18

 

Mr. Sampson Longvale machte nach dem Abendessen einen kleinen Spaziergang vor seinem zerfallenen Haus. Wie gewöhnlich trug er einen langen, grauseidenen Schlafrock, der von einem roten Gürtel zusammengehalten wurde, und eine seidene Mütze auf dem Kopf. Er rauchte seine altmodische Tonpfeife, und während er vor seinem Anwesen auf und ab ging, blies er große Rauchwolken in die Luft.

 

Er wünschte seiner Aufwartefrau ein freundliches gute Nacht. Sie kam täglich, um seine Zimmer zu reinigen und das Essen für ihn zu kochen. Als er Schritte auf dem Fahrweg hörte, dachte er zuerst, daß es seine Angestellte wäre, die noch einmal zurückkam, gewöhnlich hatte sie etwas vergessen. Als er sich umwandte, sah er die wenig anziehende Gestalt seines Nachbarn Sir Gregory Penne. Er hatte ihn in schlechter Erinnerung. Die einzige Bekanntschaft, die er bisher mit ihm gemacht hatte, beschränkte sich darauf, daß Penne sich ihm gegenüber recht unangenehm betragen hatte. Der alte Herr wartete ruhig, bis der wenig liebenswürdige Besuch herangekommen war.

 

»Guten Abend«, brummte Penne. »Kann ich Sie einmal privat sprechen?«

 

Mr. Longvale nickte.

 

»Gewiß, Sir Gregory. Wollen Sie bitte näher treten.«

 

Er führte ihn in das lange Wohnzimmer und steckte die Kerzen in den Leuchtern an. Sir Gregory schaute sich um und kräuselte verächtlich die Lippen, als er die bescheidene Einrichtung sah. Der alte Herr schob ihm einen Stuhl hin, aber es dauerte erst einige Zeit, bevor Penne Platz nahm.

 

»Nun, Sir Gregory«, sagte Mr. Longvale höflich. »Welchem Umstand verdanke ich das Vergnügen Ihres Besuches?«

 

»Gestern logierten hier bei Ihnen einige Filmschauspieler?«

 

Mr. Longvale nickte.

 

»Ich hörte von einem unsinnigen Gerede, daß mein Affe versucht haben soll, in Ihr Haus einzubrechen.«

 

»Ein Affe?« fragte Mr. Longvole höchst überrascht. »Es ist das erste, was ich davon höre.«

 

Der alte Herr sprach die Wahrheit; denn keiner der Beteiligten hatte ihm etwas von dem nächtlichen Abenteuer erzählt. Aber Gregory sah ihn argwöhnisch an.

 

»Haben Sie wirklich nichts davon erfahren?« fragte er. »Wollen Sie mir das etwa weismachen?«

 

Der alte Herr erhob sich würdevoll.

 

»Wollen Sie damit sagen, daß ich Sie belüge, Sir?« fragte er. »Wenn dem so ist, dann ist dort die Tür. Und obgleich ich nur sehr ungern unhöflich gegen einen meiner Gäste bin, bleibt mir in diesem Falle doch nichts anderes übrig, als Sie zu bitten, sofort mein Haus zu verlassen.«

 

»Es ist schon gut«, sagte Sir Gregory Penne ungeduldig. »Seien Sie nicht böse. Ich komme ja gar nicht deswegen hierher. Sind Sie nicht Arzt?«

 

Mr. Longvale sah ihn überrascht an.

 

»In meiner Jugend übte ich die ärztliche Praxis aus«, sagte er.

 

»Viel haben Sie anscheinend dabei nicht verdient.« Gregory sah sich noch einmal mit beleidigender Offenheit um. »Ich möchte wetten, daß Sie zu nichts gekommen sind.«

 

»Da sind Sie sehr im Irrtum«, sagte Mr. Longvale ruhig. »Ich habe ein großes Vermögen. Daß ich mein Haus nicht reparieren lasse, hängt damit zusammen, daß ich eine Vorliebe für Ruinen habe. Sicher ist das eine etwas krankhafte Neigung, das gebe ich ohne weiteres zu. Sagen Sie mir aber bitte, woher Sie wissen, daß ich Arzt bin?«

 

»Ich habe es durch einen meiner Diener erfahren, der zufällig einmal sah, wie Sie einem Fuhrmann einen gebrochenen Finger einrichteten und verbanden.«

 

»Aber ich habe jahrelang keine Praxis ausgeübt«, sagte Mr. Longvale. »Ich wünschte, ich hätte sie nicht aufgegeben«, fügte er nachdenklich hinzu. »Medizin ist doch eine Wissenschaft –«

 

»Immerhin«, unterbrach ihn Penne. »Selbst wenn Sie Ihren Beruf nicht mehr ausüben, sind Sie doch ein schweigsamer alter Herr, und das ist das, was ich suche. In meinem Haus liegt ein schwerkrankes Mädchen, ich möchte nicht, daß einer dieser jungen, neugierigen Doktoren seine Nase in meine Privatangelegenheiten steckt. Würden Sie so liebenswürdig sein, sie zu behandeln?«

 

Der alte Herr nickte nachdenklich mit dem Kopf.

 

»Ich würde es gern tun«, sagte er. »Aber ich fürchte, meine medizinischen Kenntnisse sind nicht mehr ganz ausreichend. Ist es eine Hausangestellte von Ihnen?«

 

»Ja, in gewissem Sinne«, sagte Sir Gregory kurz. »Wann können Sie kommen?«

 

»Ich werde Sie sofort begleiten«, sagte Mr. Longvale ernst und ging aus dem Zimmer. Gleich darauf kam er in seinem langen grauen Gehrock zurück.

