5

 

Mit schwerem Herzen kehrte Jim Bartholomew vom Bahnhof zurück. Frank hatte ihm angeboten, ihn zur Bank zurückzufahren, aber er hatte es abgelehnt. Frank bestand jedoch darauf, daß Jim am Abend mit ihm speisen sollte. Die Tatsache, daß Sanderson in besonders gehobener Stimmung war, vertiefte das Gefühl der Verlassenheit, das Jim spürte, noch mehr. Er ärgerte sich, daß der andere ein paar fröhliche Schlagermelodien vor sich hinpfiff, während er arbeitete, und schließlich konnte er es nicht mehr aushalten.

 

»Was zum Teufel machen Sie da wieder für ein Konzert?« fragte Jim, während er die Tür zu dem anderen Büro öffnete.

 

»Ach, ich bin nur vergnügt, weiter nichts. Wissen Sie, was die ›Vier Großen‹ –«

 

»Ach, lassen Sie mich mit Ihren ›Vier Großen‹ in Ruhe«, sagte Jim gereizt und war erstaunt, daß sein Assistent lachte. Er wandte sich von der Tür ab.

 

»Nun, was ist denn mit Ihnen los?« Schließlich war ihm jede Gelegenheit willkommen, die ihm Zerstreuung brachte.

 

»Ich habe mir einmal die Mühe gemacht und alle Belohnungen zusammengestellt, die auf ihre Ergreifung ausgesetzt sind. Was meinen Sie, auf welche Höhe sich die Summe beläuft?«

 

»Keine Ahnung.«

 

»Hundertzwanzigtausend Pfund! Die italienische Regierung hat allein fünfzigtausend Pfund für die Wiederbeschaffung der Negretti-Diamanten ausgesetzt. Sie mußten über kurz oder lang doch an den Staat fallen, der Herzog von –«

 

»Ach, hören Sie doch von Geld auf«, sagte Jim müde. »Müssen Sie denn nicht schon den ganzen Tag mit Pfund, Dollars, Mark und Francs rechnen –«

 

»Ach nein, das wird mir nie zuviel«, entgegnete der Assistent offen.

 

Jim ging in sein Zimmer zurück, und Sanderson folgte ihm.

 

»Ich möchte Sie einmal etwas fragen, Mr. Bartholomew.«

 

»Nun, was denn?«

 

»Schreiben Sie doch bitte an die Generaldirektion in London und beantragen Sie noch einen zweiten Dienstrevolver für uns. Wir haben nur einen, und der ist in Ihrem Schreibtisch. Sie wissen ja, daß ich hier oben über den Büroräumen wohne und überhaupt keine Waffe habe.«

 

»Nehmen Sie meine. Was sind Sie doch für ein blutdürstiger Mensch! Wahrscheinlich gehen Sie zu oft ins Kino.«

 

»Ins Kino? Ich?« Sanderson war in seiner Ehre gekränkt. »Sie glauben doch nicht, daß ich mein wohlverdientes Geld für solchen Unsinn ausgebe? Der einzige Film, den ich mir angesehen habe, war ein Kulturfilm, der das Leben der Bienen zeigte. Wenn diese verdammten Kinos tatsächlich mehr Derartiges bringen würden, ginge ich auch regelmäßig in die Vorstellungen.«

 

»Hier ist der Revolver«, sagte Jim, schloß eine Schublade auf und nahm eine ziemlich große Schußwaffe heraus. »Seien Sie aber vorsichtig, das Ding ist geladen.«

 

»Legen Sie ihn ruhig wieder zurück. Schließen Sie aber bitte nicht zu, damit ich die Waffe heute abend herausnehmen kann.«

 

»Warum brauchen Sie denn überhaupt einen Revolver?« fragte Jim neugierig.

 

»Ich habe das ungewisse Gefühl, daß wir früher oder später irgendwie mit den ›Vier Großen‹ zu tun bekommen werden«, erklärte Sanderson ernst, fast feierlich.

 

»Ach, reden Sie doch nicht solchen Unsinn!« Jim schüttelte den Kopf. »Was sollten die denn in einem so kleinen Nest suchen? Was könnten die denn auf der Bank hier finden? Meinetwegen sollen sie ruhig all die überzogenen Konten unserer kleinen Kunden stehlen.«

 

»Vergessen Sie nicht, daß wir Diamanten im Wert von hunderttausend Pfund in unserer Stahlkammer haben«, entgegnete Sanderson.

