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Larry riß die Tür im Erdgeschoß auf und schwankte aus dem Schacht heraus. Vor ihm stand Dr. Judd, Überraschung, Unglauben, höchste Verwunderung standen in jedem Zuge seines Gesichtes geschrieben.

 

»Was ist passiert?« fragte er besorgt.

 

»Ein Wunder!« antwortete Larry verbissen. »Es scheint, als ob ich ungefähr anderthalb Meter tief gefallen bin. Sie haben nach mir geschickt, Dr. Judd?«

 

Dr. Judd schüttelte den Kopf.

 

»Ich befürchte, ich verstehe nichts von allem, was hier vorgefallen ist«, sagte er. »Wollen Sie bitte mit nach oben in mein Büro kommen?«

 

»Ich glaube nicht, daß das noch nötig ist«, erwiderte Larry. »Sie haben mich telephonisch hierherrufen lassen – so schnell wie möglich –, weil Sie mir etwas sehr Wichtiges mitzuteilen hatten. Sicher gehe ich nach oben«, fügte er grimmig hinzu. »In der obersten Etage ist ein Herr, dessen Bekanntschaft ich sehr gern machen möchte.«

 

»Ich versichere Ihnen, Mr. Holt«, sagte der Doktor ernsthaft, »daß ich niemals nach Ihnen geschickt oder mich in irgendeiner Weise mit Ihnen in Verbindung gesetzt habe. Ich habe den Portier weggeschickt, um mir etwas zu besorgen, und dann fiel mir ein, daß ich nicht eine Zigarette hatte und ließ dummerweise das große Haus unbewacht. Sie sind doch nicht etwa in den falschen Aufzug gestiegen?«

 

Ein langsames Lächeln erschien auf Larrys Gesicht.

 

»Das habe ich, glaube ich, getan«, sagte er.

 

»Allmächtiger Gott!« stammelte der Doktor. »Sie hätten sich das Genick brechen können.«

 

»Ich bin mir immer noch nicht klar, was eigentlich passiert ist«, sagte Larry.

 

»Es ist ja nur ein Aufzug in Betrieb«, erklärte der Doktor. »Irgend etwas an den Motoren ist in Unordnung geraten, und wir lassen sie jetzt im Gleichgewicht laufen. Ich will damit sagen, daß ein Aufzug hoch geht, wenn der andere nach unten kommt. Außerdem haben die Arbeiter von dem morgigen Sonntag profitiert, wo der Fahrstuhl sowieso nicht benutzt wird, und angefangen, den Boden des Aufzugs Nr. 2, der sehr schadhaft war, auszubessern und …«

 

»Und haben ein paar Bogen Papier und Zeugstücke dafür hingelegt, wie ich annehme«, war Larrys unhöfliche Antwort, und er war sich dessen völlig bewußt. »Auf jeden Fall fahre ich jetzt nach oben!« – und stieg mit Dr. Judd in den zweiten Aufzug.

 

In halber Höhe trafen sie mit Harvey zusammen, der die Treppe herabeilte.

 

»Gott sei Dank, daß Sie nicht verletzt sind«, sagte dieser.

 

Larry schüttelte den Kopf.

 

»Ich konnte kaum drei Meter vom Boden entfernt sein, als ich fiel. Es kam mir ja gar nicht zum Bewußtsein, daß dieser verwünschte Fahrstuhl ständig nach unten ging, während der liebenswürdige Herr mich von oben bombardierte.«

 

»Hat denn jemand nach Ihnen geworfen? – Es kam mir doch auch so vor, als ob ich Eisen auf den Boden des Schachtes aufschlagen hörte.«

 

Der Aufzug ging nur bis zum vierten Stock, und von dort ging eine Treppe bis in die oberste Etage. Als Larry dort ankam – sie lag in tiefer Dunkelheit –, fand er, daß sein Angreifer, wie er es auch nicht anders erwartet hatte, verschwunden war. Auch den Weg, den dieser genommen hatte, brauchte er nicht lange zu suchen. Am Ende des Ganges war in der Decke ein viereckiger Lichtschein sichtbar, eine Luke war geöffnet, und unter dieser stand eine Leiter.

 

»Ich kann Ihnen wirklich nicht sagen, wie peinlich mir die ganze Angelegenheit ist«, sagte Dr. Judd, als sie mit ihm wieder zusammentrafen.

