3. Kapitel
Vergrabene Schätze
Anthony Newton öffnete das Fenster seines Wohnzimmers und schaute mit kritischen Blicken über die Kamine und großen Dächer von Bloomsbury.
Es war ein sonniger Tag, und selbst die rauchgeschwärzten und hageren Schornsteine haben in dem goldenen Sonnenlicht eines frühen Sommermorgens ihre eigene Poesie, besonders für einen jungen Mann, der von sich und seinen Fähigkeiten überzeugt ist.
Bill Farrel war bei ihm. Er hatte eben eine große Portion Ham and Eggs verzehrt, saß nun mit seiner kurzen Pfeife am Tisch und war mit sich und der ganzen Welt zufrieden.
»Betrachte dir das einmal!« sagte Anthony und wies mit einer Handbewegung auf eine Anzahl Bilder, die er aus Zeitschriften ausgeschnitten und an die Wand geheftet hatte.
Er ging quer durch den Raum zu der Stelle, wo diese Bildergalerie die sonst einheitliche Einrichtung seines Zimmers unterbrach, und zeigte mit seinem Finger auf die einzelnen Porträts, während er die Namen der Persönlichkeiten nannte und einiges von ihnen erzählte.
»Dies ist William O. McNeal –. sein richtiger Name ist Adolf Bernstein – der Fleischkönig. Hier Harry V. Teckle, der Stahlkönig, hier Theodore Match, der Schiffskönig; dann kommt Montague G. Flake, der den Nahrungsmittelmarkt beherrscht – hier dieser mit der merkwürdigen Nase ist Michael O. Blogg, der Marmeladenkönig.« Und so erklärte er ein Bild nach dem anderen. »Mache deine Reverenz vor den Majestäten, Bill, sie werden uns reich machen.«
»Wie meinst du denn das?«
»Sie sind unsere Zuflucht«, erwiderte Anthony ruhig, »unsere Stützen; gewissermaßen das Geld, das wir von zu Hause bekommen!«
»Willst du damit sagen, daß sie deine Verwandten sind?« fragte Bill ehrfurchtsvoll.
»Um Gottes willen! Nun setze dich einmal hin. Ich will dir den allgemeinen Schlachtenplan und die große Idee erklären, die der Sache zugrunde liegen.«
Eine Stunde lang sprach er auf den anderen ein, und Bill verstand allmählich.
»Und nun werden wir in das kleine Büro gehen, das ich in der Theobald’s Road gemietet habe«, sagte Anthony und erhob sich.
Auf einem Glasschild stand die Aufschrift:
NEWTONS DETEKTIV-AGENTUR
Aus einer Schublade seines Schreibtisches nahm Anthony einen großen Karton, auf dem eine ähnliche Aufschrift stand.
»Draußen an der Tür findest du zwei Nägel. Es ist nun deine Pflicht, jeden Morgen das Schild draußen anzuhängen und es abends wieder hereinzuholen, vorausgesetzt, daß die Jungen von Bloomsbury es nicht inzwischen weggenommen haben.«
*
Als Bill zurückkam, las sein Freund gerade einen Zeitungsausschnitt.
»Also, nun höre einmal zu. Dies ist der Bericht einer Auktion bei Floretti: ›Ein kleiner Kasten mit verschiedenen Manuskripten wurde von Mr. Montague Flake für einhundertzwanzig Pfund erworben. Der Kasten ist aus geschnitztem, spanischem Mahagoniholz‹ usw. usw. – ich will dich nicht länger mit den Einzelheiten aufhalten. Die Hauptsache ist, daß Mr. Flake ein großer Sammler von alten Manuskripten und nebenbei bemerkt ein gemeiner Kerl ist.«
Aus einem anderen Notizbuch nahm er noch einen kleinen Ausschnitt.
»Nun will ich dir auch noch dieses vorlesen: Kleines Haus mit anderthalb Morgen Garten zu verkaufen. Eignet sich zu einer hübschen Wochenendwohnung. Preis zweihundertfünfzig Pfund für schnell entschlossenen Käufer.«
Er holte einen Fahrplan aus seiner Schublade und blätterte darin.
