihm im Dunkeln entgegen.

 

»Sie bekommen jetzt gar nichts. Sie müssen warten, bis ich Ihnen etwas gebe, wenn die Zeit dazu gekommen ist.«

 

»Sie ist jetzt gekommen«, erwiderte Kitson hartnäckig.

 

Sir George drückte dem Amerikaner plötzlich die Pistole in die Rippen, und Bud hob automatisch die Hände hoch.

 

»Sie bekommen Ihr Geld, wenn ich soweit bin. Sie können mich nicht dazu zwingen, daß ich es Ihnen jetzt gebe.«

 

»Wenn ich nun aber ans Ufer gehe, die Polizei rufe und ihr alles mitteile?« fragte Kitson frech.

 

»Welchen Nutzen hätten Sie davon? Sie saßen doch schon einmal im Portland-Gefängnis. Wollen Sie wieder dorthin wandern? Wenn Sie Ihre Drohung wahrmachen sollten, werde ich schon dafür sorgen, daß Sie wieder hinkommen.«

 

»Ich glaube, das wird Ihnen kaum gelingen.«

 

»Auf Ihren Glauben kommt es gar nicht an«, entgegnete Sir George mit einem rauhen Lachen. »Ich kenne Ihr Vorleben ganz genau. In Monte Carlo wurde ein Mann ermordet, und Sie standen dabei und rührten keinen Finger, um den armen Teufel zu retten. Seit der Zeit haben Sie den Mörder erpreßt. Das ist an und für sich schon strafbar, außerdem sind Sie auch der Beihilfe zum Mord schuldig.«

 

»Sie wissen zuviel«, sagte Bud Kitson merkwürdig langsam und ruhig.

 

Blitzschnell schlug er Sir George die Pistole aus der Hand, und die Waffe fiel polternd auf das Deck.

 

»Lassen Sie mich los«, brüllte der Baronet, als Bud ihn an der Kehle packte.

 

Sie rangen miteinander auf dem Deck des großen Hausbootes. Plötzlich sprang Kitson zurück und schlug Sir George mit einem Kinnhaken zu Boden, so daß dieser besinnungslos liegenblieb. Vorsichtig beugte er sich über ihn, durchsuchte seine Taschen und fand, was er haben wollte. Er steckte die Brieftasche und die Pistole Sir Georges ein, zog dann ohne weitere Umschweife den Bewußtlosen an die Reling und warf ihn ins Wasser. Einige Zeit blieb er noch dort stehen und schaute in die dunklen Fluten, aber es war nichts mehr von Sir George zu sehen. Schnell ging er über das Deck und rief den Kapitän des Schleppers.

 

»Machen Sie Ihre Taue los und lassen Sie das Hausboot treiben!« befahl er.

 

Er hörte den Maschinentelegrafen, der das Signal zum Stoppen gab. Der Kapitän stieg von seiner kleinen Brücke und kam nahe an die Reling.

 

»Ist etwas nicht in Ordnung?« fragte er.

 

»Machen Sie das Hausboot los«, wiederholte Bud …

 

»Ich kann Sie aber doch nicht mitten im Strom treiben lassen!« entgegnete der Kapitän verwundert.

 

»Dann bringen Sie das Boot bis ans Ufer und lassen Sie es dort liegen«, erwiderte Kitson.

 

»Wo ist denn der andere Herr?«

 

»Der ist schon nach unten gegangen und hat sich schlafen gelegt.«

 

Der Kapitän zögerte.

 

»Und was wird aus meiner Heuer?«

 

Kitson nahm einen Geldschein aus der Tasche, lehnte sich über die Reling und reichte ihn hinüber.

 

»So, damit sind Sie bezahlt.«

 

Der Kapitän trat unter eine Lampe und erstaunte über die Höhe des Betrages.

 

»Ich werde Ihnen das Wechselgeld herausgeben.«

 

»Sie können den Rest behalten. Bringen Sie mich nur bis zum Ufer und fahren Sie dann fort.«

 

Aber selbst, als der Kapitän den Auftrag ausgeführt hatte, konnte er sich noch nicht beruhigen und fragte, ob er nicht noch weitere Hilfe leisten sollte.

 

»Ich kann den Kasten schon allein festmachen«, erklärte Bud.

 

Er wartete eine halbe Stunde, bis die Lichter des Schleppers um die Biegung des Flusses verschwunden waren. Bis jetzt hatte alles geklappt. Er hatte das Hausboot nicht festzumachen brauchen, denn es hatte sich auf einer Schlammbank festgesetzt und rührte sich nicht von der Stelle. Kitson ging nach unten. Seine Frau lag auf einer Couch im Salon.

 

»Sir George ist über Bord gefallen«, sagte er kurz, nachdem er sie geweckt hatte.

 

Sie sahen sich einen Augenblick an und verstanden sich.

 

»Mach dich fertig, damit wir fortgehen können. Wir müssen uns beeilen.«

 

»Was wird denn aus dem Mädchen?«

 

»Die kann hier bleiben. Die kleine Meinungsverschiedenheit zwischen mir und Sir George ist doch nur zu ihrem Besten.«

 

Die Vorbereitungen waren bald getroffen. Er wechselte seine leichten Schuhe gegen ein Paar kräftige Stiefel aus und durchsuchte dann Sir Georges Kabine. In einem Handkoffer fand er eine große Summe Bargeld.

 

Seine Frau war schon längst fertig und wartete auf ihn.

 

»Wäre es nicht besser, wenn wir sie riefen?« fragte sie.

 

»Nein, wir haben keine Zeit zu solchen Dummheiten. Wir müssen jetzt vor allem an uns selbst denken.«

 

»Was ist denn aus ihm geworden?« fragte sie und zeigte mit dem Kopf nach dem Deck.

 

»Halt den Mund und stell keine albernen Fragen.«

 

Als er vorhin auf dem Deck stand, hatte er geglaubt, die Spitze des Bootes sei dem Ufer so nahe, daß man von dort aus an Land springen könne. Aber jetzt bemerkte er zu seiner Überraschung, daß ihn ein breiter Streifen Wasser vom Ufer trennte.

 

»Das Boot ist ins Treiben gekommen«, sagte er mit einem Fluch und eilte aufs Oberdeck, um sich besser umsehen zu können.

 

Das Fahrzeug trieb tatsächlich langsam nach der Mitte des Stroms. Ein kleines Rettungsboot schwamm an einem Seil hinterher. Nach einigen Anstrengungen gelang es Kitson, es heranzuziehen. Er half seiner Frau hinein und kletterte dann selbst nach.

 

Er fand ein paar Ruder und trieb das Boot mit kräftigen Schlägen ans Land.

 

»Das ist der beste Ausweg für uns. Das Mädchen werden sie morgen schon finden. Passieren kann ihr nichts.«

 

Kapitel 23

 

23

 

Janet Symonds erwachte aus einem unruhigen Schlaf. Sie hatte das Gefühl, daß ihr irgendeine Gefahr drohte. Obwohl sie unter keinen Umständen hatte einschlafen wollen, hatten sie die aufregenden Ereignisse des Tages und die lange Fahrt doch müde gemacht.

 

Es fiel ihr auf, daß das Boot sich nach der einen Seite neigte, und als sie durch das kleine Fenster schaute, bemerkte sie, daß es mitten im Strom trieb. Schnell räumte sie die Möbel fort, die sie vor der Tür angehäuft hatte. Sie lief den Gang entlang und erwartete, daß sie die anderen treffen würde, aber sie konnte niemand entdecken. Das Licht im Salon brannte allerdings noch, aber es war niemand dort.

 

Nun wurde ihr plötzlich die gefährliche Lage klar, in der sie sich befand. Das Boot sank!

 

Sie lief wieder nach unten und rief nach Sir George. Aber sie bekam keine Antwort.

 

Die anderen hatten sie im Stich gelassen. Sie erinnerte sich daran, daß sie vorher ein kleines Ruderboot gesehen hatte, das hinten an dem Hausboot befestigt war. Aber auch das war verschwunden.

 

Langsam, mit leisem Knacken und Ächzen, sank das Boot tiefer und tiefer. In ihrer Verzweiflung suchte sie nach einem Rettungsring, konnte aber keinen finden. Sie war zu schwach, um ein paar Planken loszureißen, die sie hätten über Wasser halten können.

 

Aber plötzlich tauchten weiter stromaufwärts Lichter auf und näherten sich schnell. Janet hörte das Geräusch eines Motors und rief mit aller Kraft um Hilfe.

 

Eric Stanton, der vorn im Boot saß, hörte den Schrei und sah in der Fahrtrichtung die dunklen Umrisse des Hausbootes. Er rief etwas zurück, und der Motor stoppte sofort, gerade noch rechtzeitig. Milton, der am Steuer saß, brachte das Boot längsseits des sinkenden Fahrzeugs.

 

Ohne einen Augenblick zu zögern, sprang er an Bord. Als sein Fuß den Boden des Decks berührte, legte sich das Hausboot auf die Seite und versank in den Fluten. Aber er hatte Janet mit starken Armen gepackt. Beinahe hätte der Strudel des untergehenden Bootes sie in die Tiefe mitgerissen. Milton kämpfte verzweifelt, und endlich, nach einer Zeit, die ihm wie eine Ewigkeit erschien, kam er wieder an die Oberfläche und atmete die frische Nachtluft.

 

Das Motorboot nahm beide auf.

 

»Janet ist ohnmächtig geworden«, sagte Eric. Er zog seinen Mantel aus und deckte damit die Bewußtlose zu. Zärtlich blickte er sie an. Endlich hatte er seine Schwester wiedergefunden.

 

*

 

Am nächsten Morgen ging die Sonne strahlend auf, und Janet öffnete schlaftrunken die Augen. Sie schaute sich um und bemerkte, daß Mary President neben ihrem Bett saß und ein Buch auf den Knien hatte. Sie lächelte schwach und schlief wieder ein. Als sie zum zweitenmal erwachte, war Mary President immer noch bei ihr, aber statt des Buches hielt sie eine Zeitung in der Hand, und auch der Boden war mit Zeitungen bedeckt.

 

»Wie geht es Ihnen jetzt?«

 

»Viel besser«, sagte Janet und richtete sich auf.

 

»Fühlen Sie sich wohl genug, all die vielen Bilder von Donavan zu sehen?« fragte Mary vergnügt. »Er hat das Derby gewonnen.«

 

»Das Derby?« fragte Janet verständnislos.

 

»Ja. Wir waren doch gestern zusammen beim Rennen in Epsom – haben Sie das denn ganz vergessen?«

 

Janet schüttelte den Kopf.

 

»War das erst gestern?« fragte sie verwundert. »Es kommt mir vor, als wären inzwischen viele Jahre vergangen.«

 

*

 

Monsieur Soltescu saß in Paris im Hotel und las in einer Zeitung den Bericht über den Tod Sir Georges in der Themse. Er las auch, daß Bud Kitson und seine Frau in den frühen Morgenstunden in der Nähe von Reading von der Polizei aufgegriffen worden waren.

 

»Ja, so geht’s«, sagte er in philosophischer Ruhe und machte auf dem schneeweißen Tischtuch mit seinem Bleistift eine ungefähre Kalkulation, wieviel Geld er bei dieser Geschichte verloren hatte.

 

 

Ende

 

Kapitel 3

 

3

 

Es gibt verrufene Gegenden in Nizza, von denen die Fremden, die auf der Promenade des Anglais im hellen Sonnenschein lustwandeln und sich an den Mimosen und den schönen Palmen erfreuen, für gewöhnlich gar nichts erfahren.

 

In einer kleinen Nebenstraße ließ Monsieur Soltescu sein Auto halten. Der Chauffeur hatte sich sehr gewundert, daß dieser gutgekleidete Herr zu einer so armseligen Straße fahren wollte.

 

Die Passage du Bue ist eng und von hohen, häßlichen Häusern eingefaßt, in denen kleine Handwerker, Arbeiter und Krämer wohnen. Nummer 27 war das baufälligste Gebäude der Reihe, aber Monsieur Soltescu kannte derartige Wohnungen. Sie waren immerhin noch besser als die Behausungen seiner Fabrikarbeiter. Er war nicht sentimental veranlagt und kümmerte sich wenig um das Elend seiner Mitmenschen.

 

»Sie wollen Monsieur Pentridge besuchen?« fragte der schlechtgekleidete Pförtner, denn selbst dieses erbärmliche Haus hatte einen Pförtner. Er hatte allerdings nur die Pflicht, wöchentlich die Mieten von den Bewohnern einzusammeln. »Ja, Monsieur Pentridge ist zu Haus. Vierter Stock, links die erste Tür von der Treppe aus.«

 

Soltescu stieg die wackligen Stufen schnell hinauf. Er lächelte bei dem Gedanken, daß er in größte Gefahr kommen könnte, wenn jemand die große Summe in seiner Brieftasche vermutete. Als er an die beschriebene Tür kam, klopfte er. Zuerst meldete sich niemand, und erst auf wiederholtes Pochen erhielt er Antwort.

 

»Herein!« rief eine unangenehme, heisere Stimme.

 

Der Rumäne öffnete die Tür und trat in ein kleines, schlecht möbliertes Zimmer. Außer, einem alten Feldbett, das in der einen Ecke des Zimmers stand, konnte er nur noch einen Tisch, einen gebrechlichen Stuhl und einen kleinen Wandschrank entdecken. Eine schmutzige Petroleumlampe beleuchtete den Raum nur spärlich.

 

John Pentridge, den er aufsuchen wollte, saß auf der Bettkante. Er trug ein Paar alte Hosen und ein unsauberes Hemd, das vorn offenstand. Auf dem Bett lag der armselige Smokinganzug, den er gerade ausgezogen haben mußte. Er war eben erst gekommen und hatte seinem Chauffeur eine Belohnung versprechen müssen, um zur verabredeten Zeit zu Hause sein zu können.

 

Mit einem verschlagenen Blick betrachtete er den Fremden und gab sich nicht einmal die Mühe, aufzustehen. Soltescu glaubte, noch niemals einen Mann von so abstoßendem Äußeren gesehen zu haben.

 

»Sind Sie Monsieur Soltescu?«

 

Pentridge hatte in Englisch gefragt, und der Rumäne nickte. Ohne weitere Aufförderung nahm er den Stuhl, rückte ihn an das Bett heran und setzte sich.

 

»Mr. Pentridge, ich bin bereit, das wichtige Geschäft sofort mit Ihnen abzuschließen. Heute abend noch muß ich nach Paris weiterfahren, wo ich verschiedene Konferenzen angesetzt habe. Sie werden also verstehen, daß ich keine Zeit zu weitschweifigen Verhandlungen habe.«

 

»Ich begreife vollkommen«, entgegnete der andere unliebenswürdig. »Haben Sie das Geld mitgebracht?«.

 

»Darüber wollen wir später sprechen«, meinte Soltescu diplomatisch. »Zuerst geben Sie mir einmal Ihre chemische Formel.« Er sprach etwas heiser, weil er in der Zwischenzeit noch mehr getrunken hatte. »Sie müssen wissen, daß ich in der Hauptsache Glasfabrikant bin, und als Fachmann kann ich Ihnen gleich sagen, ob die Formel etwas taugt oder nicht.«

 

»Sie haben doch aber die Glasproben gehabt«, entgegnete Pentridge und sah ihn feindselig an. »Ist Ihnen denn das nicht Beweis genug?«

 

»Die Proben habe ich geprüft. Sie sind gut und tadellos, das will ich nicht im geringsten bestreiten. Aber vor allem muß ich die Formel sehen.«

 

Pentridge erhob sich schwerfällig, ging zu dem kleinen Wandschrank, der über dem Bett hing, schloß ihn auf und nahm einen Briefumschlag heraus, den er fest in der Hand hielt.