 

Er sah ungewöhnlich blaß aus und seine Stimme schwankte.

 

»Irgendein Narr muß Ihnen einen Streich gespielt haben, der sehr ernsthafte Folgen hätte haben können. Wie haben Sie es denn fertigbekommen, daß Sie nicht abstürzten?«

 

Aber Larry war nicht in der Stimmung, noch weitere Erklärungen zu geben und ließ mit einem kurzen »Gute Nacht« einen sehr beunruhigten Dr. Judd zurück.

 

»Harvey«, sagte Larry. »Ich bin morgen um halb zehn im Büro und möchte, daß Sie mich dort erwarten. Morgen werden wir allen Ernstes mit der Abrechnung beginnen, und ich hoffe zu Gott, daß heute in acht Tagen das Stuart-Rätsel gelöst sein wird.«

 

*

 

»Kleine«, sagte Larry Holt am nächsten Morgen in väterlichem und zugleich besorgtem Tone, als er an der Frühstückstafel saß. »In dieser Nacht habe ich ein langes Gebet gesprochen, ein Dankgebet, daß deine Prophezeiung wirklich in Erfüllung geht.«

 

»Wegen der Gefangennahme der Bande?«

 

»Ja« – er zögerte einen Augenblick –. »Ich möchte eine kleine Spur untersuchen, die sich möglicherweise zu einer sehr wichtigen Fährte entwickeln kann.«

 

Sie sah ihn zweifelnd an. »Ich kann wohl nicht mitkommen?«

 

Er schüttelte abwehrend den Kopf.

 

»Nein, diese Arbeit muß ich wirklich ganz allein unternehmen. Ich muß mich im Verlauf meiner Nachforschungen auf jeden Fall einer Gesetzesübertretung schuldig machen, und ich möchte nicht auch noch dafür verantwortlich gemacht werden, dich vom geraden Wege des Gerechten abgebracht zu haben.«

 

»Ich glaube nicht, daß ich mir darüber viel Kopfschmerzen machen würde«, sagte Diana lächelnd, »aber du willst mir eben nicht erzählen, um was es sich handelt. Das ist doch die ganze Geschichte, nicht wahr?«

 

»Das hast du aber schnell herausgefunden! Der edle Sunny wird auf dich aufpassen und dich nach Scotland Yard begleiten – bis an die Zähne mit allerhand Mordwaffen gewappnet.«

 

»Wo führt dich denn diese Fährte hin?« fragte sie. »Ich möchte es so gern wissen, falls –« sie zauderte einen Augenblick – »falls du wirklich mal nicht zurückkommen solltest.«

 

»Meine Fährte führt nach Hampstead.«

 

Sie seufzte erleichtert auf.

 

»Ich hatte so große Angst, sie würde ganz woanders hinführen-«

 

Er zog es vor, nicht weiter über dieses Thema zu sprechen, denn er hatte sie schändlich belogen.

 

Eine halbe Stunde nach seinem Eintreffen im Präsidium verließen zwei nicht zu sauber aussehende Männer in der abgetragenen Uniform der Städtischen Gasanstalt Scotland Yard und kletterten auf einen Autobus. Der eine trug eine Tasche mit Werkzeugen. Ungefähr eine Viertelmeile vor ihrem Bestimmungsort stiegen sie aus und gingen langsam zu Fuß weiter, bis sie stehenblieben und sich das Haus betrachteten, in dem nach Larrys Meinung die Aufklärung von Gordon Stuarts Tod zu finden war.

 

Es war ein Haus von ganz ungewöhnlichem Aussehen, kahl und finster, mit wenigen, aber stark vergitterten Fenstern.

 

»Der Mann, der den Plan für dieses Haus entworfen hat, muß angenommen haben, daß es ein Gefängnis werden sollte«, sagte Harvey.

 

»Vielleicht hat er das auch gedacht«, erwiderte Larry. »Harvey, wenn das wahr ist, was uns der blinde Lew erzählt hat, dann sind wir jetzt am Ende unserer Jagd angelangt.«

 

»Aber das soll doch nur eine gewöhnliche Durchsuchung sein«, sagte Harvey verblüfft. »Glauben Sie wirklich, daß Sie mit dieser einmaligen Haussuchung den ganzen Fall beendigen werden?«

 

Larry nickte.