»Hier habe ich es. Der nächste Zug fährt um zwölf Uhr.«
»Soll ich das Grundstück kaufen?« fragte Bill erstaunt.
Anthony nickte.
»Ja, das ist deine Aufgabe. Und es wird dich interessieren, daß ich schon dort war und es mir angesehen habe. Die Grundrisse habe ich bereits in meinem Schlafzimmer. Aber schließe den Kauf nicht eher ab, als bis du ein Telegramm, von mir bekommst. Du darfst dich aber nicht mit mir privatim in Verbindung setzen, nur durch dieses Büro. Und unter keinen Umständen darfst du die Tatsache bekannt werden lassen, daß du mich kennst oder irgend etwas mit mir zu tun hast.«
Eine Stunde später fuhr Bill ab, und Anthony kehrte in seine kleine Wohnung zurück, zog seinen Rock aus und setzte sich an die Arbeit. In einem Kasten in seinem Schlafzimmer verwahrte er ein halbes Dutzend uralte Pergamentblätter, und er verbrachte den Rest des Morgens und den größeren Teil des Nachmittags damit, diese Blätter mit seiner zierlichen, feinen Handschrift zu füllen.
*
Mr. Montague Flake war eine der führenden und hochangesehenen Persönlichkeiten in der Londoner Geschäftswelt. Er kontrollierte alle Buttermärkte von London, Kopenhagen und Rotterdam, vor dem Kriege auch von Tomsk. Hieraus kann man ersehen, daß er damals schon große Bedeutung besaß und in der Lage war, durch Aufkäufe die Butterpreise in die Höhe zu treiben.
Offiziell kontrollierte Mr. Flake allerdings den Markt nicht. Und offiziell war auch nichts davon bekannt, daß er die Margarinepreise steigerte. In seinen Geschäften – es gab sechshunderteinunddreißig Filialen der Firma Flake in ganz England und Schottland – war eine Bekanntmachung angeschlagen, die die Verbraucher benachrichtigte, daß die Direktion ihr Bestes tue, um genügend Butter und Margarine zu beschaffen, daß es aber infolge der schlechten Heuernte in Dänemark und des geringen Rübenertrages in Irland sehr schwer sei, die genügenden Mengen beizubringen. Hierdurch stünden weitere Frachtaufschläge bevor (in Wirklichkeit verteilten sich diese und machten auf das Pfund höchstens ein Zehntel Penny aus), und die Gesellschaft wäre ganz gegen ihren Willen gezwungen, den Butterpreis um zweieinhalb und den der Margarine um zwei Pennies zu erhöhen.
Die Käufer ließen sich denn auch durch diese Bekanntmachung beeinflussen und zahlten die höheren Preise. So flössen viele Millionen Pennies in die Taschen Mr. Flakes.
Er besaß ein großes Haus am St. John’s Square, eine Musterfarm in Norfolk, ein Landgut in Kent, eine Jagd in Yorkshire und eine Lachsfischerei in einem Fluß in Schottland. Er verstand weder etwas von Landwirtschaft noch vom Jagen oder Fischen, aber das waren nun einmal die Dinge, die reiche Leute besaßen, und infolgedessen hatte er sie auch.
Man erzählte sich, daß er am glücklichsten sei, wenn er an einer einsamen Stelle auf seinem Landgut am Ufer des Sees sitze, seine nackten Füße ins Wasser hängen lasse, eine Tonpfeife rauche, und dabei die Gerichtsverhandlungen über die Ehescheidungsprozesse verfolge.
Er hatte harte Gesichtszüge, war Witwer und lebte allein in seinem Hause: mit Ausnahme einer Haushälterin, drei Sekretärinnen, vier Chauffeuren, zwölf Dienern und einer ganzen Armee von Köchinnen und Dienstmädchen.