 

Der Baron sah mit einem spöttischen Lächeln auf den altfränkischen Anzug des andern.

 

»Warum in aller Welt tragen Sie so altmodische Kleider?«

 

»Für mich sind sie modern«, sagte der alte Herr höflich. »Die heutige Kleidung ist so prosaisch und hat gar keinen Reiz für mich.« Er strich über seinen faltigen Umhang und lächelte. »Ein alter Mann hat seine Eigentümlichkeiten, lassen Sie sie mir, Sir Gregory.«

 

Zu derselben Zeit, als Mr. Sampson Longvale Sir Gregory nach Griff Towers begleitete, begab sich Mike Brixan in das Büro von Jack Knebworth, der ihn durch einen Boten dorthin hatte holen lassen.

 

»Ich hoffe, daß Sie nicht böse sind, daß ich Sie zu mir bat«, sagte der Direktor. »Sie erinnern sich doch, daß wir eine Szene in Griff Towers aufgenommen haben?«

 

Mike nickte.

 

»Ich möchte, daß Sie sich diese Szene einmal genau ansehen und mir dann sagen, was Sie von – einer bestimmten Sache halten.«

 

Gespannt folgte Mike dem Direktor in den Vorführungsraum.

 

»Der Fotograf, der den Streifen entwickelte, zeigte mir schon das Negativ«, erklärte Jack, als sie nebeneinander in dem verdunkelten Zimmer saßen. »Ich will mir jetzt auch das Positiv ansehen.«

 

»Worum, handelt es sich denn?« fragte Mike neugierig.

 

»Das möchte ich ja gerade herausbringen«, sagte Jack, indem er sich durch das weiße Haar fuhr. »Aber sehen Sie selbst.«

 

Das Licht blitzte auf und zeichnete ein weißes Quadrat auf die Leinwand. Man hörte, wie der Filmstreifen eingespannt wurde. Dann erschien ein Bild mit zwei Personen – es waren Helen und ihr Partner Reggie Connolly. Mike sah zunächst verständnislos zu. Die Liebesszene zwischen den beiden war ihm langweilig. Im Hintergrund erhob sich die große massive Wand des Turmes, und als Mike genauer hinsah, bemerkte er ein kleines Fenster, das er vom Innern der Halle aus nicht gesehen hatte. Es war dort besonders dunkel, und selbst bei Tage brannte eine Lampe.

 

»Ich hatte das Fenster gar nicht bemerkt«, sagte er zu dem Direktor.

 

»Bitte achten Sie gerade darauf!« sagte Jack Knebworth. Und während er noch sprach, zeigte sich dort ein Gesicht.

 

Zunächst sah man es nur ungenau und verschwommen, aber später konnte man es ganz deutlich erkennen. Es war das schöne, ovale Gesicht eines jungen Mädchens mit dunklen Augen. Die Haare hingen unordentlich um den Kopf. Mit einem unaussprechlich angstvollen Ausdruck hob es seine Hand, als ob es jemandem winken wollte – wahrscheinlich wollte es sich damals bei Jack bemerkbar machen, der bei dieser Aufnahme Regie führte. So wenigstens erklärte es sich der Direktor. Aber kaum war dieses geheimnisvolle Bild auf dem Film erschienen, als es ebenso plötzlich wieder verschwand. Man konnte sich nur denken, daß das Mädchen mit Gewalt vom Fenster zurückgerissen worden war.

 

»Was halten Sie davon?« fragte Knebworth.

 

Mike starrte in Gedanken vor sich hin.

 

»Es sieht fast so aus, als ob unser Freund Penne eine Gefangene in dem dunklen Turm hat. Das muß die Frau sein, deren Schrei ich gehört habe und von der er mir erzählte, daß sie seine Dienerin sei. Aber das Fenster macht mich nachdenklich. Von innen kann man es nicht sehen. Die Treppe führt von der Halle nach oben. Das Mädchen kann weder auf der Treppe noch auf dem Podest gestanden haben. Ich schließe daraus, daß dem Treppenhaus noch eine besondere Treppe vorgelagert ist. Müssen Sie nun die Aufnahme noch einmal wiederholen?«

 

Jack schüttelte den Kopf.

 

»Nein, wir können das Stück retuschieren. Es ist nur ein kurzer Streifen. Aber ich dachte, es interessierte Sie, das zu sehen.«

 

Das Licht wurde wieder angedreht, und sie gingen zu dem Büro des Direktors zurück.

 

»Ich kann Penne aus verschiedenen Gründen nicht leiden«, sagte Jack Knebworth. »Besonders seit ich weiß, daß er mit der Mendoza auf sehr vertrautem Fuß steht.«

 

»Wer ist das – ist das die Diva, die Sie entlassen haben?«

 

Der andere nickte.

 

»Stella Mendoza – sie hat weder einen besonders schlechten noch guten Charakter«, sagte er. »Ich habe mich immer gewundert, warum Penne uns so bereitwillig die Erlaubnis gab, bei ihm zu filmen. Jetzt ist mir die Sache natürlich klar. Aber ich kann Ihnen versichern, daß Gregorys Haus noch mehr Geheimnisse enthält.«

 

Mike lächelte leicht.

 

»Ein Geheimnis zum mindesten. Aber ich werde diese Nacht noch dahinterkommen«, sagte er. »Ich will Griff Towers genau durchsuchen. Und ich habe nicht einmal die Absicht, Sir Gregory dazu um Erlaubnis zu bitten. Wenn es mir gelingt, das zu entdecken, was ich vermute, dann wird Gregory Penne die nächste Nacht hinter Schloß und Riegel schlafen!«