 

»Ich muß Ihnen aber vorher noch etwas sagen. Sie werden viel Unannehmlichkeiten haben, wenn herauskommen sollte, woher Sie die Papiere haben. Ich will damit nicht gerade andeuten, daß ich die Formel auf unehrliche Weise erworben habe. Seit den letzten dreißig Jahren trage ich sie mit mir herum, und ich habe die Glasproben selbst hergestellt. Das glauben Sie kaum, wenn Sie mich so sehen, aber ich hatte einen guten Lehrmeister. Haben Sie jemals etwas von Granford Turner gehört?«

 

»Granford Turner? Der Name ist mir allerdings bekannt. Das war doch der berühmte Erfinder. Vor fünfzig Jahren wurde sein Name viel genannt. Ich entsinne mich jetzt an die Tragödie seines Lebens.

 

Pentridge nickte.

 

»Er hat seine Frau erschossen und wurde deshalb lebenslänglich nach Australien deportiert. Und dort kam ich mit ihm zusammen. Er ist einer der größten Erfinder, der jemals gelebt hat. Jetzt ist er gestorben«, fügte er schnell hinzu.

 

»Unter welchen Umständen sind Sie denn mit ihm zusammengekommen?« fragte Soltescu neugierig.

 

»Das kann Ihnen gleichgültig sein«, erwiderte Pentridge abweisend. »Hier ist die Formel und eine Beschreibung des Herstellungsprozesses mit sämtlichen Einzelheiten. Alle Wärmegrade, bei denen die verschiedenen Mischungen zum Fluß kommen, können Sie daraus entnehmen.«

 

»Den Erfinder selbst kann ich also nicht sprechen?«

 

»Ich habe Ihnen doch schon gesagt, daß er tot ist«, entgegnete Pentridge kurz. »Das muß Ihnen genügen. Diese Papiere habe ich die ganzen letzten Jahrzehnte mit mir herumgeschleppt. Ich wußte, daß ich früher oder später noch einmal ein Vermögen damit verdienen könnte. Ich hätte sie auch schon früher verkauft, aber –« Er sprach nicht weiter, denn er konnte doch nicht gut erklären, wie er in ihren Besitz gekommen war. Auch wollte er nicht sagen, daß er mit der Veräußerung aus Angst vor dem Mann gewartet, dessen Geheimnis er gestohlen hatte.

 

»Zeigen Sie einmal her«, verlangte Soltescu.

 

Pentridge reichte ihm die Schriftstücke widerwillig.

 

Der Rumäne zog seinen Stuhl nahe an den Tisch und las die engbeschriebenen Seiten, die den Herstellungsprozeß behandelten, aufmerksam durch. Ab und zu machte er eine Pause und äußerte einige zustimmende Bemerkungen.

 

»Ja, das ist der richtige Weg! Niemand von uns hat früher an eine solche Lösung gedacht.«

 

Die freudige Aufregung, die ihn beim Lesen packte, machte ihn beinahe nüchtern. Niemand konnte die Wichtigkeit dieser Entdeckung besser beurteilen als er. Aber er wollte noch weitere Beweise haben.

 

Pentridge beobachtete, daß sich Soltescu im Zimmer umsah, und ahnte, was der Mann sagen wollte. Er nahm einige kleine Päckchen, eine Spirituslampe, einige dünne Scheiben Glas, ein kleines Gebläse und zwei Schachteln mit weißlichem und rötlichem Pulver aus dem Wandschrank. »Der Inhalt ist genau nach dem Rezept gemischt«, erklärte er. »Sie brauchen nicht erst lange nach den Formeln zu suchen.«

 

In der nächsten halben Stunde saß Soltescu mit Pentridge zusammen und beobachtete eingehend und interessiert die blaue Flamme und das geschmolzene Glas. Pentridge gab ein wenig von dem weißen Pulver hinzu, dann auch eine geringe Quantität der rötlichen Substanz. Er schmolz die Masse und ließ sie abkühlen, um sie dann wieder zum Fluß zu bringen. Schließlich hatte er ein Stück farbloses Glas, das sich von den gewöhnlichen Sorten, wie sie im Handel vorkommen, kaum unterschied. Er wartete einige Zeit, bis es sich abgekühlt hatte, und löste es dann mit einem Messer von der Stahlplatte. Obgleich es noch ziemlich heiß war, nahm er es in seine bloßen Hände und bog es. Das Experiment gelang. Das Stück wies nicht die leisesten Bruchstellen auf und nahm seine frühere Gestalt wieder an, sobald der Druck nachließ.

 

»Ausgezeichnet – das Glas ist nicht nur biegsam, sondern auch elastisch«, sagte Soltescu halb zu sich selbst. Er zog seine Brieftasche heraus. »Was verlangen Sie für die Erfindung?«

 

Pentridge zögerte.

 

»Ich wollte zuerst zwanzigtausend Pfund dafür haben, aber sie ist viel mehr wert. Ich gebe die Formel nicht unter fünfzigtausend her.«

 

Er täuschte sich aber, wenn er glaubte, daß Soltescu mit sich handeln ließe. Der Rumäne war fest entschlossen, keinen Schilling mehr auszugeben, als abgemacht worden war.

 

»Mein lieber Freund«, erwiderte er mit einem breiten Grinsen. »Sie glauben wohl, daß ich zuviel getrunken hätte? In gewisser Weise haben Sie nicht unrecht. Aber deshalb weiß ich doch noch sehr genau, was ich tue. Der Preis war auf zwanzigtausend Pfund festgesetzt. Ich frage nicht einmal, wem Sie die Formel gestohlen haben, und bin bereit, Ihnen die ausgemachte Summe zu zahlen. Wenn Sie ein reicher, unabhängiger Mann sind und die Erfindung anderswo besser verkaufen können, so tun Sie es doch! Ich biete Ihnen jedenfalls zwanzigtausend Pfund dafür. Entweder nehmen Sie das Geld, und das Geschäft ist perfekt, oder ich habe kein weiteres Interesse an der Sache. Der Zug nach Paris geht in aller Kürze, und ich kann nicht länger warten.«

 

»Gut, dann geben Sie mir zwanzigtausend«, entgegnete Pentridge verbissen.

 

Er streckte begierig die Hand aus, und Soltescu zählte die einzelnen Scheine.

 

»Was wollen Sie denn nun mit all dem Geld machen?« fragte der Rumäne.

 

Die Augen des heruntergekommenen Mannes leuchteten merkwürdig auf.

 

»Sehen Sie«, sagte er eifrig. »Sie sind ein reicher Mann und haben schon immer ein großes Vermögen gehabt. Aber ich bin nur ein armer Teufel, der immer hin- und hergehetzt wurde. Sie können das Leben genießen und haben auch die Zeit dazu. Aber ich werde alt, und ich habe all diese Jahre ärmlich gelebt. Mein bißchen Verdienst habe ich im Kasino verspielt. Aber jetzt werde ich einmal das große Spiel machen, nach dem ich mich mein Leben lang gesehnt habe. Verstehen Sie, was ich meine?« Er sah Soltescu mit brennenden Blicken an, als ob er Zustimmung von ihm erwarte.

 

»Ich habe nicht mehr lang zu leben, und ich kaufe mir morgen die schönsten Anzüge. Weg mit diesem abscheulichen Plunder!« rief er und warf den alten Smoking auf den Boden. »Morgen gehe ich nach Monte Carlo, und zwar genauso elegant wie diese Snobs, die ich in den letzten fünfundzwanzig Jahren gesehen habe. Im Kasino werden sie mich nicht wiedererkennen, wenn ich mich neu eingekleidet habe. Und ich setze jedesmal den Höchstsatz. Das ist die einzig vernünftige Art, Geld zu gewinnen.«

 

»Mein Lieber«, entgegnete Soltescu freundlich, als er die Schriftstücke sorgfältig in seine Brusttasche steckte, »ich möchte Ihnen nur eins sagen. Wenn ich tatsächlich Zeit hätte, dann würde ich mit Ihnen um das Geld spielen, das ich Ihnen eben ausgezahlt habe. Und ich würde gewinnen, weil ich das Geld nicht notwendig habe, und Sie würden verlieren, weil das Geld für Sie lebensnotwendig ist. Sie sind wirklich ein unverbesserlicher Narr.«

 

Nach diesen Worten verließ Soltescu in heiterer Stimmung das Zimmer und pfiff vergnügt, während er die Treppe hinunterstieg und zu seinem Wagen ging. Er war davon überzeugt, daß er noch nie in seinem Leben ein so großes und vorteilhaftes Geschäft abgeschlossen hätte.

 

Kapitel 4

 

4

 

»Ich fürchtete schon, daß Ihre Nachforschungen ergebnislos sein würden, Miss President«, sagte Lord Chanderson, der neben einer elegant gekleideten jungen Dame auf dem Bahnsteig in Marseille auf und ab ging.

 

Sie lächelte geduldig.

 

»Ich bin schon daran gewöhnt, daß diese Reisen nicht zum gewünschten Ziel führen«, erwiderte sie ruhig, »aber wir dürfen natürlich keine Chance ungenützt vorübergehen lassen. Es wäre immerhin einmal möglich, daß ich den Mann finden könnte, den mein Großvater seit so vielen Jahren sucht. Solange ich jung und gesund bin, kann ich ihn ja in seinen Bemühungen unterstützen. Er ist zwar noch rüstig und stark, aber das Reisen strengt ihn doch zu sehr an, und wenn er mit Leuten verhandeln muß, die nicht Englisch sprechen, wird er leicht verwirrt. Aber es war wirklich zu egoistisch von mir, daß ich Ihre Liebenswürdigkeit so sehr in Anspruch genommen habe.« Er schüttelte lächelnd den Kopf.

 

»Bitte, entschuldigen Sie sich doch nicht, Miss President. Sie wissen, daß ich mich selten vor zwei Uhr schlafen lege, und es hat mir das größte Vergnügen gemacht, Sie noch zum Zug zu bringen. Ich freue mich wirklich, daß ich gerade zufällig in Marseille war und Ihnen behilflich sein konnte.«

 

Sie sah ihn dankbar an.

 

»Ich war auch sehr froh. Es ist nicht gerade angenehm für eine junge Dame, in einer französischen Stadt nach einem Mann zu suchen und den Behörden klarzumachen, daß es sich um einen Verbrecher handelt. Ohne Ihre Hilfe wären mir die Nachforschungen in Marseille sehr schwergefallen. Und wenn Sie mich nicht überallhin begleitet hätten, wäre auch meine Reise nach Monte Carlo unmöglich gewesen.«

 

»Ich freue mich stets, wenn ich etwas für Ihren Großvater tun kann. Er ist ein so außergewöhnlicher Mann. Nur wenig Leute, mit denen ich zusammengekommen bin, haben so großen Eindruck auf mich gemacht wie er.«

 

»Er schätzt Sie ebenso und hat das größte Vertrauen zu Ihnen.« Sie lächelte freundlich. »Ich hätte niemals geglaubt, daß der Vorsitzende des Jockey-Klubs sich so für unsere Angelegenheiten interessieren würde.«

 

Lord Chanderson lachte ein wenig. Er war schon ein älterer Herr, aber er hatte immer noch einnehmende Züge. In England war er eine bekannte Persönlichkeit.

 

»Ihr Großvater gehört zu den kleinen Rennstallbesitzern, die wir sehr schätzen«, entgegnete er, höflich. »Sie wissen, daß wir alle Neulinge mit großer Vorsicht aufnehmen.«

 

»Meinen Sie, daß man diesen Leuten nicht trauen kann und daß sie unehrlich sind?

 

Er zuckte die Schultern.

 

»Das möchte ich gerade nicht behaupten. Aber sie arbeiten in neuerer Zeit mit allen Mitteln, und solche Gebräuche sollen bei den Rennen nicht einreißen. Es ist tatsächlich erstaunlich, daß Ihr Großvater mit nur einem Rennpferd –«

 

»Sie meinen zwei«, unterbrach sie ihn.

 

»Zwei?« sagte er erstaunt. »Ich dachte, er hätte nur das eine.«

 

»Sie vergessen das Pferd, das wir im Derby laufen lassen wollen«, sagte sie ernst. »Mein Großvater hält viel von Donavan.«

 

»Ich habe noch niemals von ihm gehört,« sagte Lord Chanderson lachend. »Man sieht doch, daß man selbst als Vorsitzender des Rennklubs um halb zwei Uhr nachts noch manches lernen kann, selbst auf dem Bahnsteig von Marseille. Ich glaube aber, wir gehen jetzt zu Ihrem Abteil zurück – in vier Minuten fährt der Zug ab.«

 

Ein Schaffner ging an ihnen vorbei.

 

»Bitte Platz nehmen!« rief er.

 

Miss President reichte Lord Chanderson herzlich die Hand und stieg dann ein. Sie ließ das Fenster herunter und plauderte noch mit ihm, bis sich der Zug in Bewegung setzte. Dann winkte sie, und er grüßte freundlich mit dem Hut.

 

Er war einer der englischen Sportsleute, die sie verehrte. Sie kannte viele, die sich für den Rennsport interessierten, aber nicht alle waren ihr sympathisch. Lord Chanderson gehörte zu der alten Generation, war ein Aristokrat vom Scheitel bis zur Sohle, ein Mann mit hervorragender Bildung und feinem Takt. Es war tatsächlich ein glücklicher Zufall gewesen, daß er sich gerade in Marseille aufgehalten hatte. Ihrem Großvater war ein Gerücht zu Ohren gekommen, daß der Mann, den er suchte, in der Nähe von Marseille gesehen worden war. Zweifellos stimmte die Nachricht, aber Nachforschungen nach einem Mann, von dem man nur eine zwanzig Jahre alte Fotografie besitzt, sind ziemlich aussichtslos. Ihre Erkundungsfahrt war ohne Erfolg geblieben, aber als sie von Marseille abfuhr, hatte sie eine angenehme Erinnerung an die liebenswürdige Fürsorge Lord Chandersons, der ihr mit größter Zuvorkommenheit geholfen hatte. Nur durch reinen Zufall hatte ihr Großvater von dem Aufenthalt Lord Chandersons in Marseille erfahren und ihr daher einen Empfehlungsbrief an den bekannten Sportsmann mitgeben können. Der Lord war John President stets in der freundschaftlichsten und liebenswürdigsten Weise begegnet, seitdem dieser sich wieder in England aufhielt.

 

Mary President ging in ihr Schlafwagenabteil und begann sich auszukleiden. Sie merkte aber bald, daß sie die Nacht nicht ungestört verbringen würde, denn der Herr im nächsten Abteil war anscheinend stark angetrunken. Er sang laut und unterhielt sich zwischendurch mit sich selbst. Die Worte konnte sie allerdings nicht verstehen, da ihr seine Sprache unbekannt war. Er mußte sehr vergnügt sein, denn ab Und zu hörte sie lautes Lachen. Sie hoffte, daß die Geräusche des Zuges den Lärm übertönen würden, aber der Mann besaß eine durchdringende Stimme, und Mary Presidents Hoffnung erfüllte sich nicht. Schließlich hörte sie, daß jemand den Gang entlangkam, an die Tür des nächsten Abteils klopfte und den Sänger in scharfem Ton zur Ruhe verwies.

 

Aber der Mann schien sich wenig daraus zu machen; er antwortete mit einem frechen Lachen und erkundigte sich, wie der andere dazu käme, an seine Tür zu klopfen.