 

Jim wurde ernst.

 

»Ja, da haben Sie recht. Die müssen am Dienstag nach London geschafft werden.«

 

In diesem Augenblick kam Sturgeon, ein reicher Farmer, in die Bank, der ein Gut von eintausendfünfhundert Morgen in der Gegend besaß. Er warf einen schnellen Blick auf die große Uhr, als er hereintrat.

 

»Nun, das habe ich ja noch einmal geschafft«, meinte er und legte sein Bankbuch mit einem größeren Scheck zur Einzahlung auf den Zahltisch.

 

Jim, der in der Tür seines Büros stand, nickte ihm zu.

 

»Wenn es sich darum handelt, Einzahlungen entgegenzunehmen, machen wir Überstunden, aber wenn es sich um Auszahlungen handelt, sind wir sehr peinlich auf Einhaltung der Bürozeit bedacht«, meinte er.

 

»Hallo, Bartholomew!« rief Sturgeon. »Ich sah, wie eine gute Bekannte von Ihnen vor einer halben Stunde an der Haltestelle beim Stadtwald ausstieg.«

 

Es handelte sich um eine kleine Station außerhalb der Stadt, wo Züge gelegentlich hielten und Passagiere aus- und einstiegen, die aus den Dörfern jenseits des Waldes kamen.

 

»Ich habe so viele Bekannte, daß ich nicht weiß, wen Sie meinen.«

 

»Mrs. Cameron.«

 

»Ach, da haben Sie aber Traumbilder gesehen. Das kann nicht stimmen. Mrs. Cameron ist nämlich heute nachmittag gleich nach Tisch nach London gefahren.«

 

»Vielleicht doch nicht. Ich habe sie mit meinen eigenen Augen aus dem Zug kommen sehen. Dann stieg sie in ihr Auto, das vor dem Bahnhof wartete.«

 

»Am Ende haben Sie doch recht gesehen«, sagte er.

 

»Ja, ich irre mich nicht. Meine Augen sind noch sehr gut.« Sturgeon nahm sein Bankbuch und ging lächelnd zur Tür. »Also, auf Wiedersehen!«

 

Jim kehrte in sein Zimmer zurück und schloß die Tür.

 

Mrs. Cameron war mit dem Dreiuhrzug fortgefahren, der in Bristol Anschluß an den Schnellzug nach Schottland hatte. Eine Stunde vor Margot war sie abgefahren, die den Zug nach Exeter nahm, um später in Yeovil den Zug nach Southampton zu erreichen.

 

Einen Augenblick hatte Jim zu hoffen gewagt, daß es Margot gewesen wäre.

 

Er mußte mit Frank darüber sprechen, der konnte ihm alles erklären. Er ging zum Telefon, aber dann überlegte er es sich anders. Mrs. Cameron würde kaum ihren Plan ändern, ohne vorher mit ihrem Mann darüber gesprochen zu haben. Aber er erinnerte sich genau, daß Frank ziemlich gleichgültig geäußert hatte, seine Frau wollte einen Besuch in Schottland machen. Sonst hatte er kaum etwas über ihren neuen Entschluß gesagt. Es war merkwürdig.

 

Als er am Abend zum Essen nach Moor House kam, glaubte er schon Cecile Cameron im Wohnzimmer zu treffen, aber sie war nicht dort, und Frank erwähnte sie auch nicht. Das war ein außergewöhnlicher Umstand, denn er war sehr um sie besorgt und wurde sonst nicht müde, über sie zu sprechen. Die Unterhaltung stockte dauernd, und Jim fühlte sich sehr einsam, weil ihm Margot fehlte. Er sprach ganz offen über sie, und Frank ermutigte ihn hierbei. Es schien Jim fast so, als ob Frank Mrs. Cameron nicht erwähnen wollte. Als Jim einmal andeutete, Cecile könnte vielleicht Schwierigkeiten gehabt haben, um den Expreßzug nach Schottland zu erreichen, änderte er sofort das Gesprächsthema.

