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Die lange Reihe von Rennpferden wanderte langsam den Abhang hinauf und verschwand über die Höhe. Edna sah, daß Goodie in einiger Entfernung auf einem großen, schwarzen Pferd hinter ihnen herritt. Das Kinn hatte er auf die Brust gesenkt und die Augen halb geschlossen. Edna beobachtete ihn durch ein scharfes Fernglas. Zuerst glaubte sie, daß er schliefe, aber darin täuschte sie sich. Er kam zu der Stelle, wo die Probegaloppe abgehalten wurden, und blieb dort stehen, während der Erste Trainer des Stalls den Leuten Instruktionen gab. Sein Rennstall war wahrscheinlich der einzige in ganz England, in dem nicht englisch gesprochen wurde. Viele der Reitknechte, die die Pferde betreuten, waren Mischlinge. Alle zwei Jahre wechselte Goodie seine Leute und hatte infolgedessen Auseinandersetzungen mit dem Arbeitsministerium, das ihm bei der Anstellung von Ausländern Schwierigkeiten machte.

 

Die Leute hatten einen Klub für sich, und wenn sie nach London gingen, wurden sie stets von Kollegen begleitet, die englisch sprachen.

 

Die Kerle konnten reiten wie der Teufel. Verschiedene von ihnen waren so gute Jockeis, daß sie sich auf jeder englischen Rennbahn ausgezeichnet hätten. Aber Goodie gestattete nicht, daß sie sich bei einem Rennen als Jockeis betätigten. In jedem Fall ließ er seine Pferde durch die besten englischen Jokeis reiten, und die Leute wußten nichts von den Vorzügen der Tiere, bis sie den Sattelplatz verließen. Die Instruktion, die er ihnen gab, lautete stets gleich: »Ich zahle Ihnen fünfhundert Pfund, wenn Sie dieses Rennen gewinnen.«

 

Wenn sie nicht gewannen, wußten sie, daß Goodie es auch gar nicht erwartet hatte.

 

Nun saß er im Sattel und beobachtete mit düsterem Blick, wie die Pferde über das Heideland auf ihn zugaloppierten. Es wurden immer zwei Pferde zu gleicher Zeit vom Start abgelassen. Alle waren an ihm vorübergekommen bis auf eines, und er wurde plötzlich lebhaft, als dieses in Sicht kam. Es war ›Weiße Lilie‹. Das Tier war in glänzender Form und hatte einen außerordentlichen, weiten Schritt, durch den es unheimlich schnell vorwärtskam. Im schnellsten Tempo jagte es an Goodie vorüber. Der Reitknecht, der das Pferd ritt, zog dann die Zügel an und kam in kurzem Bogen zu Goodie heran.

 

»Nun, wie war’s?«

 

Der farbige Stallknecht grinste.

 

»Das Pferd ist schneller als ein Flugzeug. Von Tag zu Tag geht es besser.«

 

Goodie brummte etwas, stieg vom Pferd, ging auf ›Weiße Lilie‹ zu und klopfte ihr den Hals. Dann ging er langsam um das Tier herum und befühlte jede Fessel und jede Muskelpartie.

 

»Decken Sie das Tier mit einer Decke zu und führen Sie es im Schritt zum Stall, Jose«, sagte er auf spanisch. »Für achthundert Peso habe ich den Gaul einmal gekauft – das ist ein Geschäft, was?« »Dios!« sagte der Mann und rollte mit den Augen. »Achthundert Peso!«

 

Es war eine Schwäche Goodies, sich gern seiner Geschäfte zu rühmen, selbst wenn es keine Geschäfte waren.

 

Lange sah er dem Pferd nach, dann stieg er wieder in den Sattel und ritt zu seinem Haus zurück. Edna sah ihn kommen, senkte das Glas und zog sich weiter in das Zimmer zurück, so daß sie ihn beobachten konnte, ohne selbst gesehen zu werden.

 

Mr. Goodie dachte im Augenblick aber weder an Frauen noch an Pferde; er dachte an das Manuskript, das halb fertig in seinem Safe lag und vielleicht niemals das Licht der Öffentlichkeit erblicken würde. Er war nämlich damit beschäftigt, eine Selbstbiographie zu schreiben, und zum Teil auch aus diesem Grund hatte er sein Haus mit einem hohen Drahtgitter umgeben lassen.