 

Mary versuchte alles mögliche, um einzuschlafen. Sie dachte an den Zweck ihrer Reise, aber dadurch wurde sie nicht ruhiger. Sie hatte John Pentridge in Marseille gesucht, wie ihn ihr Großvater während der letzten fünf Jahre in ganz Europa und früher in Australien gesucht hatte. Ein Bekannter hatte ihn in Marseille gesehen und ihrem Großvater sofort Nachricht zukommen lassen. Daraufhin hatte sie sich gleich auf den Weg nach Südfrankreich gemacht. Das war nicht die erste Reise, die sie zu diesem Zweck unternommen hatte. Sie hatte schon fast alle großen Städte Europas besucht, um den Mann zu finden, der die Erfindung John Presidents gestohlen hatte.

 

Allmählich schlief sie doch ein, aber sie erwachte plötzlich wieder, als jemand versuchte, ihre Tür zu öffnen. Von außen konnte man nur mit dem Schlüssel des Kontrolleurs aufmachen. Zollbeamte waren es sicher nicht, denn sie fuhren durch Frankreich und hatten keine Grenze zu passieren. Sie drückte auf den Knopf ihrer kleinen Repetieruhr, und diese schlug vier. Sie hatte also höchstens eine Viertelstunde geschlafen. Langsam öffnete sich die Tür. Das Innere ihres Abteils war vollkommen dunkel, und als sie aufsah, bemerkte sie die Umrisse einer untersetzten Gestalt.

 

»Wer ist da?« fragte sie schnell und langte nach dem Lichtschalter. Aber bevor sie ihn umdrehen konnte, sprang der Mann zurück und warf die Tür ins Schloß. Sie erhob sich und klingelte dem Schaffner, der gleich darauf ziemlich verschlafen zu ihrer Tür kam.

 

Nein, er war nicht im Gang gewesen, und außer ihm hatte niemand einen Schlüssel zu den Schlafkabinen.

 

»Mademoiselle hat sicher geträumt«, sagte er höflich lächelnd, aber innerlich fluchte er, denn selbst der höflichste Schlafwagenschaffner läßt sich nicht gern in seiner Ruhe stören.

 

»Ich habe durchaus nicht geträumt«, entgegnete sie ernst. Aber sie sprach nicht weiter mit ihm darüber, da es doch keinen Zweck hatte.

 

Der Herr nebenan war anscheinend inzwischen eingeschlafen. Das konstatierte sie dankbar, als sie sich wieder niederlegte. Aber sie selbst kam nicht zur Ruhe. Sie drehte das Licht wieder aus. Der Zug fuhr verhältnismäßig ruhig durch das Rhonetal. In anderthalb Stunden würde der Morgen dämmern und ihr das Gefühl der Sicherheit wiedergeben. Es mochte ein Irrtum sein, aber sie hatte die Überzeugung, daß der Mann, der sie eben gestört hatte, etwas gegen sie im Schilde führte. Er mußte irgendeine böse Absicht haben. In letzter Zeit waren ja häufig Diebstähle auf dieser Strecke vorgekommen. Sie sagte sich selbst, daß sie sich nutzlos ängstigte, aber die Tatsache, daß sie mitten in der Nacht plötzlich aufgeweckt worden war, blieb trotzdem bestehen.

 

Der Fremde störte sie nicht mehr, aber ein neues, aufregendes Erlebnis wartete auf sie. Plötzlich gellten schrille Pfiffe der Lokomotive. Der Zug fuhr langsamer und hielt dann mit einem scharfen Ruck an, so daß sie beinahe aus dem Bett gefallen wäre: Glücklicherweise war das elektrische Licht intakt geblieben. Sie schaltete es wieder ein und hörte nun, daß überall die Türen aufgerissen wurden. Die aus dem Schlaf gerissenen Reisenden eilten auf den Gang hinaus und sprachen wild durcheinander. Mary warf schnell ihren Morgenrock über und öffnete auch ihre Tür.

 

Es mußte irgendein Unglück passiert sein … Als sie auf den Korridor trat, öffnete sich auch gerade die Tür des nächsten Abteils, und ein untersetzter Herr kam heraus. Mit blutunterlaufenen Augen starrte er um sich. Unter dem Arm trug er eine dicke, schwarze Ledermappe. Er fragte Mary etwas in einer fremden Sprache, die sie nicht verstand. Sie schüttelte nur den Kopf, denn selbst wenn sie ihn verstanden hätte, wäre sie nicht in der Lage gewesen, ihm die Ursache des Aufenthalts anzugeben. Er eilte auf die Plattform hinaus, kam aber gleich wieder zurück. In seiner Hast machte er einen Fehltritt und wäre beinahe gefallen. Dabei entglitt ihm die Mappe. Selbst in dieser ungewissen Lage konnte sich Mary eines Lächelns nicht erwehren, als der fremde Herr sich bückte, um die Mappe wieder aufzuheben. Als er sie schnell an sich riß, sah er nicht, daß ein Brief herausgefallen war. Aber Mary hatte es bemerkt und nahm ihn auf. Der kleine, aufgeregte Mann mit dem kahlen Kopf und dem großen, schwarzen Spitzbart tat ihr leid, und sie wollte ihm helfen. Zufällig fiel ihr Blick auf die fast schon verblichene Aufschrift, und sie erkannte sofort die charakteristische Schrift ihres Großvaters.

 

» Das biegsame Glas.

Die Art seiner Herstellung.

Eine Erfindung von John President.«

 

Sie hielt das Dokument in Händen, nach dem ihr Großvater seit dreißig Jahren vergeblich suchte!

 

Bevor sie sich über die Tragweite ihrer Entdeckung klarwerden konnte, riß Monsieur Soltescu mit einer plötzlichen Bewegung den Brief aus ihrer Hand. Die vielen Worte, die er erregt sprach, sollten wohl einen Dank bedeuten. Im nächsten Augenblick war er in seinem Abteil verschwunden.

 

Ein paar Herren in Schlafanzügen kamen den Gang entlang. Zweifellos waren es Engländer. Einer sah sie lächelnd an und kam auf sie zu.

 

»Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?« fragte er höflich.

 

Konnte ihr überhaupt jemand helfen? Konnte sie in kurzen Worten sagen, was sie eben erlebt hatte, und ihr Recht auf den Briefumschlag geltend machen, der sich in dem Besitz des fremden Herrn befand? Nein, das war unmöglich. Sie mußte einen anderen Weg finden, um das Schriftstück wiederzuerlangen.

 

Sie schüttelte nur den Kopf, denn sie war noch zu erregt, um sprechen zu können.

 

»Es würde mir ein Vergnügen sein –«

 

Er hatte die Worte kaum ausgesprochen, als es einen plötzlichen Zusammenstoß gab. Lautes Krachen ertönte und das Licht ging aus. Ein zweiter Zug war auf den Expreßzug aufgefahren, und im nächsten Augenblick war alles in größter Erregung. Schreckensschreie, Hilferufe und wildes Fluchen klangen wirr durcheinander.

 

Mary sah eine elektrische Taschenlampe aufblitzen und hörte ein Stöhnen, als ob jemand große Schmerzen hätte. Ein Mann eilte an ihr vorüber, und sie fühlte instinktiv, daß dieser Fremde versucht hatte, in ihr Abteil einzudringen. Drei Minuten später kletterte sie, an allen Gliedern zitternd, auf den Bahndamm hinunter, um zu sehen, was vorgefallen war.

 

Das Ende des Zuges hatte am meisten gelitten. Zwei Wagen waren ineinandergeschoben. Ein Reisender war getötet und mehrere schwer verletzt worden. Sie wartete draußen, bis sie erkannte, daß keine Gefahr mehr drohte. Der Zug war nicht in Brand geraten, und es waren auch sonst keine weiteren Komplikationen zu fürchten. Glücklicherweise befand sich ihr Wagen in der Mitte und stand noch auf den Schienen. Sie kletterte hinein und suchte ihr Abteil auf. Plötzlich ging auch das Licht wieder an. Der Schaffner hatte die schadhafte Stelle gefunden und sofort reparieren können. Er kam den Gang entlang und beruhigte die nervösen Fahrgäste. Es sei keine Gefahr vorhanden, sie sollten sich nur in aller Ruhe ankleiden.

 

Mary President hatte nicht bis zu dieser Aufforderung gewartet. Sie war schon fertig, als er an ihre Tür klopfte. Kurz darauf stand sie wieder unten auf dem Bahndamm zwischen den anderen Reisenden. Monsieur Soltescu rief, so laut er konnte, und gestikulierte heftig.

 

»Ich bin beraubt worden«, schrie er. »Man hat mich in der unverschämtesten Art und Weise bestohlen!«

 

»Aber beruhigen Sie sich doch, Monsieur«, erwiderte der Beamte, an den er sich gewandt hatte. »Sie werden in Ihrem Abteil alles an Ort und Stelle finden, wie Sie es verlassen haben.«

 

»Ich habe mich schon umgesehen und alles durchsucht, aber meine schwarze Ledermappe ist verschwunden! Und sie hat ungeheuren Wert für mich – mindestens drei Millionen …«

 

Mary President holte tief Atem. Sie hatte vorher den kühnen Gedanken gehabt, in das Abteil dieses Mannes einzudringen und nach dem Brief zu suchen. Einen Diebstahl hatte sie geplant, und nun war sie froh, daß sie doch aus Furcht davor zurückgeschreckt war.

 

Ein Herr kam den Bahndamm entlang und trat auf den Rumänen zu.

 

»Was, haben Sie Ihre Mappe verloren?« fragte er auf Englisch. »Das ist doch kaum möglich, Soltescu.«

 

»Doch, ich habe sie verloren. Es ist ein unersetzlicher Verlust«, klagte er. »Ich habe sie in meinem Abteil liegenlassen, und jetzt ist sie nicht mehr zu finden.«

 

Er ging in Begleitung des Schaffners in den Wagen zurück. Durch das Fenster konnte Mary von außen beobachten, wie genau sie alles untersuchten. Zwei Herren hinter ihr sprachen englisch, und sie fühlte sich erleichtert. Im Notfall konnte sie sich an sie wenden, und dieser Gedanke beruhigte sie und gab ihr ein Gefühl größerer Sicherheit.

 

»Wenn ich mich nicht sehr irre, ist das unser alter Freund Soltescu«, bemerkte der eine trocken.

 

»Natürlich. Seinetwegen haben wir die ganze Nacht nicht schlafen können. Ich möchte fast sagen, daß ihm recht geschehen ist.«

 

Sie wandte sich um und erkannte den Herrn, mit dem sie kurz vor dem Zusammenstoß gesprochen hatte.

 

»Das würde ich eigentlich nicht sagen«, entgegnete Milton Sands. »Man kann nie wissen, aus welchem Grund sich ein Mann dem Alkohol ergibt. Aber da er offenbar eine große Summe bei sich hatte, ist mir die Ursache nicht klar.«

 

Der Rumäne erschien wieder, trat auf die äußere Plattform hinaus und hielt eine erregte Ansprache an die Umstehenden.

 

»Meine verehrten Freunde, man hat mich bestohlen. Wer es war, weiß ich nicht, aber ich will Ihnen nur das eine sagen. Das Geld, das ich verloren habe, schmerzt mich durchaus nicht, aber es lag ein Schriftstück in der Mappe, das von größter Bedeutung für mich ist. Jedem, der mir die Mappe zurückgibt, will ich eine hohe Belohnung zahlen«.

 

Seine Worte wurden schweigend aufgenommen, und wenn der Dieb zugegen war, so kümmerte er sich allem Anschein nach nicht um dieses Angebot.

 

Kapitel 5

 

5

 

Sir George Frodmere hatte sich im Hotel Monsigny in Paris eingemietet und ging unruhig internem Wohnzimmer auf und ab. Seine beiden Verbündeten mußten jeden Augenblick kommen. Sie hatten in verschiedenen Hotels übernachtet, um nicht zusammen gesehen zu werden. Ja, sie waren in ihren Vorsichtsmaßregeln sogar so weit gegangen, daß sie nach dem Eisenbahnunglück in verschiedenen Zügen nach Paris reisten.

 

Schließlich trafen sie fast zur selben Zeit ein, und Sir George schloß die Tür sorgfältig hinter ihnen.

 

»Jetzt wollen wir einmal offen miteinander reden«, sagte er mit scharfer Stimme. »Wer hat das Geld?«

 

»Durchsuchen Sie mich«, erwiderte Kitson mürrisch.

 

Er rauchte am Rest einer Zigarre und betrachtete Sir George mit argwöhnischen Blicken.

 

»Wollen Sie mir vielleicht erzählen, daß Sie die Mappe nicht haben?« fragte Sir George ungläubig.

 

»Was soll ich haben?«

 

»Die Mappe!«

 

»Ich habe nichts«, erklärte Mr. Kitson entschieden. »Aber ich vermute, daß Sie das Geld haben!«

 

Der Baronet kniff die Augen zusammen.

 

»Ich habe es überhaupt nicht zu sehen bekommen«, sagte er kurz. »Wir wollen uns doch hier keinen Humbug vormachen. Wir stecken zu tief in unseren gemeinsamen Unternehmungen, um uns gegenseitig zu betrügen! Was wissen Sie davon, Wilton?«

 

»Ich?« fragte Toady wütend. »Wie kommen Sie darauf, derart unverschämte Fragen an mich zu stellen? Sie wollen doch nicht etwa sagen, daß ich ein gemeiner Dieb bin? Es ist einfach unerhört. Ich weiß nur«, fuhr er vorsichtiger fort, »daß Sie sich etwas eingebildet haben. Bis jetzt hielt ich die Sache noch für einen Scherz. Ich habe niemals auch nur im Traum daran gedacht, daß Sie die Absicht hatten, das Geld zu stehlen.«

 

Sir George lachte verächtlich.

 

»Sie nehmen den Mund ein wenig zu voll, Toady Wilton. Ich lasse mir von Ihnen nichts vormachen. Sie wissen doch ganz genau, daß wir alle hinter dem Geld her waren. Wenn man Sie hört, sollte man annehmen, daß Sie noch niemals ein Wässerchen getrübt haben. Ich möchte dagegen fragen, ob Sie sich überhaupt schon jemals an einem anständigen Unternehmen beteiligt haben. Der Verdacht fällt auch auf Sie. Machen Sie bloß nicht dieses Sonntagsschulgesicht. Diese Verstellung kann ich nicht leiden. Also sagen Sie klar und deutlich: Haben Sie das Geld, oder haben Sie es nicht?«

 

»Nein, ich habe es nicht«, erwiderte Wilton düster.

 

Sie standen sich einen Augenblick schweigend gegenüber und maßen sich mit den Blicken. Jeder hatte die beiden anderen im Verdacht, daß sie sich gegen ihn verbündet hätten.

 

»Jemand muß es aber doch haben«, sagte Sir George schließlich wütend.

 

»Ich bin davon überzeugt, daß Sie es haben«, entgegnete Bud Kitson.

 

Sir George fuhr herum.

 

»Was, Sie verdammter Hund, mich haben Sie im Verdacht?« brüllte er.

 

»Ich habe gehört, daß hier in Europa die merkwürdigsten Dinge passieren sollen«, erklärte der Amerikaner ruhig. »Und ich würde auch kein Herzklopfen kriegen, wenn ich entdeckte, daß Sie das Geld genommen haben.«

 

Die Situation war gefährlich, und Sir George Frodmere wußte genau, daß er den Bogen nicht überspannen durfte. Er war auf die Hilfe dieser beiden Leute angewiesen, und selbst wenn einer von ihnen sich das Geld angeeignet haben sollte, konnte er nur durch Freundlichkeit und Ruhe zum Ziel kommen.

 

»Vielleicht hat Soltescu die Mappe überhaupt nicht verloren«, warf er in gleichgültigem Ton hin.

 

»Natürlich hat er sie verloren!« rief Kitson. »Darüber brauchen Sie sich keine Gedanken zu machen. Ich habe noch kurz vorher gesehen, wie er sie in der Hand hatte. Als er den Gang entlangging, ließ er sie fallen, und eine junge Dame aus dem nächsten Abteil half ihm noch beim Aufheben.«

 

»Was war denn das für eine junge Dame?« fragte Sir George plötzlich.