 

»Wenn ich dies Haus betrete, mache ich jedem Traum, den ich in dieser Sache geträumt, jede Theorie, die ich mir aufgebaut habe, zur Wirklichkeit. Ich stehe oder falle mit dem heutigen Ergebnis.«

 

»Weiß den Miß Ward –«, begann Harvey dreist.

 

»Das ist das einzige, was sie nicht weiß«, lächelte Larry, schritt über die Straße, stieg die wenigen Stufen zur Haustür empor und läutete.

 

Die Tür wurde von einem Diener geöffnet, der sie nach wenigen scharfen und herrischen Worten Larrys in die Vorhalle einließ.

 

»Vergessen Sie nicht, daß unser Besuch geheim bleiben muß«, sagte Larry.

 

»Sie können sich auf mich verlassen, Mr. Holt«, antwortete der Mann, dessen Gesicht beim Anblick Larrys eine krankhafte, grünweiße Farbe angenommen hatte.

 

Die Vorhalle war hoch und geräumig und von dem Marmorfußboden bis zur Decke hinauf in Eiche getäfelt. Die einzigen Möbelstücke waren ein Tisch und ein Stuhl. Das Tageslicht fand durch ein einziges langes, schmales Mattglasfenster Einlaß, durch das man den Schatten seines schmiedeeisernen Gitters sehen konnte. Anstatt der sonst üblichen Haupttreppe, die in die oberen Etagen führte, lag dem Hauptgang gegenüber eine Tür, die, wie er glaubte, diese Treppe versteckte. Eine zweite Tür befand sich auf der anderen Seite der Halle. Dies waren die einzigen sichtbaren Möglichkeiten, den großen Raum zu verlassen.

 

Er öffnete die Tür auf der rechten Seite und fand sich in einem großen, wundervoll ausgestatteten Salon. Die Wände waren unter Gemälden und Gobelins versteckt, und auf dem Parkettfußboden lagen ein halbes Dutzend persischer Teppiche, die ein Vermögen wert waren.

 

Der Raum hatte sechs farbige Fenster, und jedes einzelne war ein Meisterwerk. Schwere Samtvorhänge verdeckten die Fensterrahmen und machten es unmöglich, daß auch nur der geringste Lichtschimmer durch das Fenster dringen konnte. Ein silberner Kronleuchter hing in der Mitte des Zimmers, aber auch hier glaubte Larry, daß die Hauptbeleuchtung durch verborgen angebrachte Lampen erfolgte.

 

Von dem Salon öffnete sich eine Tür auf eine Treppe, die nach dem oberen Stockwerk zu einer Reihe Schlafzimmer, einem kleinen Salon und einem großen Studierzimmer führte. Dieses lag oberhalb des Salons und hatte beinahe dessen Größe.

 

Seine Untersuchung der oberen Etage war mehr oder weniger oberflächlich, obgleich er den Gang, an dem alle diese Räume lagen, genau und sorgfältig prüfte. Überzeugt, daß das, was er entdecken wollte, im Erdgeschoß liegen mußte, ging er wieder in den Salon hinunter.

 

Dort fand er den Diener, den er mit einigen scharfen Worten hinausschickte.

 

»Machen Sie, daß Sie in die Halle kommen«, sagte er kurz, und der Mann gehorchte verdrossen.

 

Und jetzt untersuchte Larry langsam und mit größter Sorgfalt die Wandtäfelungen, Zentimeter für Zentimeter, hauptsächlich die, welche der Eingangstür, durch die er und Harvey eingetreten waren, gegenüberlagen. So geschickt waren diese angebracht, daß geraume Zeit verging, bis er die verborgene Tür fand, die an einem ganz unvermuteten Platze in gleicher Höhe mit dem farbigen Glasfenster lag. Dann erinnerte er sich, daß er von außen eine kleine halbrunde Ausbuchtung an der Mauer des Gebäudes bemerkt hatte.

 

»Jetzt haben wir’s«, sagte er triumphierend und zog eine geschnitzte Girlande auf, die ein festes Stück der Wandverzierung zu sein schien und unter der sich ein winziges Schlüsselloch verbarg. Dann nahm er einen Bund Schlüssel aus der Tasche und versuchte einen nach dem anderen. Beim vierten hörte man ein leises Schnappen, und die Tür öffnete sich nach innen.