Mr. Flake saß in seiner prächtigen Bibliothek an einem Tisch, der größer war als die Schlafzimmer, in denen die Mehrzahl seiner Kunden nachts ruhten. Er kaute an dem Federhalter, denn er war dabei, ein Schriftstück aufzusetzen. Er hatte erst zwanzig Zeilen geschrieben, als ihm ein Besuch gemeldet wurde. Er nahm die Karte, die ihm auf einem silbernen Tablett gereicht wurde, und las den Namen, ohne großes Interesse zu zeigen:
NEWTONS PRIVATDETEKTIVBÜRO
Captain Anthony Newton,
Inhaber des Militärkreuzes und
Ritter des Militärverdienstordens,
früher beim Blitheshire-Schützenregiment.
Er sah zu seiner Sekretärin auf, die dem Diener ins Zimmer gefolgt war.
»Was will er denn von mir? Sagen Sie ihm doch, daß er sein Anliegen schriftlich vorbringen soll.«
»Er besteht darauf, Sie persönlich zu sprechen. Ich sagte ihm schon, daß Sie beschäftigt seien.«
»Also lassen Sie ihn herein«, rief Mr. Flake ärgerlich.
Anthony trat mit ernster, geschäftsmäßiger Miene ins Zimmer. Er war tadellos gekleidet.
»Nehmen Sie bitte Platz, Captain Newton«, sagte Mr. Flake und deutete mit seiner wohlgepflegten Hand auf einen Stuhl. »Was kann ich für Sie tun?«
Mr. Newton zog seine Handschuhe langsam aus, legte sie neben seinen Hut, dann nahm er ein Notizbuch aus der Tasche und blätterte darin.
»Vor einigen Tagen kauften Sie doch eine Anzahl verschiedener Manuskripte in Florettis Auktionshaus?«
Mr. Flake nickte.
»Sie befanden sich früher im Besitz des verstorbenen Lord Witherall, der Handschriften sammelte, und sie umfaßten eine Anzahl mehr oder weniger wichtiger Urkunden …«
»Mehr oder weniger wertloser Dokumente«, unterbrach ihn Mr. Flake etwas schroff. »Ich habe mehr wegen des Kastens als wegen der Manuskripte geboten. Ich hatte noch keine Zeit, sie durchzusehen.« Anthonys Augen glänzten, als er das hörte. »Und ich glaube auch nicht, daß die Schriftstücke irgendwelchen Wert haben.«
»Ich bin gerade wegen dieser Schriftstücke zu Ihnen gekommen«, sagte Anthony. »Ein Kunde hat mir den Auftrag erteilt, Sie aufzusuchen. Ein Vertrauensmann von Lord Witherall übergab ihm verschiedene Dokumente, deren Bedeutung ich Ihnen nicht verraten darf. Die Verwandten des Mannes – er selbst ist nämlich vor einigen Jahren gestorben – haben mir gesagt, daß diese Dokumente in dem Kasten aufgehoben wurden, den Sie gekauft haben. Der Mann hieß Samuels. Aber das war nicht der Name, unter dem er von Lord Witherall angestellt war. Sollte dieses Schriftstück in Ihrem Besitz sein, so ist mein Kunde bereit, Ihnen zweihundert Pfund für die Rückgabe zu zahlen. Das Schriftstück ist in Form eines Briefes abgefaßt, der an Samuels gerichtet ist.«
Mr. Flake war unter allen Umständen ein guter Geschäftsmann, und als solcher wußte er instinktiv, daß ein erstes Angebot von zweihundert Pfund der beste Beweis dafür war, daß die Sache größeren Wert hätte. Und als guter Geschäftsmann wollte er natürlich auch seinen Vorteil wahrnehmen.
Mr. Flake klingelte.
»Bringen Sie den Kasten, den ich neulich auf der Auktion bei Floretti kaufte«, sagte er zu der eintretenden Sekretärin.
»Ich kann Ihnen aber nicht versprechen, daß ich irgendein Schriftstück herausgebe, das in dem Kasten liegt. Geschäft ist eben Geschäft, und was verkauft ist, ist verkauft, Mr. Newton. Und Sie wissen ja, daß ich ein Geschäftsmann bin.«.