 

Der Amerikaner schüttelte den Kopf.

 

»Weiß ich nicht«, erwiderte er kurz. »Ich kann doch unmöglich alle Mädels kennen, die von Nizza nach Paris reisen.«

 

»Es war eine Miss President«, erklärte Toady Wilton. »Die Enkelin des alten President.«

 

Sir George runzelte die Stirn.

 

»Der die Rennpferde hat?«

 

»Ja.«

 

Es blieb Sir George keine Zeit, über diesen merkwürdigen Zufall nachzudenken. Er hatte sich für den Vormittag mit Soltescu verabredet und war schon sehr ungehalten, daß seine beiden Komplicen so spät kamen. Aber er mußte sie unbedingt sprechen, bevor der Rumäne im Hotel erschien. Er erklärte ihnen nun in kurzen Worten, wie er mit Soltescu vorgehen wollte.

 

»Wahrscheinlich wird er jetzt nicht mehr mitmachen«, klagte Toady Wilton.

 

»Nein, so ist er nicht«, entgegnete Sir George überzeugt. »Er hat unendlich viel Geld und kann noch zehnmal soviel verlieren wie in der vorigen Nacht, ohne daß es ihm etwas ausmacht. Sie haben ja keine Ahnung, wie reich dieser Mann ist. Sie werden sehen, daß er noch ebenso scharf auf die Sache ist wie vorher.«

 

»Ich wundere mich nur, daß er Ihnen sein Vertrauen schenkt.« Wilton ging zum Kamin und nahm eine Zigarre aus dem Kasten, der dort stand.

 

»Er hat alle Ursache, mir zu trauen«, erwiderte der Baronet mit einem schlauen Lächeln. »Ich habe ihn im vorigen Jahr überall in London herumgeführt. Und wenn ich nicht gewesen wäre, hätte er zwölftausend Pfund verloren.«

 

Wilton sah ihn ungläubig an.

 

»Ich dachte mir schon, daß Sie das überraschen würde«, sagte Sir George ironisch. »Es kam durch diesen Millington. Sie kennen ihn doch? Er unterhält die Spielhölle in Pimlico. Durch irgendwelche Manipulationen hat er es verstanden, Soltescu in sein Lokal zu locken, und die Leute spielten damals sehr hoch. Man sollte allerdings kaum annehmen,, daß sich ein so gerissener Spieler wie Soltescu rupfen ließe, aber merkwürdigerweise waren ihm die anderen über. Als ich sah, wie der Hase lief, ging ich zu Millington, nahm ihn beiseite und fragte ihn, wieviel Kommission er mir einräumen würde. Aber der Mann war unvernünftig, wollte nicht mit sich reden lassen und lachte mich nur aus.«

 

»Daraufhin sind Sie wohl mit Soltescu fortgegangen?« fragte Wilton und nickte beifällig.

 

»Ganz recht.«

 

»Aber wie können Sie sagen, daß Sie ihm zwölftausend Pfund gerettet haben?«

 

»Soviel hatte er an dem Abend bei sich, und ich kenne die Millington-Bande. Die hätten ihn bis aufs Hemd ausgezogen.«

 

Es klopfte, und ein Kellner kündigte Monsieur. Soltescu an. Der Rumäne sah bleich und müde aus und war vollkommen nüchtern. Trotzdem schien ihn der Verlust kaum berührt zu haben.

 

In gewisser Weise war der kleine Mann wirklich bewunderungswürdig. Er besaß große Selbstbeherrschung, und er war weit und breit wegen seines Wagemuts bekannt. Fast alle anrüchigen Unternehmungen Europas finanzierte er, und wenn auch die Regierungen der verschiedenen Staaten seine Tätigkeit nicht schätzten, so galt sein Name doch viel bei den internationalen Abenteurern, die er gut für ihre Dienste bezahlte.

 

Er erwähnte seinen Verlust nur mit wenigen Worten.

 

»Es ist ein unglücklicher Zufall. Aber ich habe eine so hohe Belohnung ausgesetzt, daß ich mit Sicherheit auf die Rückgabe der Mappe rechnen kann.«

 

»Wieviel Geld hatten Sie denn eigentlich noch darin?«

 

»Die Summe war nicht so unbedeutend«, entgegnete Soltescu leichthin. »Vierzigtausend Pfund in englischen Banknoten. Aber nicht das verlorene Geld macht mir soviel Sorge. Der Verlust der Schriftstücke trifft mich am schwersten.«

 

Er sprach an diesem Morgen fließend Englisch.

 

»Aber Sie sind doch Fachmann, kennen die Formel und haben die ganze Beschreibung des Herstellungsprozesses gelesen, wie Sie sagten? Genügt das nicht? Könnten Sie nicht wieder alles aufschreiben? Vielleicht gelingt es Ihnen, die Formel noch einmal aus dem Gedächtnis zu rekonstruieren«, meinte Sir George.

 

Soltescu schüttelte lächelnd den Kopf.

 

»Nein, ich war gestern nicht auf der Höhe«, gestand er offen ein. »Und ich habe mir schon angewöhnt, mich nicht auf die Dinge zu besinnen, die ich in solchen Fällen erlebe. Wenn ich über all meine dummen Streiche nachdächte, bekäme ich ein zu großes moralisches Minus.«

 

»Schreiben Sie die Belohnung öffentlich aus?«

 

»Ja. Die genauen Einzelheiten kann ich natürlich nicht in die Zeitung bringen. Ich hatte die Papiere aus dem Umschlag herausgenommen und das Kuvert zerrissen, denn es standen einige Worte darauf, die mir unangenehm waren: ›Das biegsame Glas. Die Art der Herstellung. Eine Erfindung von John President.‹«

 

»John President?« fragte Sir George atemlos. »Donnerwetter, ich glaube, ich weiß jetzt, wer Ihre Mappe hat!«

 

Soltescu sah ihn verblüfft an.

 

»Woher wissen Sie es denn?« fragte er ungläubig.

 

»Ich bin meiner Sache ganz sicher. Was für eine Belohnung haben Sie denn ausgesetzt?«

 

Der Rumäne drohte Sir George mit dem Finger.

 

»Mein Freund, Sie sind tatsächlich sehr schlau und gerissen«, sagte er bewundernd. »Ich habe eine Belohnung von vierzigtausend Pfund ausgesetzt, doppelt soviel, wie mich die Schriftstücke ursprünglich gekostet haben. Die Sache ist es mir wert.«

 

»Vierzigtausend Pfund!« wiederholte Sir George. »Wissen Sie denn, wer in dem Abteil neben Ihnen schlief?«

 

»Darum habe ich mich nicht gekümmert«, entgegnete Soltescu ironisch. »Ich schicke meine Visitenkarte nicht zu meinen Nachbarn, wenn ich den Schlafwagen benütze.«

 

»Nun, dann will ich es Ihnen sagen. Es war die Enkelin John Presidents«, entgegnete Sir George langsam und mit Nachdruck. »Wenn Sie die Papiere von ihm gekauft haben –«

 

»Ich habe sie nicht von ihm, sondern von einem Mann, der sie dem Erfinder wahrscheinlich gestohlen hat. Also das war John Presidents Enkelin?« fragte er und versuchte, sich an die Vorgänge der Nacht zu erinnern. »Ich möchte nur wissen – ja, es muß stimmen«, sagte er dann und fuhr erregt mit der Hand durch sein Haar. »Ich besinne mich jetzt genau. Ich habe die Mappe fallen lassen, und dabei flog der Umschlag mit den Schriftstücken heraus. Sie hob das Kuvert auf – ja, das muß sie gewesen sein.«

 

Aufgeregt ging er im Zimmer auf und ab.

 

»Wo ist sie jetzt?« fragte, er dann schnell. »Ist sie in Paris oder in London?«

 

»Sie kam mit meinem Zug nach Paris. Ich habe sie auch gesehen. Sie ist sehr hübsch. Dunkle Haare und dunkelbraune Augen, gut gewachsen – direkt mein Typ. Ich glaube allerdings kaum, daß sie noch in Paris ist. Sie wird nach London durchgefahren sein. Aber das können wir ja bald herausbringen. Ich werde meinen Diener in London anrufen; er soll sich erkundigen, ob sie angekommen ist.«

 

»Ich gehe zur Polizei und beantrage einen Haftbefehl gegen sie!« rief Soltescu erregt.

 

»Das wäre das Dümmste, was Sie tun könnten«, unterbrach ihn Sir George. »Was halten Sie denn von der Sache, Toady?«

 

Wilton hatte die Unterhaltung schweigend angehört. Er hatte das unangenehme Gefühl, daß er von diesem Geschäft ausgeschlossen war. Er war nur Spezialist für Rennsachen. In allen Schiebungen, die darauf Bezug hatten, konnte man ihn einen Meister nennen.

 

Mr. Bud Kitson schwieg ebenfalls, hörte dem Gespräch aber interessiert zu und hielt den Augenblick jetzt für gekommen, sich einzumischen.

 

»Es würde doch nicht schwer sein, der jungen Dame die Mappe wieder abzujagen. Dazu braucht, man doch keine Polizei.«

 

»Das ist allerdings ein guter Gedanke.« Sir George sah den Amerikaner mit zusammengekniffenen Augen an. »Wirklich keine schlechte Idee. Glauben Sie, daß Sie die Sache machen können?«

 

»Wenn sie die Mappe tatsächlich hat, kann ich sie sicher besorgen.«

 

»Was halten Sie davon, Soltescu?«

 

Der Rumäne sah Bud argwöhnisch von der Seite an.

 

»Mir ist es schließlich gleich, wie ich wieder in ihren Besitz komme, wenn ich die Schriftstücke nur überhaupt wiedersehe. Ich bin bereit, eine große Summe zu zahlen. Das Geld in der Mappe können Sie als Belohnung behalten.«

 

Bud Kitsons Augen leuchteten auf.

 

»Natürlich wird das Geld unter uns allen reell verteilt, wenn der Plan gelingen sollte«, warf Sir George dazwischen.

 

Der Amerikaner grinste verständnisvoll.

 

»Es wird schon richtig verteilt werden«, sagte er zuversichtlich. Aus seinem Ton war zu entnehmen, daß er sich die Verteilung anders dachte als Sir George.

 

»Nun wollen wir aber auch noch einmal über die andere Sache sprechen«, erklärte der Baronet.

 

Ein paar Minuten später saßen sie um den Tisch und besprachen die große Schiebung, die alles bis jetzt Dagewesene in den Schatten stellen sollte.

 

Monsieur Soltescu war in ganz Europa bekannt. Obwohl er ein Großindustrieller war, kümmerte er sich eigentlich wenig um seine Fabriken. Er interessierte sich nur für die keramischen und die Glaswerkstätten, die die bedeutendsten in ganz Südeuropa waren. Hiermit hatte er den Grundstock seines ungeheuren Vermögens gelegt, und diese Fabriken warfen auch den größten Gewinn ab.

 

Aber im Grunde genommen war er ein Abenteurer und spekulierte in internationalen Unternehmungen. Und wenn er genügend dabei verdiente, kam es ihm auch nicht darauf an, sein eigenes Vaterland zu schädigen.

 

*

 

Milton Sands kannte fast alle Millionäre in Europa, und während der Fahrt von Dover nach London gab er Eric Stanton eine kurze Charakteristik von Soltescu. Sein Begleiter hörte ihm interessiert und belustigt zu.

 

»Jetzt haben wir aber immer noch keinen neuen Beruf für Sie ausfindig gemacht«, meinte Stanton, als der Zug durch Tonbridge fuhr.

 

»Ich habe schon ohne Ihren Rat einen Entschluß gefaßt. Der Diebstahl im Zug hat mich auf eine gute Idee gebracht. Ich werde Detektiv«, erklärte Milton selbstzufrieden.

 

Eric Stanton sah ihn überrascht an.

 

»Wie kommen Sie denn darauf?«

 

»Das ist der richtige Beruf für mich«, sagte Milton Sands überzeugt. »Damit kann man auf anständige, nette Weise, seinen Lebensunterhalt verdienen. Ich halte mich für ganz besonders geeignet dafür. Ein abenteuerlustiger, gewandter junger Mann kann in diesem Fach etwas leisten. Sehen Sie, der alte Soltescu hat eine Belohnung von vierzigtausend Pfund für die Wiederbeschaffung der Mappe ausgesetzt. Das ist doch gerade genug Geld, um einen zu fieberhafter Tätigkeit anzuspornen. Was sollte ich denn sonst auch noch werden? Ich könnte höchstens noch Straßenkehrer oder Taschendieb in London spielen. Denken Sie doch einmal, vierzigtausend Pfund! Die Sache lohnt sich. Ich bin großzügig und vorurteilslos genug, um den Beruf eines Detektivs erfolgreich zu gestalten.«

 

»Haben Sie sich denn schon früher einmal als Detektiv betätigt?« fragte Eric belustigt.

 

»In gewisser Weise, ja«, entgegnete Milton ernst. »Ich gehörte einige Jahre der berittenen Polizeitruppe in Australien an. Es war zwar nicht viel Detektivarbeit damit verbunden, besonders nicht im modernen Sinne, aber man hat doch allerhand kennengelernt, und man mußte seinen Verstand anstrengen, um etwas zu leisten.«

 

Es trat eine Pause in der Unterhaltung ein, bis der Zug durch die Außenbezirke Londons fuhr.

 

»Wollen Sie tatsächlich im Ernst ein Privatdetektiv werden?« fragte Eric dann.

 

Sands sah ihn ein wenig erstaunt an.

 

»Ja, gewiß. Haben Sie etwas dagegen?«

 

»Nein. Es ist mir nur etwas eingefallen. Wenn Sie wirklich diesen Beruf ergreifen, könnte ich Ihnen vielleicht in verschiedener Weise helfen. Ich habe Sie gern, Sands, und ich bewundere Ihren persönlichen Mut, Ihre Umsichtigkeit, Ihre Stärke und Ihre Entschlußkraft.«

 

»Das lasse ich mir gefallen. Sie scheinen mich ja genau geprüft zu haben, da Sie mich so gut kennen.«

 

»Ich erkenne Ihre Vorzüge gern an, und ich habe gefunden, daß Sie trotz all Ihrer Redensarten im Grunde sehr ehrlich sind und daß man sich auf Sie verlassen kann. Das sind Eigenschaften, die in unserer Zeit selten geworden sind.«

 

Milton Sands errötete ein wenig.

 

»Ich weiß Ihre Worte wohl zu würdigen, ja, Sie können sich darauf verlassen, daß ich meinen Freunden gegenüber zuverlässig bin.«

 

Eric Stanton nickte.

 

»Das weiß ich, und ich möchte Ihnen deshalb Ihren ersten Auftrag geben. Ich habe keine Ahnung, was Sie dazu gebracht hat, den Beruf eines Detektivs zu ergreifen, aber ich bin fest davon überzeugt, daß Sie sich dazu eignen und daß Sie Erfolg haben werden.«

 

»Einen Augenblick. Hören Sie bitte, erst, was ich Ihnen noch zu sagen habe. Ich möchte nicht ein Detektiv im gewöhnlichen Sinne des Wortes werden, sondern mich auf die Rennen spezialisieren. Der Rennsport ist bisher in England über jeden Zweifel erhaben gewesen, aber in der jetzigen Zeit drängen sich unsaubere Elemente ein. Es würde also ein Mann Beschäftigung finden, der seine Tätigkeit besonders dieser Sache widmet. Ich bin natürlich auch bereit, andere Aufträge anzunehmen, aber ich wollte Ihnen von vornherein sagen, daß ich mich möglichst auf Rennen beschränken will.«

 

»Der Auftrag, den ich Ihnen erteilen will, hat allerdings nichts mit Pferderennen zu tun«, meinte Eric lächelnd. »Ich hätte Sie gern gebeten, mich morgen in meiner Wohnung aufzusuchen, aber es kann sein, daß ich nicht in der Stadt bin. Vielleicht haben wir jetzt noch Zeit genug, die Sache zu besprechen. Ich will Sie ausreichend für Ihre Bemühungen bezahlen und Ihnen alle Auslagen und Reisespesen ersetzen.«

 

»Ich bin bereit, den Auftrag anzunehmen«, erwiderte Milton. »Bitte, erklären Sie mir das Nähere.«

 

Er nahm die Zigarre, die Eric ihm anbot, und steckte sie an.