 

Er ging in sein Arbeitszimmer hinauf, öffnete den Safe, nahm die letzten Blätter seines Manuskriptes heraus und las sie langsam durch. Dann lächelte er – was er nur selten tat –, denn er mußte an Luke denken. In dem Manuskript hatte er ohne Umschweife und ohne etwas zu beschönigen, die Geschichte aller seiner Taten erzählt, die ihm später unsterblichen Ruhm einbringen sollten.

 

Daß er diese Memoiren überhaupt schrieb, war an und für sich schon Wahnsinn. Seine ungeheure Eitelkeit und das lockende Spiel mit der Gefahr waren verantwortlich dafür.

 

Edna hatte nicht viel Abwechslung auf dem Land und fühlte sich ein wenig gelangweilt durch die Abgeschlossenheit, in der sie lebte. Sie war meistens allein und mußte sich selbst unterhalten. Es war einsam, obgleich sie jeden Tag einen langen Ritt machte und mindestens zweimal in der Woche nach London fuhr.

 

Jedesmal hatte sie dann mit der Versuchung zu kämpfen, noch einen weiteren Tag im Hotel zu bleiben oder noch einmal ins Theater zu gehen.

 

Eines Abends kam sie müde und unruhig von London zurück. Sie hatte gehofft, Mark Luke zu treffen, doch der war nicht in der Stadt.

 

Um neun Uhr legte sie sich zu Bett, aber nach einer Viertelstunde kam sie zu der Überzeugung, daß sie noch nicht schlafen könne. Sie stand wieder auf, schlüpfte in ihren Morgenrock und griff nach einem der spannenden Bücher, die sie aus der Stadt mitgebracht hatte. Aber auch dadurch fand sie keine Ablenkung. Schließlich ging sie zum Fenster und schaute zwischen den Vorhängen hinaus. In dem hellen Mondschein sah sie die zerklüfteten Felsen in der Ferne; sie konnte sogar die kleinen schwarzen Flecke sehen, als die die Eingänge der Perrywig-Höhlen erschienen. Sie machte das Licht aus, zog die Vorhänge zurück und setzte sich auf einen Stuhl ans offene Fenster. Es war eine milde Oktobernacht, zum Träumen wie geschaffen.

 

Plötzlich hörte Edna, daß eine Tür zugeschlagen wurde. Der Schall kam aus der Richtung von Goodies Haus. Kurz darauf sah sie einen Mann, der sich scharf von der weißgetünchten Wand abhob, und als sie genauer hinsah, erkannte sie Mr. Goodie. Er ging langsam und leise auf die große Vertiefung zu, die von den Betonmauern eingefaßt war, machte eine eiserne Tür auf, sprach etwas und pfiff dann leise.

 

Dann verschwand er hinter einer Gruppe von Sträuchern, aber gleich darauf wurde er wieder sichtbar. Er bewegte sich nach der äußeren Ecke des Zaunes und trug etwas in der Hand. Ihm folgten zwei ungeheuer große Hunde mit langen Schwänzen.

 

Im Mondlicht nahm sich das alles phantastisch aus, und Edna war es, als ob die beiden Hunde zu unheimlicher Größe anwüchsen. Sie waren sicher größer als Bluthunde und bedeutend massiger als die größten Neufundländer. Gehorsam gingen sie hinter ihm her und hielten den Kopf zu Boden gesenkt. Dann lief der eine nach links; wahrscheinlich hatte er ein Kaninchen gewittert. Goodie rief ihn scharf zurück, und als das Tier langsam wieder zu ihm kam, knallte er mit der Peitsche, die er in der Hand hielt.

 

Die Gestalten wurden undeutlicher, als sich Goodie mit den beiden Hunden in der Richtung nach dem Eingang der Perrywig-Höhlen entfernte. Edna trat vom Fenster zurück und holte ihren Feldstecher. Ein leiser Dunst lag auf den Feldern, der es unmöglich machte, etwas genau zu erkennen. Eine Stunde verging, bevor sie Goodie und die beiden Tiere wiedersah. Diesmal liefen sie voraus und warteten, daß er das Tor für sie öffnen sollte. Wolken bedeckten den Mond, so daß sie nichts mehr weiter beobachten konnte.