 

Er hatte recht behalten. Er wußte es in diesem Augenblick! Die Freude, sein Ziel erreicht zu haben, ließ sein Herz schneller schlagen – das Bewußtsein, endlich etwas Greifbares zu haben, etwas sehen lassen zu können, nicht für den Kommissar, nicht für seine Vorgesetzten, aber für das junge Mädchen, das ihm mehr bedeutete als seine Karriere, als sein Leben, dieser Gedanke färbte seine Wangen und ließ seine Augen aufblitzen.

 

Er befand sich in einem kleinen glockenförmigen Raum mit gewölbtem Dach, dessen Wände, ebenso wie die schmale Treppe, die nach unten in den Keller führte, aus Beton waren.

 

Das erste, was seine Blicke auf sich zog, war ein elektrischer Lichtschalter, den er sofort nach unten drückte. Der untere Treppenabsatz wurde hell. Eine andere Tür lag auf der linken Seite, und eine weitere Reihe schmaler Steinstufen lief weiter nach unten und verschwand in der Dunkelheit. Man hatte sich nicht die Mühe gegeben, das Schlüsselloch dieser Tür zu verstecken, die einer seiner Schlüssel öffnete.

 

Er trat in einen sehr niedrigen zementierten Raum, der kaum zwei Meter hoch und, soweit er schätzen konnte, drei Meter lang war. Dann suchte und fand er den Schalter, der die Kammer erhellte.

 

»Was halten Sie davon, Harvey?«

 

»Was machen die denn hier?« fragte Harvey überrascht. »Ist das eine elektrische Kraftanlage?«

 

Larry schüttelte den Kopf.

 

»Nein«, sagte er. »Keine Lichtanlage. Ich verstehe zwar sehr wenig von Maschinen, aber ich glaube, das ist hier eine Pumpe.« Dann untersuchte er die Maschinenanlage sehr sorgfältig.

 

»Ja, es ist eine Pumpe; eine von der Art, die auf Schiffen gebraucht werden, um die Wassertanks zu reinigen.«

 

Ein dickes Kabel lief an der Wand über Isolatoren hinweg, und er betastete es vorsichtig.

 

»Elektrisch«, sagte er. »Da bekommt er also seinen Kraftstrom her.«

 

An der Wand war ein Schaltbrett und ein Hebel, den er genau untersuchte, bevor er sich zu der zweiten Maschine in der Kammer wandte.

 

»Und das hier ist die Ventilationsanlage« – er zeigte auf einen tonnenförmigen Apparat –. »Sehen Sie, da ist der Exhauster für verbrauchte Luft.«

 

»Das ist ein recht gründlicher Herr«, meinte Sergeant Harvey.

 

»Ja, sehr gründlich«, pflichtete Larry bei, als sie den Raum verließen und die Tür hinter sich schlossen.

 

»Da drüben ist eine Tür, die auf den Hof geht.« Larry wies auf die Wand, die dem Maschinenraum gegenüberlag.

 

Harvey konnte die Tür nicht entdecken, folgte aber seinem Chef, der die Stufen hinabschritt, die weiter nach unten führten.

 

»Zehn Stufen«, warnte Larry und blieb dann vor einer weiteren Tür stehen, die aus Eisenbeton hergestellt war und in schweren Scharnieren aus gehärteter Bronze hing. Larry überzeugte sich erst davon, bevor er weiterging. Er hatte erwartet, Bronzescharniere zu finden. Er hegte nur noch zwei Befürchtungen: daß die Türen mit Riegeln versehen wären und sich nicht von innen öffnen ließen. Aber beide Befürchtungen waren grundlos. Er schob den Schutzdeckel vom Schlüsselloch und öffnete die Tür, die langsam aufschwang.

 

»Zehn Zentimeter dick«, sagte er grimmig, »der Mann geht ganz sicher.«

 

Hinter dieser schweren Tür lag eine zweite aus Stahl, die er aufschloß. Und jetzt blieb er stehen und sagte mit stockendem Atem zu Harvey:

 

»Betrachten Sie sich den Raum, in den wir jetzt hineinkommen, ganz genau, lieber Harvey. Hier starb Gordon Stuart.«