 

»Sie wissen wahrscheinlich nicht, daß meine Eltern einen schweren Konflikt miteinander hatten, als ich noch klein war. Mein Vater war sehr jähzornig und erhob eine falsche Beschuldigung gegen meine Mutter. Das hat ihm später sehr leid getan.« Stanton zögerte einen Augenblick. »Ich glaube, wir können nicht nur als Leute von Welt, sondern auch als Freunde über die Angelegenheit sprechen.«

 

Sands nickte.

 

»Sie dürfen mir ruhig vertrauen. Was auch immer der Inhalt dieser Unterredung sein wird, ich werde niemals Dritten mitteilen, was ich gehört habe.«

 

Stanton lächelte resigniert.

 

»Es ist leider schon so weit gekommen, daß ich diese Forderung nicht an Sie zu stellen brauche. Die Geschichte ist in den Kreisen der Gesellschaft allgemein bekannt, nur habe ich früher nicht mit Ihnen darüber gesprochen. Die Beschuldigung, die mein Vater gegen meine Mutter erhob, richtete sich gegen ihre Ehre. Er behauptete sogar, daß meine kleine Schwester nicht sein Kind sein könnte. Das ist der schwerste Vorwurf, den man einer empfindsamen, hochgebildeten Frau machen kann. Meine Mutter zog die Konsequenzen, verließ das Haus und nahm ihre Tochter mit sich. Von jenem Tag an hat man sie nicht mehr gesehen.« Erics Stimme zitterte leicht. »Wir wissen nur, daß sie vor einigen Jahren starb, lange nach dem Tode meines Vaters. Meine Schwester aber ist noch am Leben, und wahrscheinlich hat sie von ihrer Mutter Instruktionen erhalten, sich nicht um die Aufrufe zu kümmern, die ich von Zeit zu Zeit in die Zeitungen setzen lasse. Ich möchte Ihnen nun den Auftrag geben, den Aufenthaltsort meiner Schwester ausfindig zu machen.«

 

»Hat Ihr Vater denn feststellen können, daß seine Anschuldigungen nicht zu Recht bestanden?«

 

»Ja«, erwiderte Stanton leise. »Er bekam den Beweis, daß er sich geirrt hatte. Entweder war es eine Verkettung unglücklicher Umstände, oder man hat ihn absichtlich getäuscht. Er hatte den Verdacht, daß Lord Chanderson ein Verhältnis mit meiner Mutter hatte. Sie kennen ihn sicher dem Namen nach, er ist einer der angesehensten Sportsleute, der Vorsitzende des Jockey-Klubs und ein Mann von untadeligem Charakter. Er war mit meiner Mutter allerdings sehr eng befreundet. Die Fremdenliste eines Pariser Hotels, in dem meine Mutter einmal logierte, enthielt auch den Namen Lord Chandersons, der zur gleichen Zeit dort gewohnt haben soll. Auf Grund dieser Tatsache hat mein Vater voreilig die Anklage gegen meine Mutter erhoben und dabei diesen furchtbaren Irrtum begangen. Sie hat tatsächlich dort gewohnt, aber wie sich später herausstellte, war Lord Chanderson zu jener Zeit als Attaché bei der Gesandtschaft in Berlin tätig, und er konnte nachweisen, daß er sich damals auch wirklich in Berlin aufgehalten hatte. Es muß also ein anderer Lord Chandersons Namen fälschlicherweise in die Hotelliste eingetragen haben. Das ist die ganze Geschichte, die natürlich für mich sehr schmerzlich und peinlich ist, wie Sie wohl verstehen werden.«

 

»Welche Anhaltspunkte können Sie denn sonst noch geben?«

 

»Eigentlich keine. Ich habe schon so viele Leute beauftragt, dieses Rätsel zu lösen und den Aufenthalt meiner Schwester ausfindig zu machen. Auf die vielfachen Aufrufe in den Zeitungen hat sich niemand gemeldet. Von dem Tod meiner Mutter habe ich durch eine Zeitungsannonce erfahren. Als ich die Sache genauer untersuchte, stellte sich heraus, daß die Redaktion einen eingeschriebenen Brief mit dem nötigen Geld erhalten hatte. Er war zwei Jahre vorher datiert, und ich entnehme daraus, daß meine Mutter diese Anordnungen schon lange vor ihrem Tod getroffen hatte. Ich möchte meinen Vater nicht verurteilen. Ich habe ihm auch keine Vorwürfe gemacht, da er selbst schon schwer genug unter seinem Irrtum litt. Es ist eine schreckliche Tragödie, die mein Leben verdüstert.«

 

»Das sind allerdings sehr geringe Unterlagen«, entgegnete Sands nachdenklich. »Aber wenn Sie nichts dagegen haben, suche ich Sie sofort auf, wenn Sie nach London zurückkommen. Wir können dann die geschäftliche Seite der Sache arrangieren.«

 

Die beiden reichten sich die Hände, als sie sich auf dem Bahnhof trennten. Eric Stantons Wagen wartete, aber Sands lehnte die Einladung mitzufahren ab. Er rief eine Taxe und fuhr zu seiner bescheidenen Wohnung im Westen.

 

Kapitel 6

 

6

 

»Dean macht das Rennen!« schrien die Leute wild durcheinander.« Auf den billigeren Plätzen hatte man es zuerst leise geäußert, aber nun ertönte dieser Ruf von allen Seiten.

 

Drei Pferde galoppierten dicht nebeneinander, dem Gros weit voraus. Aber ein viertes Pferd machte sich auffallend bemerkbar. Es war stark und kräftig gebaut, und seine wilde, rotbraune Mähne flatterte im Winde. Alle Augen waren auf Dean gerichtet.

 

Er lief ganz allein auf der Außenseite und holte gegen die Spitzengruppe immer mehr und mehr auf.

 

»Dean macht das Rennen!«

 

Näher und näher kam das Feld. Der berühmte Jockey Mahon spornte Battling Jerry an; denn er hatte sich umgesehen und die drohende Gefahr erkannt.

 

Einmal, zweimal gebrauchte er die Peitsche, aber er konnte nichts mehr aus dem Pferd herausholen.

 

Zwanzig Meter vom Ziel entfernt, strauchelte Battling Jerry und schwankte. Mahon riß ihn wieder in die Höhe, aber es war zu spät. Dean hatte als Erster das Ziel passiert.

 

Eric Stanton wischte sich die Stirn.

 

Was war das für ein Rennen gewesen!

 

»Dieser verdammte Dean!« brummte Wilton, der neben ihm stand.

 

»Wieso denn?«

 

»Ich dachte, Jerry würde gewinnen«, entgegnete Toady Wilton ärgerlich. Er war sonst eine unfehlbare Autorität in bezug auf Rennen, aber heute hatte er viel Geld verloren.

 

»Ich war meiner Sache wegen Jerry nicht so sicher«, erklärte Stanton nachdenklich, »und ich habe auch nichts dagegen, daß der alte Dean gesiegt hat.«

 

Wilton sah ihn verwundert an, denn Stanton war der Eigentümer von Battling Jerry.

 

»Wenn Sie so denken, ist ja weiter nichts über die Angelegenheit zu sagen. Ich wünschte nur, ich hätte nicht auf Jerry gesetzt.«

 

Wilton verschwand in der Menge, und Eric Stanton ging zu seinem Pferd. Sein Trainer Clew überwachte gerade das Absatteln.

 

»Beinahe hätten wir das Rennen gewonnen«, meinte der Mann. »Aber Jerry konnte auf den letzten fünfzig Metern nicht mehr gegen Dean ankommen. Mahon wußte das auch. Und Jerry hat das Letzte hergegeben …«

 

»Mahon kann das ja am besten beurteilen. Ich glaube ihm unbedingt«, entgegnete Eric. »Auf jeden Fall war es ein glänzendes Rennen.« Er sah sich um. »Wo ist Mr. President?«

 

Clew lächelte.

 

»Es ist phantastisch, wie der alte Herr seinen Dean trainiert. Das Pferd muß doch jetzt schon zehn Jahre alt sein!«

 

»Die Australier verstehen sich auf Pferde. Aber ich will nichts gegen Sie gesagt haben, Clew«, fügte er hinzu.

 

»Ich begreife«, entgegnete Clew ruhig. »Aber vor dem alten Mr. President kann man wirklich den Hut abnehmen. Er vollbringt geradezu Wunder mit Dean.«

 

In diesem Augenblick sah Eric den alten Herrn, über den sie gerade gesprochen hatten, und bahnte sich einen Weg durch die Presseleute.

 

John President stand etwas abseits von den anderen. Trotz seiner achtzig Jahre hielt er sich noch vollkommen aufrecht wie ein Soldat.

 

Er hatte einen kleinen, kurzgeschnittenen Bart, und unter dem grauen Zylinder sah man seine schneeweißen Haare. Sein durchfurchtes Gesicht hatte eine frische Farbe und war sonnverbrannt. Als er Eric kommen sah, lächelte er ihm freundlich zu. Seine Bewegungen waren noch jugendlich lebhaft.

 

»Ah, Mr. Stanton«, sagte er mit tiefer, melodischer Stimme, »wir haben Sie geschlagen beim Rennen! Das tut mir einerseits wirklich leid, andererseits bin ich natürlich darüber hocherfreut.«

 

Eric nahm die ausgestreckte Hand und drückte sie kräftig.

 

»Auf jeden Fall war es ein glänzendes Rennen. Es ist wirklich erstaunlich, wie mustergültig der alte Dean von Ihnen trainiert wurde. Sie haben ja allerdings auch nur dieses eine Pferd.«

 

»Nein, das ist ein Irrtum. Ich besitze zwei«, erwiderte Mr. President vergnügt. »Aber Dean ist so groß und stark, daß er einen Stall für sich allein braucht. Die Leute wissen im allgemeinen nicht recht, was sie von mir halten sollen«, fuhr der alte Herr fort und zeigte mit dem Kopf nach der Menge. »Manche sagen, es wäre Hochverrat, daß ein alter Australier wie ich mit einem so alten Pferd nach Ascot geht und die besten Preise wegschnappt. Dean hat tatsächlich kein schnittiges Aussehen, aber auf der Rennbahn zeigt er doch immer noch zähe Ausdauer!«

 

»Auf jeden Fall beweist er durch seinen Galopp, daß er es mit allen anderen Pferden in Ascot aufnehmen kann«, entgegnete Eric lächelnd.

 

»Er ist meine dritte Hoffnung«, sagte Mr. President etwas rätselhaft. »Ich verlasse mich auf ihn – und auf die beiden anderen auch. Eines Tages wird mein sehnlichster Wunsch doch noch in Erfüllung gehen.«

 

Eric sah ihn überrascht an, denn er verstand diese merkwürdigen Worte nicht. Was konnte denn der sehnlichste Wunsch dieses alten Mannes noch sein? Ein Mensch in seinen Jähren hatte gewöhnlich keine Wünsche mehr. Aber Eric bekam keine weitere Erklärung.

 

Er unterhielt sich noch einige Zeit mit Mr. President und trennte sich dann von ihm, um seine Gäste aufzusuchen.

 

Es war ein herrlicher Frühlingstag, und der Andrang des Publikums zu dem Rennen war außergewöhnlich groß;

 

Als Stanton zum Teepavillon kam, fand er nahezu alle Plätze besetzt. Aber schließlich entdeckte er einen kleinen Tisch an der Außenseite, andern noch ein Stuhl frei war. Ihm gegenüber saß eine junge Dame, die anscheinend ohne Begleitung war. Ihre großen, dunklen Augen wirkten äußerst anziehend; sie hatte feingeschnittene Züge, eine gerade Nase und frische, rote Lippen. Er hatte das Gefühl, daß er sie früher schon einmal gesehen haben mußte, und plötzlich entsann er sich.

 

»Verzeihen Sie, habe ich die Ehre mit Miss President?«

 

Sie nickte lächelnd.

 

»Wir haben uns doch bei dem Eisenbahnunglück in Südfrankreich gesehen?«

 

»Das stimmt. Ich kann mich deutlich an Ihre Stimme erinnern. Sie standen hinter mir, als Monsieur Soltescu so laut über seinen Verlust klagte.«

 

Ihre Züge verdüsterten sich einen Augenblick, aber er konnte nicht ahnen, was die Ursache dazu war. Sie plauderten miteinander, und nach einigen Minuten war es ihnen, als ob sie sich schon seit Jahren kennen müßten. Sein freundliches, offenes Wesen gefiel ihr sofort, und auch er fühlte, daß er ihr sympathisch war.

 

Sie waren so sehr in ihr Gespräch vertieft, daß sie nicht einmal bemerkten, wie sich der Teepavillon allmählich leerte. Erst als das Glockenzeichen von der Rennbahn her ertönte, erkannten sie, daß sie das Rennen versäumt hatten.

 

»Es täte mir sehr leid, wenn ich Sie aufgehalten hätte«, sagte sie lächelnd.

 

»Nein, nein, durchaus nicht. Ich habe sowieso kein großes Interesse an den anderen Rennen, die heute noch gelaufen werden. Darf ich Sie zum Sattelplatz begleiten?«

 

Sie nickte und nahm ihre Tasche auf.

 

»Wahrscheinlich treffen wir meinen Großvater dort«, meinte sie. Diese Feststellung machte sie etwas widerwillig, denn sie hatte sich in der Gesellschaft dieses hübschen jungen Mannes außerordentlich wohl gefühlt.

 

Als sie fortgingen, begegnete ihnen am Ausgang ein Herr. Er grüßte Miss President höflich, aber sie nickte nur kühl.

 

»Kennen Sie Sir George Frodmere auch?« fragte Eric.

 

»Er kennt uns«, sagte sie gleichgültig. »Er bewundert meinen Großvater wegen seiner Tüchtigkeit. In der letzten Zeit war er öfter bei uns, aber ich mag seine Gesellschaft nicht sehr. Hoffentlich ist er nicht Ihr Freund.«

 

Eric lachte.

 

»Nein, er ist durchaus kein Freund von mir. Und er weiß auch, daß ich nicht viel von ihm halte.«

 

Sie betrachtete ihn lächelnd.

 

»Und was halten Sie von Mr. Wilton, der immer in seiner Begleitung ist? Kennen Sie den genauer? Ich sah Sie vorhin zusammen auf der Tribüne.«

 

Sie biß sich auf die Lippen und errötete, denn sie hatte nicht verraten wollen, wie sehr sie sich für ihn interessierte. Während sie in angeregter Unterhaltung über den Platz gingen, warf sie ab und zu einen scheuen Blick auf ihn.

 

Milton Sands beobachtete die beiden und lächelte verständnisvoll.

 

»Sehen Sie einmal dorthin, Miss Symonds«, sagte er.

 

Eine schlanke junge Dame ging neben ihm her. Ihre Augen strahlten, und ihre Umgebung schien sie auf das lebhafteste zu interessieren. Im Gegensatz zu den kostbaren Toiletten, die man bei den Rennen sehen konnte, war sie einfach gekleidet. In Wesen und Haltung aber machte sie durchaus den Eindruck einer Dame.