Anthony nickte. »Ich kann Ihnen nur sagen«, erwiderte er höflich, »daß die Verwandten von Samuels arme Leute sind, und soviel ich verstehe, ist dieses Schriftstück für sie von größtem Wert.«
»Ebenso für mich«, sagte Mr. Flake selbstzufrieden. »Ich bin auch arm. Wir sind alle arm – das Wort hat nur relative Bedeutung.«
»Ich glaube doch nicht, daß Sie Ihre Lage, mit der der armen Leute vergleichen können«, entgegnete Anthony reserviert. »Und ich bin sicher, daß Sie sich nicht auf Kosten dieser Leute bereichern wollen …«
»Reden Sie doch nicht solchen Unsinn«, rief Montague Flake unwirsch. »Ich bin durchaus nicht sentimental. Ich habe mich aus eigener Kraft in die Höhe gearbeitet und habe mein Geld verdient, ohne mich viel um andere Leute zu kümmern. Geschäft ist Geschäft. Wenn ich hundertzwanzig Pfund für einen Sack zahle, so gehört mir auch die Katze, die ich darin finde. Das ist nun einmal so. Aber verstehen Sie wohl: Ich sage nicht, daß ich nicht verkaufen will«, fügte er hinzu, als seine Sekretärin den Kasten vor ihn auf den Tisch stellte. »Auch habe ich noch nicht gesagt, daß ich verkaufen will.«
Er schnitt die versiegelten Schnüre durch, die um den Kasten gelegt waren, und öffnete den Deckel. Der Kasten war bis zum Rande mit gelblichen Manuskripten gefüllt. Einzelne waren mit verblaßten, roten Bändern zu Bündeln gebunden, andere waren in Pergament eingeschlagen, es lagen aber auch viele lose Blätter darin.
Mr. Flake zögerte, nahm die erste Lage heraus und legte sie auf den Tisch.
»Sie sagten doch, es sei ein Brief?«
Anthony nickte.
»Das ist anscheinend das Manuskript eines alten Theaterstückes«, meinte Mr. Flake, »und dieses …« er hob einen anderen schweren Pack auf, »… scheint das Originalmanuskript einer Geschichte zu sein. Aber hier sind Briefe.« Er nahm einen auf, um die Unterschrift zu lesen, und legte ihn dann wieder auf die Tischplatte.
Anthony sah die wartende Sekretärin an und schaute dann auf Mr. Flake.
»Würden Sie wohl erlauben, daß Ihre Sekretärin einmal die Telefonnummer von Sir John Howard und Sons nachsieht?«
Er nannte eine der größten Londoner Rechtsanwaltsfirmen, vor der selbst Mr. Flake Respekt hatte.
»Kommen Sie im Auftrage von Mr. Howard?« fragte er schnell. Anthony lächelte.
»Im Augenblick kann ich darüber noch keine Auskunft geben.« Er wartete, bis sich die Tür hinter dem Mädchen geschlossen hatte und rückte dann näher an Mr. Flake heran. »Ich kann Ihnen etwas im Vertrauen mitteilen. Ich handle im Auftrag von …«
Er flüsterte Mr. Flake einen Namen ins Ohr und mußte, um ihn zu erreichen, an die Ecke des Tisches kommen und verdeckte dadurch einen Augenblick den Kasten, so daß Mr. Flake ihn dabei nicht sehen konnte. Und wenn jemand etwas ins Ohr geflüstert wird, kann er schwerlich das Knittern von Pergament hören.
Anthony hatte schnell nach dem offenen Kasten hinübergereicht und seine Hand schon wieder zurückgezogen, bevor Mr. Flake sich von seinem Erstaunen erholen konnte.