 

Sie zog die Vorhänge wieder zu, legte sich zu Bett und fiel in einen unruhigen Schlaf. Zweimal wachte sie auf und sah nach der Uhr; jedesmal war kaum eine Stunde vergangen. Als sie zum drittenmal erwachte, hatte sie in ihren Träumen einen Schrei gehört. Sie richtete sich im Bett auf, am ganzen Körper zitternd. Wieder und wieder hörte sie diese grauenvollen Laute – es waren hohe, langgezogene Töne. Zuerst kam ihr der Gedanke, daß jemand in einiger Entfernung gefoltert würde – ihr Blut erstarrte, und sie konnte sich nicht rühren. Schließlich zwang sie sich aufzustehen. Sie ging mit unsicheren Schritten zum Fenster und zog die Vorhänge zurück.

 

Das Geräusch war aus der Richtung der Perrywig-Höhlen gekommen, aber sie konnte nicht sagen, aus welcher Entfernung. Während sie noch entsetzt in die Nacht hinausstarrte, hörte sie plötzlich eine Stimme und fuhr zusammen.

 

»Hoffentlich sind Sie nicht zu sehr erschreckt worden, Miss.«

 

Der Mann stand direkt unter ihrem Fenster und war bis zum Kinn in einen grauen Mantel gehüllt. Aber sie erkannte Lanes Stimme und wußte, daß er es war, bevor er seinen Namen nannte. In dem schwachen Mondlicht sah sie den Lauf eines Gewehres.

 

»Was war denn das?« fragte sie leise und erleichtert.

 

»Ich weiß es nicht. Seit vier Uhr bin ich auf.«

 

»Warum haben Sie denn die Waffe bei sich?«

 

»Ich dachte, daß vielleicht Wilddiebe draußen wären.«

 

Er ging bis zur Mauer und kam nach einer Weile zurück.

 

»Ich habe ein neues Schloß an die Tür machen lassen – ein Yale-Schloß. Sie finden den Schlüssel in Ihrer Bibliothek. Aber ich gebe Ihnen den Rat, die Tür nicht zu öffnen, ganz gleich, ob es Tag oder Nacht ist.«

 

»Was sind das für große schwarze Hunde?«

 

»Hunde? Ach, haben Sie die Tiere gesehen? Ist er mit ihnen draußen gewesen? – Ich meine, Goodie? Hat er sie mitgenommen?« »Er ist zu den Perrywig-Höhlen gegangen«, sagte sie..

 

»Das dachte ich mir schon«, entgegnete er zu ihrem größten Erstaunen ruhig. »Eine sonderbare Zeit, und in der Nacht trainiert man doch keine Rennpferde.«

 

»Ich möchte nur wissen, was das für unheimliche Hunde waren!«

 

»Das weiß ich auch nicht. Ich habe schon viel von ihnen gehört, sie aber noch nie gesehen. Er hält sie in einem unterirdischen Käfig gefangen; deshalb ist es auch besser, Sie benutzen diese Tür nicht. Die Tiere sind sehr gefährlich. Er wird natürlich mit ihnen fertig – wozu ist er Tierbändiger.«

 

Sie sprachen sehr leise, trotzdem schien es jemand gehört zu haben, denn gleich darauf wurde eine Tür an der Hinterseite des Hauses geöffnet, und sie vernahmen die Stimme des Butlers.

 

»Sind Sie es, Jimmy?«

 

»Ja, ich bin’s«, erwiderte Lane.

 

Penton trat vor, so daß sie ihn sehen konnten. Edna bemerkte, daß er etwas in die Tasche steckte, und wunderte sich, was er wohl in der Hand gehabt haben mochte.

 

»Entschuldigen Sie, Miss, aber ich habe einen Schrei gehört.«

 

»Sie müssen auch einen leichten Schlaf haben, Penton«, meinte sie und lehnte sich fröstelnd aus dem Fenster.

 

Die beiden Männer gingen um die Hausecke und sprachen leise miteinander, während Edna ins Zimmer zurücktrat und sich beruhigt zu Bett legte. Dankbar dachte sie an Luke; er hatte ihr diese beiden starken Wächter verschafft, die auf das kleinste Geräusch lauschten. Dann schlief sie ein, und als sie wieder erwachte, war es bereits zehn Uhr morgens, und die Sonne lachte ins Fenster.