 

»Wen meinen Sie?« fragte sie eifrig. Sie besuchte zum erstenmal ein Rennen, und alles kam ihr neu und wunderbar vor.

 

»Dort den Herrn und die Dame.«

 

Sie nickte und lachte vergnügt.

 

»Sie glauben gar nicht, wie sehr ich mich freue. Es war zu liebenswürdig von Ihnen, daß Sie mich mitgenommen haben.« Sie lächelte ihn an. »Es ist alles so herrlich, und ich gehe auch so gern mit Ihnen. Sie sind so anders –«

 

»Darauf bilde ich mir auch etwas ein. Ich bin tatsächlich anders als die anderen.«

 

»Ich scherze aber nicht. Sie sind anders als alle meine früheren Chefs, für die ich gearbeitet habe.« In ihren großen Augen zeigte sich Bewunderung. »Sie sind immer so gut zu mir, und ich dachte doch früher, daß die Leute aus den Kolonien einen sehr rohen Charakter hätten.«

 

»Sie haben eben noch nicht den nötigen Überblick im Leben. Habe ich Sie nicht aus dem entsetzlichen Büro des Rechtsanwalts befreit, wo Sie fünfundzwanzig Schilling die Woche für Ihre harte Arbeit erhielten und die unglaublichsten Schriftsätze dafür herunterklappern mußten? Habe ich Sie nicht zur Privatsekretärin des berühmtesten Detektivs gemacht?« Er sah Tränen in ihren Augen und war erstaunt. »Aber was fehlt Ihnen denn, liebes Kind? Ich mache doch nur Spaß.«

 

»Ich dachte, Sie meinten es im Ernst. Aber, bitte, machen Sie sich nicht lustig über mich.«

 

»Soll sich einer bei den Frauen auskennen! Sie müssen doch immer daran denken, daß Sie der Juniorpartner des großen Detektivs Sands sind! Haltung, meine junge Dame!«

 

»Sollen wir uns vielleicht verkleiden und mit falschen Perücken und Bärten hier auf dem Rennplatz herumlaufen?« fragte sie vergnügt.

 

»Das haben wir im Augenblick nicht nötig» Aber wir wollen uns jetzt einmal wie durstige Rennbesucher benehmen und zum Teepavillon gehen.«

 

»Ja, das ist eine gute Idee.«

 

Zwei Jahre waren vergangen, seitdem Milton Sands ein ängstliches Mädchen vor den Angriffen einer wütenden Wirtin beschützt hatte. Milton hatte damals als Abenteurer ziemlich viel Pech und fast all sein Geld auf den Rennen in Ascot verloren. Früher bewohnte er eine Anzahl von Räumen im Imperial-Hotel, aber dann mußte er sich auf ein bescheidenes Zimmer in Pimlico beschränken, für das er die immer noch sehr hohe Miete von acht Schilling wöchentlich zahlte. Janet Symonds wohnte bei derselben Wirtin. Sie nahm damals Unterricht in Maschinenschreiben und Stenographie, war aber noch nicht weit in ihren Kenntnissen gekommen.

 

Sie bekam eine wöchentliche Unterstützung von zehn Schilling, die ihr der Testamentsvollstrecker ihrer Mutter auszahlte. Aber das reichte natürlich nicht für ihren Lebensunterhalt aus, und sie war daher in Rückstand mit ihrer Mietzahlung gekommen. Die Wirtin ging auf ihr Zimmer und schimpfte entsetzlich, und als der Skandal gerade seinen Höhepunkt erreichte, erschien Milton Sands auf der Bildfläche. Er machte der unerquicklichen Szene ein kurzes Ende, nahm die Wirtin beiseite und zahlte die rückständige Miete für Miss Symonds. Die Frau hütete sich nachher, Janet gegenüber auch nur die geringste unangenehme Bemerkung zu machen, da sie sich vor Mr. Sands fürchtete.

 

Von jenem Tag an datierte die Freundschaft der beiden. Milton kümmerte sich auch weiterhin um das Mädchen, sorgte dafür, daß sie in ein Heim für junge Damen aufgenommen wurde, und verschaffte ihr die Stellung bei dem »schrecklichen Rechtsanwalt«, der in Wirklichkeit gar nicht so schrecklich war. Aber es folgten schöne Tage für sie, als er wieder in der Lage war, seine Zimmer im Imperial-Hotel zu beziehen und ein Detektivbüro aufzumachen. Er hatte hübsche, vornehm ausgestattete Räume in der Regent Street mit grausamtenen Vorhängen und einem mauvefarbenen Teppich. Die modernen Möbel paßten vorzüglich dazu. Auch das kleine Büro seiner Sekretärin war elegant eingerichtet.

 

»Sie müssen mir nun aber auch bei der Auffindung von Mr. Stantons Schwester helfen«, sagte er, als sie an dem Abend zur Stadt zurückkehrten. »Ich habe so eine Ahnung, daß Sie gewisse Informationen leichter bekommen können als ich.«

 

»Ich werde alles tun, was in meinen Kräften steht«, entgegnete sie bereitwillig.

 

Kapitel 7

 

7

 

Es kamen nur wenig Leute in das Büro der Detektivagentur, denn Milton annoncierte nicht in den Zeitungen und setzte einem jungen Mann, der ihn zur Aufgabe einiger Anzeigen veranlassen wollte, seine Gründe dafür auseinander.

 

»Ich ziehe es vor, nicht an die Öffentlichkeit zu treten. Ich habe eine ausgesuchte Kundschaft, und die vornehmsten Herrschaften verkehren bei mir«, erklärte er.

 

Aber seine Worte schienen auf den Besucher wenig Eindruck zu machen.

 

»Dann haben Sie doch auch das nötige Geld, um ein paar Annoncen aufzugeben.«

 

»Werden Sie nicht unverschämt«, warnte ihn Milton. »Sonst muß ich Sie aus dem Fenster hinauswerfen, und Sie landen dann auf der Lichtreklame des Zahnarztes, hier unter mir seine Praxis ausübt.«

 

Er lachte, als der Annoncenreisende das Büro verließ.

 

»Wenn der wüßte, wie wir unsere Nachmittagsstunden hier zubringen«, sagte er und nahm einen Pack Spielkarten aus einer Schublade. »Was wollen wir spielen – Piquet oder Bezique?«

 

»Piquet«, antwortete Janet prompt und holte aus einer anderen Schublade eine Schachtel Pralinen hervor.

 

»Zehn Pfund für hundert Punkte«, schlug Milton vor.

 

»Nein, ein Schilling für tausend«, erklärte sie.

 

Aber sie wurden schon wieder unterbrochen, als sie kaum angefangen hatten zu spielen. Es klopfte leise an der Bürotür, und Milton raffte die Karten rasch zusammen, Janet hatte gerade noch Zeit genug, an ihre Maschine zu eilen. Sie schrieb mit rasender Geschwindigkeit, als Monsieur Soltescu hereintrat.

 

»Sind Sie Mr. Sands?« fragte er.

 

»Ja. Nehmen Sie bitte Platz, Monsieur Soltescu.«

 

»Woher kennen Sie mich denn? Sie haben mich doch noch nicht gesehen?« fragte der Rumäne lächelnd. Er fühlte sich sehr geschmeichelt.

 

»Ein Detektiv muß alle Leute kennen – wenigstens alle bedeutenden Leute«, erklärte Milton ernst. »Auf jeden Fall sind Sie mir bekannt. Ich habe Ihren Namen schon öfters gehört. In den Zeitungen wurde ja über die Waffenlieferungen nach den Philippinen berichtet, und wenn ich nicht irre, waren Sie auch einer der Geldgeber für die letzte Revolution in Südamerika. Waren Sie nicht auch in den Raub der Kronjuwelen verwickelt?«

 

Monsieur Soltescu lachte.

 

»Sie dürfen nicht allen bösen Gerüchten glauben. Die sind zum größten Teil frei erfunden. Tatsache ist nur, daß ich ein verhältnismäßig großes Vermögen besitze, das mir natürlich Neid und Mißgunst vieler Leute einträgt. Ich kümmere mich aber nicht weiter darum. Ich hätte viel zu tun, wenn ich alle Leute verklagen wollte, die verleumderisch über mich sprechen.«

 

Er nahm Milton gegenüber am Schreibtisch Platz.

 

»Ich habe Ihre Annonce im Matin vor etwa drei Wochen gelesen«, sagte Sands. »Deshalb habe ich mich mit Ihnen in Verbindung gesetzt. Ich bin erst seit kurzer Zeit Privatdetektiv, aber ich kenne die Verbrecherbanden, die in den Eisenbahnzügen nach der Riviera arbeiten.«

 

»Die kommen nicht in Frage«, unterbrach ihn Soltescu sofort. »Ich glaube, daß mir ein Gelegenheitsdieb die Mappe entwendet hat, und ich habe sogar einen ganz bestimmten Verdacht.«

 

Milton sah ihn durchdringend an.

 

»Das glaube ich auch«, entgegnete er ruhig. »Aber sagen Sie mir bitte, wen Sie verdächtigen.«

 

Soltescu zögerte.

 

»Ich weiß nicht, ob ich es Ihnen gleich sagen soll«, erwiderte er vorsichtig.

 

Milton lachte ironisch.

 

»Tun Sie nur, was Sie für gut halten. Sie brauchen mein Angebot ja auch nicht anzunehmen. Aber ich kann Ihnen nur sagen, daß es in England niemand gibt, der Ihnen mehr helfen könnte als ich.«

 

Die letzten Worte sagte er mit so viel Überzeugung, daß er Eindruck auf den Rumänen machte.

 

»Nun, wir können es ja einmal versuchen«, erklärte Soltescu nach einer kurzen Pause.

 

»Sie müssen mir natürlich erst alle Unterlagen geben«, entgegnete Milton kurz. »Erzählen Sie mir bitte genau, was Sie verloren haben, und warum Ihr Verdacht auf eine ganz bestimmte Persönlichkeit fällt. Zunächst beschreiben Sie mir einmal die Aktentasche.«

 

Er griff nach Bleistift und Papier, um die Angaben schriftlich festzuhalten.

 

»Sie war aus schwarzem, russischem Leder, etwa fünfzig auf fünfunddreißig Zentimeter groß und durchaus nicht auffällig. Sie hatte vier besondere Abteilungen, und als Kennzeichen möchte ich erwähnen, daß mein Monogramm auf der Klappe eingeprägt war.«

 

Milton machte sich schnell die nötigen Notizen.

 

»In der Mappe befanden sich nicht ganz vierzigtausend Pfund in englischen Banknoten und etwas französisches Papiergeld. Aber darauf kommt es mir weniger an. Von größtem Wert für mich sind dagegen die Schriftstücke, die darin lagen. Sie waren mit einer Klammer zusammengehalten und enthielten die Beschreibung einer hochwichtigen Erfindung, nämlich des biegsamen Glases. Ursprünglich steckten die sechs Schreibmaschinenbogen in einem Briefumschlag. Bei dem Zusammenstoß ließ ich die Mappe fallen. Eine junge Dame hat die Papiere aufgehoben.« Er sprach langsam und betonte jedes Wort. »Und diese Dame habe ich im Verdacht, daß sie mir die Mappe entwendet hat. Die näheren Gründe möchte ich Ihnen jetzt nicht mitteilen. Sobald sie mir den Briefumschlag zurückgegeben hatte, ging ich damit in mein Abteil zurück. Damals kam mir zum Bewußtsein, daß die Aufschrift auf dem Kuvert zu unliebsamen Weiterungen führen könnte. Ich nahm die Schriftstücke daher heraus und steckte sie ohne Hülle in meine Mappe.«

 

»Welche Aufschrift trug denn das Kuvert?«

 

Soltescu schüttelte den Kopf. Über diesen Punkt wollte er durchaus keine genaueren Angaben machen, denn es hätte seine Schwierigkeiten höchstens noch vergrößert, wenn er den Namen John President im Augenblick genannt hätte. Besonders da er jetzt wußte, daß John President tatsächlich noch lebte und daß diesem Mann die Papiere gestohlen worden sein mußten.

 

»Ich will Ihnen nur den Namen der Dame nennen. Es war Mary President, und ich habe allen Grund zu der Annahme, daß die Schriftstücke augenblicklich in ihrem Besitz sind.«

 

Milton Sands überlegte einen Augenblick.

 

»Ich glaube, daß Sie sich irren. Aber wenn Sie mir den Fall übertragen, werde ich sehen, was ich tun kann. Sie wünschen doch, daß ich den Dieb fasse?«

 

Soltescu lächelte.

 

»An der Bestrafung des Diebes habe ich weniger Interesse. Mir liegt vor allem an den Schriftstücken selbst.«

 

Milton Sands klopfte nachdenklich mit dem Bleistift auf die Schreibtischplatte.

 

»Ich habe mich mit der Sache bereits befaßt. Soweit ich weiß, befanden sich in dem Zug von Nizza nach Paris mehrere verdächtige Persönlichkeiten – Bud Kitson, Sir George Frodmere, Mr. Toady Wilton, außerdem Tom Sench, der australische Bankräuber, und Black Boyd, der New Yorker Betrüger. Ich könnte Ihnen noch einige mehr oder weniger obskure Individuen nennen.«

 

»Wie haben Sie denn das alles herausgebracht?« fragte Soltescu verblüfft.

 

Milton lächelte schlau, gab aber keine weitere Erklärung. Er hatte ja diese Leute selbst alle im Zug gesehen, hielt es jedoch nicht für klug, seinen Besucher darüber aufzuklären.

 

Der Rumäne erhob sich.

 

»Ihr Gesicht kommt mir merkwürdig bekannt vor«, sagte er plötzlich.

 

»Ich kann Ihnen auch den Grund dafür angeben. Vor zehn Jahren kam ich als ziemlich reicher junger Mann von Australien nach Nizza und spielte dort in einem Privatklub. Damals war ich im Besitz von vierzigtausend Pfund. Ich spielte die ganze Nacht mit einem sehr interessanten Rumänen und seinen Freunden, und als ich am Morgen den Klub verließ, hatte ich nur noch einige Franc in der Tasche.«

 

Soltescu sah Milton Sands genauer an, dann lachte er. laut auf.

 

»Ganz recht, jetzt besinne ich mich auf Sie. Ich kann mich deutlich erinnern. Sie haben damals so entsetzlich mit Ihrem Geld renommiert. Aber das eine kann ich Ihnen sagen: Das Spiel war absolut fair.«

 

»Ich habe auch nicht das Gegenteil behauptet«, erwiderte Milton, als er seinen Besucher zum Fahrstuhl geleitete.

 

»Nun, das wäre wenigstens ein Auftrag mehr«, meinte er ein paar Minuten später, als er wieder ins Büro zurückkam. »Wenn ich die Formel auch nicht finden werde, so kann ich doch meine Tätigkeit genügend hoch berechnen.«

 

Kapitel 8

 

8

 

»Höchst sonderbar«, erklärte Milton und sah von der Zeitung auf, in der er gelesen hatte.

 

Janet saß an einem kleinen Tisch hinter ihm und klebte Zeitungsausschnitte in ein Buch ein.

 

»Was meinen Sie denn?«

 

Er hatte an diesem Tage schon eine andere merkwürdige Entdeckung gemacht. Das Bild eines Verbrechers, der von Portland ausgebrochen war, hatte nämlich eine verblüffende Ähnlichkeit mit Bud Kitson.