»Dal?« fragte Mr. Flake. »Wer, zum Teufel, ist denn Dal?«
»Das werde ich Ihnen bei einem späteren Stand der Dinge mitteilen«, entgegnete der tüchtige junge Mann. »Ich dachte, Sie wüßten es.«
Mr. Flake schaute ihn scharf an, aber Anthony Newton hielt seinen Blick aus, ohne mit der Wimper zu zucken.
»Immerhin«, sagte der Finanzmann, als er die Dokumente wieder in den Kasten legte, »kann ich sie jetzt nicht alle durchsehen. Ich gebe Ihnen in einigen Tagen Antwort.«
»Aber die Sache eilt«, erwiderte Anthony ernst. »Und wenn es nur am Gelde liegt, so kommt es schließlich auf ein paar hundert Pfund nicht an. Es ist nur notwendig, daß wir das Schriftstück sofort zurückerhalten.«
»Und es ist absolut notwendig«, erwiderte Mr. Flake gutgelaunt, »daß ich erst meinen Tee trinke und die nötige Zeit habe, den Inhalt des Kastens zu prüfen. Ich werde Ihnen morgen meinen Bescheid zukommen lassen.«
Hiermit mußte sich Anthony zufriedengeben. Er verließ das Haus und erkundigte sich merkwürdigerweise nicht mehr nach der Telefonnummer, die er vorher verlangt hatte. Schnell ging er zum nächsten Postbüro und schickte ein Telegramm an Smith, Bull-Hotel, Little Wenson, Kent. Die Botschaft war nur kurz und lautete:
»Kauf abschließen!«
Vier Tage später hielt ein schönes Auto vor dem kleinen Hause, das eine Meile vor dem Dorf Little Wenson lag, und Mr. Flake stieg aus.
Das Häuschen enthielt nur eine armselige Wohnung. Der Garten war ganz vernachlässigt, und an den Fenstern hingen nicht einmal Gardinen. Aber Mr. Flake interessierte sich weniger für das Haus selbst als für das Land und den Küchengarten, der ebenfalls vollständig verwahrlost war. Er konnte alles sehen, was er wollte, denn das Gebäude stand an einer Straßenecke, und die westliche Grenze des Gartens wurde durch die Hecke gebildet, an der die eine Straße entlanglief. Es standen zwei Apfelbäume dort, dahinter lag die eingefallene Mauer eines kleinen Brunnens.
Mr. Flake ging langsam zu der Front des Hauses zurück, öffnete das Gartentor und ging den Weg entlang. Dann klopfte er an die Haustür. Ein Mann in Hemdsärmeln, ein großer, ernst dreinschauender Mensch, trat heraus, der auf Mr. Flakes liebenswürdigen Gutenmorgengruß nur mit einem unverbindlichen Kopfnicken antwortete.
»Ist das Ihr Haus?« fragte Mr. Flake höflich.
»Jawohl«, erwiderte Bill Farrel, der der Bewohner der Hütte war.
»Eine wunderschöne Lage hier«, meinte Mr. Flake.
»Ja, sie ist nicht schlecht.«
»Wohnen Sie schon lange hier?«
»Erst eine Woche. Ich bin vor kurzem aus der Armee ausgetreten und wollte hier eine Hühnerfarm einrichten.«
»Ach, sehen Sie, in der Armee haben Sie früher gedient?« fragte Mr. Flake wohlwollend. »Aber das scheint mir doch eigentlich nicht die rechte Stelle zu sein, um Hühner großzuziehen? Wer hat denn das Haus vor Ihnen besessen?«
»Ich weiß den Namen nicht mehr. Aber es ist über hundert Jahre in dem Besitz einer Familie gewesen.«
»Hm; können Sie sich gar nicht auf den Namen besinnen?« fragte Mr. Flake obenhin.
»Ich glaube, sie hießen Samson«, antwortete der Mann und gab sich scheinbar Mühe, darüber nachzudenken.