 

»Also hören Sie zu«, sagte er und las Janet vor:

 

»Unter den Besuchern des Gestütes von Alvarez sah man in der letzten Woche auch Sir George Frodmere, den berühmten englischen Sportsmann. Wie wir erfahren, hat er verschiedene Rennpferde gekauft, unter anderem auch El Rey. Unsere Leser werden sich sicher noch an den Sieg erinnern, den dieses Pferd bei den großen Rennen in Rio während der letzten Saison errang. Über die Höhe des Preises hat man nichts Näheres erfahren, aber man nimmt an, daß eine sehr hohe Summe bezahlt worden ist. Sir George Frodmere kaufte El Rey im Auftrag eines bekannten rumänischen Sportsmannes. Das Pferd wird sofort nach Europa gesandt und soll in ein Gestüt in der Nähe von Bukarest übergeführt werden.«

 

Er las den Abschnitt langsam vor, weil er ihn aus dem Spanischen ins Englische übersetzen mußte.

 

»Das ist wirklich sehr merkwürdig«, meinte er und schüttelte den Kopf. »Frodmere muß sofort von London nach Brasilien gefahren sein. Ich vermute, daß er sich jetzt bereits wieder auf dem Rückweg befindet. Der Rumäne ist natürlich niemand anders als Soltescu.«

 

Auf Miltons Schreibtisch stand eine stattliche Reihe kleiner, dicker Bände. Er nahm einen zur Hand, der von dem Rennwesen in Südamerika handelte, und schlug im Inhaltsverzeichnis nach.

 

»Sehen Sie, hier steht es. El Rey, von Diamant aus Monata, ein dreijähriger Hengst. Das heißt also, daß das Pferd jetzt vier Jahre alt ist«, fügte er hinzu, nachdem er nach der Jahreszahl auf der Titelseite gesehen hatte. »Hat acht Rennen mitgemacht, von denen es sechs als erster gewann. Ich möchte nur wissen, was Soltescu wieder im Schilde führt, wenn er dieses Pferd kauft. Es hat doch keinen Sinn, El Rey von der Rennbahn zurückzuziehen und in ein Gestüt zu schicken. Ich glaube auch gar nicht einmal, daß er ein großes Gestüt besitzt.«

 

Er schloß das Buch und stellte es wieder zu den anderen Bänden. Den ganzen Vormittag blieb er sehr nachdenklich und blätterte viel in anderen Sportbüchern. Er hatte die Nachricht in einem kleinen brasilianischen Blatt gelesen. Es erschien in einer Stadt, in deren Nähe das Alvarez-Gestüt lag.

 

Am Nachmittag erkundigte sich Milton bei den verschiedenen Agenturen brasilianischer Zeitungen, konnte jedoch keine weiteren Nachrichten über diesen merkwürdigen Kauf erhalten.

 

In einer führenden Tageszeitung von Rio fand er nur die Bemerkung, daß Sir George Brasilien einen kurzen Besuch abgestattet hätte und mit dem nächsten Dampfer wieder nach England zurückkehren würde.

 

»Dieser Tage muß er ankommen«, erklärte er, als er wieder in sein Büro kam. Er nahm den Hörer vom Telefon und ließ sich mit der La Plata-Dampfschiffahrtsgesellschaft verbinden. »Können Sie mir sagen, wann Ihr nächster Dampfer England erreicht? – Am Dienstagmorgen?« Er war schon im Begriff, wieder aufzulegen, als ihm noch etwas einfiel. »Ach, sagen Sie mir bitte, ist Sir George Frodmere an Bord dieses Dampfers?«

 

»Sir George benützt diese Linie nicht«, erklärte er, als er den Hörer zurücklegte. »Aber sie transportieren einige Pferde für ihn, darunter sicher El Rey. Der Dampfer kommt am Dienstag in Tilbury an. Das trifft sich gut, denn ich habe gerade auch in der Nähe zu tun, allerdings schon am Tag vorher.«

 

»Das ist Ihnen wohl eben erst eingefallen?« fragte Janet lächelnd.

 

»Nein, das hängt mit meiner Tätigkeit für Eric Stanton zusammen. Ich habe in der Beziehung ein ziemlich schlechtes Gewissen. Dauernd nehme ich, seine Bezahlung an und habe noch nicht den mindesten Erfolg aufzuweisen. Bedenken Sie, daß ich ja gar nicht ernstlich die Absicht hatte, ein Detektivbüro zu eröffnen.«

 

Sie sah ihn an und runzelte leicht die Stirn.

 

»Wie meinen Sie denn das?« fragte sie langsam. »Wissen Sie, daß ich mir schon längst Gewissensbisse mache? Am Ende haben Sie dieses Büro, nur aufgemacht, damit ich eine angenehme Stellung finde?«

 

Er schüttete lachend den Kopf.

 

»Nein, da sind Sie doch zu argwöhnisch. Aber das schlimmste an Stantons Auftrag ist, daß ich nicht einmal eine Fotografie von der jungen Dame, die er sucht, zur Verfügung habe. Ich besitze kaum einen Anhaltspunkt und muß warten, bis ein Wunder geschieht. Und dafür bekomme ich zwölf Pfund wöchentlich von dem Mann.«

 

»Gibt es denn gar keine Möglichkeit, sich einige Anhaltspunkte zu verschaffen?«

 

»Das könnte man vielleicht. Bis jetzt habe ich nur herausgebracht, daß gleichzeitig mit Stantons Mutter auch eine alte Dienerin aus dem Hause verschwand. Sie hat wahrscheinlich die Frau und das Kind begleitet. Nun ist es mir vor kurzem gelungen, eine Verwandte dieser Dienerin aufzufinden, und ich hoffe, daß ich dadurch die Frau selbstausfindig machen kann. Und dann lassen sich ja schließlich weitere Schritte unternehmen. Aber ich habe jetzt auch andere Dinge zu tun. Vor allem muß ich herausbekommen, warum Sir George Frodmere ein Rennpferd für Soltescu gekauft hat. Soweit ich bisher feststellen konnte, besitzt der Mann überhaupt kein Gestüt. Ich habe mich auch bei verschiedenen Rumänen erkundigt, die hier in London leben, und niemand weiß etwas davon.«

 

»Außerdem haben Sie aber noch einen großen Auftrag, den Sie hoffentlich nicht vergessen werden.«

 

»Ach, meinen Sie, daß ich Soltescus Schriftstücke über den Herstellungsprozeß des biegsamen Glases wiederfinden soll? Daran denke ich unausgesetzt. Ich habe doch wirklich Glück, daß ich drei so bedeutende Fälle zu bearbeiten habe. Es sollte mich nicht wundern, wenn ich sie eines Tages alle drei zugleich lösen würde. Ja, ich muß wirklich sagen, daß ich großes Glück habe.« Er lächelte verschmitzt. »Jetzt können Sie mit mir Tee trinken, bevor Sie nach Hause gehen.«

 

Sie erhob sich und zog ihren Mantel an.

 

»Helfen Sie mir nicht, das ist nicht nötig.«

 

»Es tut mir leid, daß ich nicht sofort zur Stelle war«, entschuldigte er sich und stand schnell auf. »Ich werde in letzter Zeit tatsächlich nachlässig.«

 

»Sie denken zuviel nach.«

 

»Worüber denn?«

 

»Über Miss President«, erwiderte sie kühl.

 

Er schaute sie erstaunt an und lächelte dann wieder.

 

»Wieso über Miss President?« fragte er, als ob er nicht recht verstanden hätte.

 

»Sie haben in der letzten Zeit verschiedene Briefe von ihr oder über sie erhalten.«

 

Der Ton, in dem sie das sagte, behagte ihm durchaus nicht, wenn sie auch nur eine Tatsache festgestellt hatte.

 

»Ich mache Ihnen ja nicht den geringsten Vorwurf deswegen«, sagte sie und lächelte seltsam. »Sie ist sehr schön und anziehend. Aber Sie sollten sich deshalb nicht in der Arbeit stören lassen.«

 

»Aber um Himmels willen! Eric Stanton hat mir doch diese Briefe geschrieben! Außerdem beschäftige ich mich gar nicht viel mit ihr.«

 

»Das glauben Sie«, erwiderte sie und schüttelte den Kopf. »Aber ich weiß ganz genau, daß Sie die ganze Zeit nur an sie denken, und zwar so intensiv, daß ich direkt Ihre Gedanken fühle.«

 

»Da täuschen Sie sich aber gewaltig. Ich denke dauernd an jemand anders«, entgegnete er ruhig. »Und wenn mir überhaupt während der Bürostunden eine Frau in den Sinn kommt, dann ist es nicht Miss President.«

 

»Es wäre doch besser, Sie würden sich nicht selbst etwas vormachen«, sagte sie mit erstaunlicher Sicherheit.

 

»Aber Sie hören doch –«, begann er.

 

»Sie brauchen nicht so laut zu sprechen – ich will doch nur Ihr Bestes. Sie waren sehr liebenswürdig zu mir, Mr. Sands, und ich bin Ihnen dafür zu großem Dank verpflichtet. Das erkenne ich voll und ganz an.«

 

»Sie wollen mir doch nicht etwa jetzt ein Geschenk überreichen?« fragte er etwas spöttisch.

 

»Bitte, werden Sie nicht ironisch«, entgegnete sie und wurde rot. »Es ist häßlich von Ihnen, daß Sie mich so behandeln, Mr. Sands. Ich gehe nach Hause.«

 

»Sie trinken jetzt mit mir Tee.«

 

»Ich sage Ihnen, daß ich nach Hause gehe«, erklärte sie bestimmt.

 

»Aber erst, nachdem Sie Tee mit mir getrunken haben«, bestand er. »Nachher können Sie nach Hause gehen, aber bis sechs Uhr haben Sie Bürozeit. Und bis dahin ist noch eine halbe Stunde.«

 

»Dann bleibe ich solange hier im Büro.«

 

Sie zog ihren Mantel wieder aus.

 

»Sie sind wirklich eine schwer zu behandelnde junge Dame.« Er seufzte. »So etwas ist mir doch noch nicht vorgekommen, Janet.«

 

»Bitte, nennen Sie mich nicht bei meinem Vornamen«, erwiderte sie schnippisch und setzte sich an ihre Maschine.

 

Er nahm an seinem Schreibtisch Platz, und sie schwiegen beide einige Minuten.

 

»Sie sind eifersüchtig auf Mary President!« wandte er sich dann plötzlich an sie.

 

Sie fuhr in ihrem Drehstuhl herum und warf ihm einen wütenden Bück zu.

 

»Wie dürfen Sie das sagen?« rief sie hitzig.

 

»Ich bin ein Detektiv«, erwiderte er in scherzhaftem Ton. »Und Detektive können sich alles gestatten, vorausgesetzt, daß man sie für ihre Mühe gut bezahlt.«

 

»Sie wissen sehr wohl, daß ich nicht auf Mary President eifersüchtig bin. Weshalb sollte ich denn auch eifersüchtig sein? Sie können doch so viele Freundinnen haben, wie Sie wollen.«

 

»Da haben Sie allerdings recht. Aber in diesem besonderen Fall glaube ich, daß Sie Mary President nicht leiden können.«

 

»Nein, da irren Sie sehr. Sie denken, daß ich so kleinlich bin, um Ihretwillen eifersüchtig zu werden. Nein, Sie bilden sich zuviel ein. Ich interessiere mich absolut nicht für Ihre Herzensangelegenheiten.«

 

»Das kann nicht ganz stimmen, denn –«, begann er.

 

»Wenn es Ihnen recht ist, gehe ich jetzt nach Hause«, unterbrach sie ihn.

 

Sie erhob sich, aber diesmal war er rechtzeitig zur Stelle, nahm ihren Mantel aus dem Kleiderschrank und half ihr beim Anziehen. Sie mußte seine Dienste wohl oder übel annehmen.

 

Einen Augenblick blieb sie an der Tür stehen.

 

»Darf ich Sie bitten, mir morgen freizugeben? Ich möchte mir eine andere Stelle suchen.«

 

»In diesem Fall werde ich Sie sofort gerichtlich belangen, weil Sie mir nicht rechtzeitig gekündigt haben.« Er zwinkerte ihr freundlich zu. »Sie benehmen sich übrigens sehr undankbar mir gegenüber. Wenn Sie bedenken, daß ich –«

 

»Nun, was wollen Sie denn sagen? Sprechen Sie sich nur ruhig aus.«

 

»Ich wollte sagen, daß ich Sie liebe«, erklärte er frei und offen. »Ich denke nur an Sie, und ich möchte Sie glücklich und unabhängig machen. So, nun wissen Sie es.«

 

Sie stand etwas blaß und verwirrt an der Tür – ihre Augen glänzten. Langsam ging sie auf ihn zu und legte ihre Hände auf seine Schultern.

 

»Ich komme mit zum Tee«, sagte sie leise.

 

Dann lag sie in seinen Armen, und er küßte sie.

 

Als sie aus dem Haus traten, kam ihnen der Telegrafenbote entgegen und reichte Milton ein braungelbes Formular.

 

Er öffnete es, sah es durch und gab es Janet.

 

»Deine schlimmsten Befürchtungen erfüllen sich.«

 

Sie las:

 

Bitte besuchen Sie mich am Mittwoch in meiner Stadtwohnung. Mr. Eric Stanton hat mir geraten, daß ich mich an Sie wenden soll,

 

Mary President.

 

Sie schaute ihn lächelnd an.

 

»Das hat jetzt nichts mehr zu sagen«, erklärte sie sanft. »Ich war eifersüchtig … ich muß es eingestehen, aber jetzt bin ich es nicht mehr, Milton …«

 

»Nenne mich lieber Bill, Milton ist ein so schrecklicher Name.«

 

Kapitel 21

 

21

 

Östlich von Reading liegt ein uninteressanter, eintöniger Landstrich, der an die Themse grenzt. Es sind fast ausschließlich niedrig liegende Wiesen, die stets überschwemmt werden, wenn der Fluß aus den Ufern tritt. Seit langer Zeit hatte das Hausboot keine Fahrt mehr auf dem Strom unternommen, weil man allgemein der Ansicht war, daß ein derartiger Ausflug wahrscheinlich seinen Untergang bedeuten würde.

 

Janet Symonds wußte nicht, warum das Auto, in dem sie fuhr, in der Nähe von Reading von der Straße abbog und über einen holperigen Feldweg dem Ufer zusteuerte. Es war ihr klar, daß sie eine Gefangene war. Buncher hatte sie das fühlen lassen, als er bei einer Tankstelle halten mußte.

 

»Sie haben vor allem den Mund zu halten und ruhig zu sein«, sägte er drohend. »Ich habe den Auftrag bekommen, Sie zu Mr. Milton Sands zu bringen. Wenn Sie das nicht glauben wollen, dann lassen Sie es bleiben. Aber ich dulde unter keinen Umständen, daß Sie mir Scherereien machen.«

 

Als der Wagen am Ufer hielt, zog er sie aus dem Auto. Sie trat einen Schritt zurück, als sie das Hausboot sah, aber Bud Kitson und seine Frau waren sofort zur Stelle und redeten auf sie ein.

 

Sie führten Janet in den großen, geräumigen Salon, der hellerleuchtet und schön möbliert war.

 

»Wo ist denn Mr. Sands?« fragte sie.

 

Sie klammerte sich noch immer an diese Illusion.

 

»Sie müssen noch etwas warten«, entgegnete Kitson unfreundlich. »Nicht nur Sie wollen Mr. Sands sprechen. Ich will ihn mir auch kaufen. Er ist daran schuld, daß ich ins Kittchen gekommen bin. Drei Tage habe ich im Portland-Gefängnis gesessen, bis man herausfand, daß Mr. Sands mir nur einen Streich gespielt hatte. Glauben Sie mir, ich habe ebenso dringend den Wunsch, ihn zu sehen, wie Sie. Aber das hat noch Zeit.«

 

»Wer hat mich denn hierhergebracht?« fragte sie schwach.

 

»Sie sind aus einem guten Grund hierhergekommen. Wenn Sie vernünftig sind, können Sie das Boot sehr schnell wieder verlassen«, sagte die Frau. »Es gehört einem Herrn, der sich in Sie verliebt hat. Warum er sich soviel Umstände mit einer gewöhnlichen Stenotypistin macht, verstehe ich allerdings nicht«, fügte sie geringschätzig hinzu. »Es wäre besser, wenn Sie jetzt in Ihre Kabine gingen.«

 

Sie begleitete sie in einen Raum, der halb so groß war. wie der Salon. Auch dieses Zimmer war neu ausgestattet und für ihren Empfang vorbereitet.

 

Die Tür wurde hinter ihr verschlossen. Das einzige Fenster der Kabine lag nach dem Ufer zu, und sie sah sofort, daß ein dunkler Streifen Wasser sie vom Lande trennte. Sie hätte wohl die Aufmerksamkeit der Leute erregen können, die zufällig am Ufer vorbeigingen, aber sie wußte instinktiv, daß ein solches Verhalten gefährlich sein würde.

 

Es blieb ihr nichts anderes übrig, als geduldig und ruhig die Entwicklung der Dinge abzuwarten. Erst gegen Mitternacht hörte sie, daß ein Auto sich dem Ufer näherte. Als der Wagen hielt, sprachen mehrere Männer leise miteinander. Sie sah einen großen Herrn über die Landungsbrücke an Bord gehen. Kurz darauf klopfte es an ihre Tür, und eine Frau, fragte, ob sie wach sei. Janet hatte sich nicht ausgezogen und folgte der Frau, die hier anscheinend als Dienstmädchen angestellt war, nach dem großen Salon.

 

Sie erkannte den Mann, der am Ende des langen Tisches stand, obwohl sie ihn bisher nur einmal gesehen hatte. Sir George Frodmere konnte man auch nicht leicht verkennen. Er verneigte sich vor ihr, und auf seinen Wink verließen die beiden anderen Herren, die zugegen waren, den Raum.

 

»Warum haben Sie mich hierhergebracht?« fragte sie ruhig und gefaßt.

 

Er sah sie nachdenklich an. Sie war tatsächlich schöner, als er erwartet hatte.

 

»Meine verehrte junge Dame«, begann er liebenswürdig, »ich bedaure unendlich, daß ich Sie hierherbringen mußte. Aber Sie sind jung und vielleicht romantisch veranlagt, und so hoffe ich, daß Sie meine Lage begreifen werden. Ich hoffe sogar, daß Sie die nötige Sympathie für mich haben, um mir zu helfen.«

 

Sie schwieg. Es hatte ja keinen Zweck, seine Erklärung zu unterbrechen. Und sie mußte vor allem erfahren, was er beabsichtigte.

 

»Wollen Sie nicht Platz nehmen?« sagte er verbindlich.

 

»Nein, danke, ich möchte lieber stehen.«

 

»Dann muß ich auch stehenbleiben«, entgegnete er lächelnd. »Nun, das ist ja auch nicht so wichtig. Wahrscheinlich wissen Sie, wer ich bin?«

 

»Ja.«

 

»Und Sie sind sicher auch über meine Familie orientiert?«

 

Er schaute sie fragend an, aber sie schüttelte den Kopf.

 

»Außer Ihrem Namen weiß ich nichts von Ihnen, Sir George.«

 

»Dann wissen Sie also nicht, daß ich der Erbe eines großen Vermögens bin, und zwar einer halben Million Pfund. An die Erbschaft ist aber die Bedingung geknüpft, daß ich bis zu einem gewissen Alter verheiratet sein muß. Bis jetzt habe ich es nicht für nötig gefunden, mich mit einer Frau zu belasten. Das klingt sehr unhöflich, aber Sie werden wahrscheinlich verstehen, was ich meine.«

 

Sie nickte. Sie hatte genug von Sir Georges Privatleben gehört, um die Bedeutung seiner Worte zu erfassen.

 

»Übermorgen werde ich nun achtunddreißig Jahre alt, und bis dahin muß ich verheiratet sein? Erst jetzt ist mir zum Bewußtsein gekommen, in welcher kritischen Lage ich mich befinde. Ich bin nicht im mindesten darauf vorbereitet gewesen, denn erst gestern haben mich meine Rechtsanwälte wieder an die Notwendigkeit erinnert, daß ich mich sofort verheiraten muß. Deshalb bin ich gezwungen, schnell eine Wahl zu treffen. Aber ich hoffe, daß sie glücklich ist, denn sie ist auf Sie gefallen.«

 

»Mich wollen Sie heiraten?«

 

»Ja. Ich weiß, daß Sie sehr hart zu kämpfen hatten … Und ich schätze und verehre Sie ganz besonders. Sie besitzen alle Eigenschaften, die mich glücklich machen könnten.«

 

Trotz der sonderbaren Situation mußte sie lachen.

 

»Aber das ist doch einfach unmöglich, Sir George! Ich kann Sie doch nicht so ohne weiteres heiraten.«

 

»Ich glaube, daß Sie die Möglichkeiten unterschätzen, die sich Ihnen durch meine Wahl bieten. Ich brauche eine Frau, die ich sofort nach der Trauung wieder verlassen kann.«

 

Er schaute sie durchdringend an, aber seine Worte schienen keinen Eindruck auf sie zu machen.

 

»Ich sage Ihnen, ich brauche eine Frau, von der ich mich direkt nach der Trauung wieder trennen kann«, wiederholte er mit besonderem Nachdruck. »Ich bin bereit, Ihnen als Hochzeitsgeschenk die Summe von hunderttausend Pfund zu überreichen.«

 

»Aber es gibt doch Hunderte von jungen Mädchen, die nur zu gern Ihren Vorschlag annehmen würden, Sir George«, entgegnete sie bestürzt und verwundert.

 

Er sah, daß sie errötete, und wußte, daß sie jetzt an Milton Sands dachte.

 

»Ja, es gibt Hunderte von jungen Mädchen«, wiederholte er, »aber es ist keine unter ihnen, die mir zusagt, keine, der ich trauen könnte. In Ihnen habe ich die Frau mit all den Eigenschaften gefunden, die ich schätze. Und ich wiederhole Ihnen in aller Form, daß Sie mich nach der Trauung sofort wieder verlassen können. Vorher überreiche ich Ihnen einen Scheck über hunderttausend Pfund.«

 

»Sie scheinen zu vergessen, Sir George, daß ich seit einigen Monaten mit Mr. Sands zusammenarbeite.«

 

»Ich wüßte nicht, was das zu sagen hätte.«

 

»Nun, dann will ich es Ihnen klarmachen. Mr. Sands hat mich in der letzten Zeit über vieles aufgeklärt, damit ich ihm beruflich helfen kann, und ich habe viele Dinge erfahren, von denen ich früher keine Ahnung hatte. Ich halte Ihr ganzes Benehmen mir gegenüber nur für ein Betrugsmanöver. Was Sie mir da eben erzählten, unterscheidet sich nicht wesentlich von den Geschichten, die andere berüchtigte Betrüger in solchen Fällen vorbringen.«

 

Der Baronet wurde dunkelrot vor Zorn, denn ihre Worte hatten ihn schwer getroffen.

 

»Wollen Sie mir denn nicht glauben, Miss Symonds?«

 

»Offen gestanden, nein.«

 

»Nun, Sie werden mir schon glauben müssen. Innerhalb zweier Tage heiraten Sie mich. Ich habe mir schon eine besondere Genehmigung besorgt.«

 

»Trotz alledem glaube ich es nicht«, entgegnete sie fest.

 

»Sie verlassen sich darauf, daß Milton Sands Ihnen zu Hilfe kommt und Sie aus dieser Situation befreit«, erwiderte er mit einem boshaften Lächeln. »An Ihrer Stelle würde ich mich nicht so sehr auf ihn verlassen. Sie können aber mir und auch Ihren Freunden einen guten Dienst erweisen, wenn Sie auf meinen Vorschlag eingehen. Ich gebe Ihnen die Versicherung, daß Ihre Heirat mit mir auch Mr. Sands einen großen pekuniären Vorteil bringen wird.«

 

»Ich möchte mich nicht weiter mit Ihnen über diese Sache unterhalten. Sie können eine Frau doch nicht gegen ihren Willen heiraten!«

 

Mit diesen Worten wandte sie sich um und ging in ihre Kabine zurück.

 

Sir George machte keine Anstrengungen mehr, mit ihr zu sprechen, aber eine Stunde später klopfte Mrs. Kitson an ihre Tür und brachte ihr ein Tablett mit Speisen.

 

»Sie brauchen sich nicht zu fürchten. Etwas müssen Sie ja schließlich essen.«

 

Janet hatte bis dahin alles abgelehnt, aber jetzt fühlte sie großen Hunger. Die Mahlzeit war ausgezeichnet zubereitet. Es stand auch eine kleine Porzellankanne mit Schokolade dabei, und gerade starke Schokolade eignet sich hervorragend dazu, den Geschmack von Morphiumpräparaten zu überdecken.

 

Janet fiel in einen schweren, traumlosen Schlaf, hatte aber trotzdem ein quälendes Gefühl. Schließlich tanzte ein großes, helles Licht vor ihren Augen. Sie versuchte, es mit der Hand abzublenden. Dabei kam ihr plötzlich zum Bewußtsein, daß sie etwas am Finger hatte, das früher nicht dort gewesen war. Langsam kam sie zu sich und starrte auf den schmalen, goldenen Ring an dem vierten Finger ihrer rechten Hand. Sie sah sich verwundert und verstört um und entdeckte, daß sie sich zusammen mit mehreren Menschen im Salon befand. Sir George war zugegen und schaute sie merkwürdig an. Neben ihm standen Kitson und seine Frau, und außer ihnen bemerkte sie noch einen verhältnismäßig schlanken Mann von mittlerer Größe. Er hatte weiße Haare und trug die Kleidung eines Geistlichen.

 

»Was hat das zu bedeuten?« fragte sie atemlos vor Entsetzen.

 

»Fühlen Sie sich nicht wohl, Lady Frodmere?« fragte der Mann im schwarzen Talar.

 

»Lady Frodmere?« wiederholte sie dumpf.

 

»Sie sind jetzt Lady Frodmere, meine Frau«, erklärte Sir George.

 

»Aber ich habe Sie doch nicht geheiratet!«

 

Der Geistliche lächelte.

 

»Ich sehe, daß Sie noch etwas verwirrt sind, Mylady. Ich habe Sie selbst mit George Frodmere getraut, und Sie waren bei vollem Bewußtsein.«

 

»Aber das ist doch unmöglich!« rief sie. »Sie konnten mich doch nicht trauen. Ich habe nicht geantwortet!«

 

Der Geistliche schüttelte den Kopf.

 

»Sie haben alle Fragen richtig beantwortet, die ich an Sie stellte. Für gewöhnlich nehme ich ja Trauungen nicht gerade um Mitternacht vor, aber ich kann Ihnen die Versicherung geben, daß Sie jetzt Lady Frodmere sind.«

 

Sie sank in den Stuhl zurück und zitterte am ganzen Körper. Es war ein entsetzlicher Gedanke. Was hatten die Leute nur mit ihr gemacht? Ihre Vernunft sagte ihr, daß etwas nicht stimmen konnte. Aber der Geistliche stand doch vor ihr, und auf dem Tisch lag ein Dokument – eine Trauungsurkunde! Sie sprang auf und schaute sie an. Schwarz auf weiß stand ihre eigene Unterschrift darunter. Das war zuviel für sie. Mit einem Schrei floh sie den Gang entlang in ihre Kabine, schlug die Tür hinter sich zu und türmte alle Möbelstücke dagegen auf, die sie in dem Raum finden konnte.

 

»Also, die Sache wäre erledigt«, sagte Sir George im Salon.

 

»Kann ich die Nacht über hier an Bord bleiben?« fragte der Geistliche.

 

»Ich würde Ihnen den guten Rat geben, fortzugehen, Pentridge«, erwiderte Sir George. »Ihre Anwesenheit könnte auffallen.«

 

Der angebliche Geistliche zog seinen Talar aus und legte den weißen Kragen ab.

 

»Ich kann dieses Zeug nicht leiden. Es hat furchtbar eingeschnitten. Nun, wie habe ich die Trauung vollzogen?« fragte er lachend.

 

»Großartig haben Sie Ihre Sache gemacht«, entgegnete der Baronet und klopfte ihm befriedigt auf die Schulter. »An Ihnen ist direkt ein Schauspieler verlorengegangen, Penty. Haben Sie das Geld dabei?«

 

»Ja, ich habe es bei mir. Hier sind zweitausend Pfund. Das ist allerdings eine ziemlich hohe Anleihe für jemand, der erledigt ist.«

 

»Aber ich leihe es doch nur für ein paar Tage von Ihnen, Mr. Pentridge«, sagte Sir George lächelnd, als er die Scheine nahm und sie in seine Brieftasche legte. »Wir werden ja bald beweisen können, daß Sands gelogen hat, und dann schwimme ich in Geld.«

 

»Hoffentlich gelingt Ihnen das. Und wenn Sie keinen Erfolg haben sollten –«

 

»In diesem Fall werde ich durch meine Heirat ein Vermögen in die Hand bekommen. Für den Dienst, den Sie mir erwiesen haben, sollen Sie einen reichlichen Anteil erhalten. Übrigens sind die Papiere wiedergefunden worden, die Sie an Soltescu verkauft haben.«

 

Pentridge sah ihn schnell an.

 

»Hat er die Sache aufgegeben?«

 

»Wen meinen Sie denn?« fragte Sir George überrascht.

 

»Natürlich Milton Sands. War es Ihnen denn nicht von Anfang an klar, daß er sich die Papiere angeeignet hatte?«

 

»Milton Sands!« wiederholte Sir George ungläubig.

 

»Ja!« Bud Kitson schlug mit der Faust auf den Tisch. »Das stimmt. Kein anderer konnte sie genommen haben. Mir ist jetzt alles klar. Er fuhr in demselben Zug wie wir nach Paris. In Monte Carlo hatte er sein ganzes Geld verspielt und mußte nun irgend etwas beginnen. Toady Wilton sah doch, wie er das Kasino verließ, und sprach mit ihm. Dann kommt er nach London zurück und hat plötzlich genügend Geld, um ein Detektivbüro in der Regent Street zu eröffnen –«

 

»Aber dann möchte ich nur wissen, warum er überhaupt ein Detektivbüro aufgemacht hat!« sagte Sir George.

 

»Das war doch die einzige Möglichkeit, sich die Belohnung für die Wiederbeschaffung der Papiere zu sichern, ohne Argwohn und Verdacht zu erregen. Die Sache ist vollkommen klar und durchsichtig!«

 

»Also so verhält es sich«, meinte Sir George und nickte. »Dann hätte ich ja eventuell noch eine Chance, mich mit Milton Sands zu vergleichen. Aber nach alledem wird es wohl sehr schwer sein.«

 

»Ich habe auch noch ein Hühnchen mit ihm zu rupfen!« rief Kitson wild. »Ich lasse mich nicht umsonst nach Portland ins Gefängnis schleppen!«

 

Sir George sah den wütenden Mann nachdenklich von der Seite an. Wahrscheinlich konnte er ihn noch bei der Durchführung seiner Pläne brauchen, bevor er ihn ganz fallenließ.

 

Er verabschiedete sich von Pentridge, der zur Stadt zurückkehrte.

 

»Ist das Fenster gesichert? Sie kann doch hoffentlich nicht durch das Kabinenfenster entkommen?«

 

»Nein, das ist, unmöglich«, entgegnete Bud. »Ich habe Eisenstangen daran befestigt.«

 

»Gut«, erwiderte Sir George befriedigt.