»Nicht Samuels?« fragte Mr. Flake eifrig:
»Ja, das ist der Name – Samuels. Aber von denen habe ich es nicht gekauft. Die haben es vor langen Jahren gehabt.«
»Wenn es nicht aufdringlich ist, möchte ich Sie bitten, mir zu sagen, wieviel Sie für das Haus gezahlt haben?«
»Alles Geld, das ich besaß«, erwiderte Bill Farrel ausweichend. »Und wie hier das Gerede geht …«
»Ja, ja, ich weiß, was man sich hier erzählt. Aber nun sagen Sie mir, um welchen Preis würden Sie das Grundstück verkaufen?«
»Ich habe nicht die Absicht, es zu veräußern.«
»Aber sicherlich würden Sie es doch abgeben, wenn Sie dabei hundert Pfund verdienen?«
»Auch nicht, wenn ich tausend oder zehntausend dabei verdiene«, sagte der andere entschlossen. »Es gibt hier ein merkwürdiges Gerede wegen dieses Hauses. Neulich war ein Rechtsanwalt mit einem Privatdetektiv hier.«
»So, so. Nun wollen wir doch einmal in aller Ruhe miteinander sprechen. Ich bin Geschäftsmann, und ich will Ihnen tausend Pfund für das Grundstück geben.«
»Und wenn Sie mir zwanzigtausend Pfund anböten, würde ich sie auch nicht nehmen«, war die entschiedene Antwort. »Ich bin zufrieden damit, und Sokrates sagte schon: Zufriedenheit ist der natürliche Reichtum, Luxus aber künstliche Armut.«
»Das ist jetzt ganz gleich, was Sokrates sagte«, rief Mr. Flake ungeduldig. »Also ich biete Ihnen …«
» ›Wenn nur die Menschen wüßten, welches Glück in der Hütte eines gottseligen Mannes wohnt‹, sagte Jeremias Taylor« fuhr Mr. Farrel hartnäckig fort.
»Nun hören Sie mich doch einmal an! Wollen Sie mir dieses Grundstück zu einem annehmbaren Preis verkaufen? Ich habe nun einmal eine Vorliebe dafür und will Ihnen gerne eine vernünftige Summe zahlen.«
»Kommen Sie bitte herein«, sagte der Bewohner des Hauses und öffnete die Tür.
Eine Stunde später schüttelte Mr. Farrel den Staub von Little Wenson von seinen Füßen. Er wurde von Mr. Flake nach London begleitet. Sie gingen zusammen zu einer Bank, denn Mr. Farrel mißtraute allen Schecks, und wollte seinen Namen erst unter die Verkaufsurkunde setzen, wenn er ein großes Paket weißer Banknoten erhalten hätte.
Es war schon lange her, daß Mr. Flake einen ganzen Tag lang hart gegraben hatte. Aber er fühlte sich schon im voraus belohnt, als er am nächsten Morgen um sechs Uhr mit seinen Ausgrabungen begann. Eine Linie, die in rechtem Winkel von der Mitte der Verbindungslinie der beiden Apfelbäume gezogen wurde, ging rechts am Brunnen vorbei. Das stimmte genau mit den Angaben des Schriftstückes überein, das sich in seinem Besitz befand. Die drei Blätter auf Pergament, die mit einer zierlichen Handschrift bedeckt waren, erklärten genau, wie ein Mr. William Samuels im Jahre 1826 Brillanten im Wert von hundertzwanzigtausend Pfund aus den einbruchsicheren Räumen der Cheals-Bank gestohlen hatte. Er war dort als Wächter angestellt, und die wertvollen Steine waren das Eigentum eines französischen Emigranten, des Marquis du Thierry. Es wurde berichtet, wie er seinen Schatz im Garten seines Bruders Henry Frederick Samuels in der Nähe von Little Wenson vergraben hatte. Mr. Flake zog die Schriftstücke immer wieder zu Rate. Alle Linien, die er zog, trafen genau die in den Blättern angegebenen Punkte. Neun Fuß und drei Zoll von der Mitte der Verbindungslinie der beiden Apfelbäume stieß der Schatzgräber auf eine Stelle, die erst kürzlich umgegraben schien. Nachdem er vier Fuß tief gegraben hatte, begann Mr. Flakes Herz wild zu schlagen, als sein Spaten ›die viereckige Steinplatte‹ traf, ›mit der ich die Grube zudeckte, in der ich den besagten Kasten verbarg‹.
Atemlos arbeitete Mr. Flake weiter. Nach vieler Mühe und Anstrengung förderte er auch den Kasten zutage. Er schwitzte entsetzlich, denn er hatte drei Stunden angestrengt graben müssen. Die Kiste sah merkwürdig neu aus, und ein gewöhnlicher Mensch hätte sie wahrscheinlich mit einem der Behälter verwechselt, in denen die Bauern ihre Eier mit der Bahn verschickten. Der Kasten war schwer, aber Mr. Flake fühlte das nicht, als er ihn hastig in die einsame Hütte trug und dort sofort öffnete.
Er war so schwer, weil er halb mit Sand gefüllt war. Unaufhörlich wühlte der Mann mit seinen Fingern darin herum. Plötzlich faßte er ein hartes Stück Papier, zog es heraus und hielt es ans Licht, da er etwas kurzsichtig war.
Es stand nur eine Zeile darauf, und zwar in derselben engen Handschrift, wie er sie auf den Dokumenten in seinem Manuskriptkasten gefunden hatte. Hätte er die Dokumente geprüft, bevor Mr. Newton ihm den geheimnisvollen Namen ins Ohr flüsterte, so hätte er sich viel Arbeit und eine für ihn allerdings kleine Geldsumme erspart.
Er las:
»D. A. L. heißt: Die armen Leute, für deren Interessen ich eingetreten bin.«
Am nächsten Morgen wartete Mr. Flake schon vor dem Büro Mr. Newtons.
»Sie und Ihr Spießgeselle haben mich um achttausend Pfund beschwindelt. Es bleibt Ihnen nichts anderes übrig, als mir das Geld zurückzugehen, oder ich werde Sie bei der Staatsanwaltschaft anzeigen.«
»Ich danke Ihnen sehr für diese liebenswürdige Mitteilung«, entgegnete Anthony. »Ich ziehe es vor, mich bei der Staatsanwaltschaft anzeigen zu lassen.«
»Sie sind ein ganz gemeiner Schwindler!« fuhr Mr. Flake auf.
»Es gibt zwei Auswege aus diesem Raum«, sagte Anthony lächelnd. »Der eine führt durch das Fenster, der andere durch die Tür. Sie haben Ihr Geld gezahlt, also steht Ihnen die Wahl frei.«
»Ich werde sofort zur Polizei gehen«, rief Mr. Flake wütend und nahm seinen Hut. Er war so aufgeregt, daß ihn beinahe der Schlag getroffen hätte.
»Nun hören Sie einmal zu«, sagte Anthony freundlich. »Sie glaubten, Sie würden sich eine Menge Geld auf Kosten einer armen Familie aneignen können. Ihr ganzes Leben lang haben Sie sich nur auf Kosten des Volkes bereichert, Sie haben von jedem Butterbrot hier im Lande Ihren übermäßigen Profit gehabt. Damit Sie reich wurden, Ihre Jagd und Ihre Landgüter halten konnten, mußten soundso viele Leute hungern. Das Gesetz kann Sie nicht belangen, denn Sie gehören zu den Dieben, deren Taten leider durch das Gesetz gedeckt werden. Ich habe Sie durch eine vollständig rechtmäßige Handlung um achttausend Pfund erleichtert, und ich sage Ihnen nur das eine« – er drohte ihm mit dem Finger – »daß die achttausend Pfund noch zu achtzigtausend anwachsen, bevor ich mit Ihnen fertig bin.«
»Sie niederträchtiger Dieb!« schrie Mr. Flake rot vor Zorn.
»Bill«, rief Anthony laut. Der große Mann erschien in der Türöffnung. »Wirf diesen Lumpen hinaus!«
Bill, der frühere Hüttenbewohner, öffnete die Tür und zeigte mit dem Daumen nach draußen.