 

Jim ging ein wenig niedergeschlagen nach Hause. Er fühlte sich einsam und verlassen. Ein leichter Sprühregen fiel, aber Jim hatte seinen Regenmantel im Büro zurückgelassen. Auf dem Rückweg kam er an der Bank vorbei und tastete in der Tasche nach dem Büroschlüssel. Zu seiner Beruhigung fühlte er den Bund. Er beschleunigte seine Schritte und überholte dabei den Polizeiinspektor.

 

»Eine häßliche Nacht, Mr. Bartholomew«, sagte der Beamte, als er ihn erkannte. »War das das Auto von Mr. Cameron, das ich vor einer halben Stunde in der High Street sah? Es steht jetzt dort.«

 

Er zeigte auf das rote Schlußlicht eines großen Wagens auf der gegenüberliegenden Seite der Straße.

 

»Nein, das kann nicht das Auto von Mr. Cameron sein. Steht der Wagen schon lange dort?«

 

»Etwa eine halbe Stunde. Dann gehört er wahrscheinlich einem der Gutsbesitzer aus der Gegend. Heute abend findet nämlich ein Schülerkonzert in der Church Hall statt.«

 

Die Stadt Moorford war sehr sparsam veranlagt, und die Verwaltung hatte beschlossen, die Bogenlampen an hellen Mondnächten nicht brennen zu lassen. Da nun nach dem Kalender an diesem Abend der Mond scheinen sollte, brannten die Laternen nicht, obwohl schwere Wolken den Himmel bedeckten und der Regen dauernd niederging. Jim konnte unmöglich die Umrißlinien des Wagens auf der gegenüberliegenden Straßenseite erkennen.

 

Als die beiden zur Bank kamen, nahm er seinen Schlüssel heraus, der die Tür zum Seiteneingang öffnete.

 

»Wollen Sie noch arbeiten?«

 

»Nein, ich will nur meinen Regenmantel mitnehmen. Sicher werde ich Sie bald wieder einholen.«

 

Der Inspektor ging weiter; Jim trat in die Bank und schloß die Tür.

 

Als der Inspektor an dem großen Gebäude vorüberging, sah er Licht in den Fenstern der Räume über der Bank, die Mr. Stephen Sanderson bewohnte. Außerdem sah er auch Licht in dem Büro des zweiten Direktors.

 

Er war kaum ein Dutzend Schritte weitergegangen, als er plötzlich einen Schuß hörte und sich umwandte. Er lauschte, hörte aber keinen Schrei oder sonstige Geräusche. Trotzdem mußte es unweigerlich ein Schuß gewesen sein. Der Inspektor war ein alter Soldat und irrte sich in der Beziehung nicht. Schnell ging er zur Bank zurück und sah durch das große Fenster. Er entdeckte eine Gestalt an der Glastür, die zu Sandersons Büro führte, und klopfte.

 

Dann eilte er zu dem Seiteneingang. Die Tür war nur angelehnt, obwohl er sich deutlich erinnern konnte, daß Bartholomew sie verschlossen hatte.

 

Mit der Taschenlampe leuchtete er in den Eingang und trat dann selbst ins Haus. An der linken Seite des Ganges befand sich eine Tür; er drückte die Klinke nieder und stand gleich darauf im Privatbüro Jim Bartholomews. Auch das Zimmer war leer; der Schlüssel steckte noch im Schloß.

 

»Wer ist da?« rief eine Stimme.

 

»Polizeiinspektor Brown – ist etwas nicht in Ordnung?«

 

»Treten Sie doch näher, Inspektor.«

 

Der Beamte ging quer durch das Zimmer, öffnete die Glastür, die in Sandersons Raum führte, und blieb wie angewurzelt stehen.

 

Jim Bartholomew sah in kniender Haltung auf einen Mann, der bewegungslos neben dem Schreibtisch lag.

 

»Um Himmels willen, was ist denn mit Mr. Sanderson geschehen?«

 

»Er ist tot«, entgegnete Jim düster und schaute auf den Revolver in seiner Hand. »Ein Schuß aus meiner Waffe muß ihn getötet haben.«

 

*

 

»Ich hörte den Schuß, als ich meine Tür aufschloß«, erklärte Jim, »und eilte hinein. Aber ich fand niemand in den Büroräumen.«

 

Er erhob sich und ging zur Tür, die in den Gang führte. Sie war nicht verschlossen.

 

»Der Täter muß diesen Weg genommen haben. Gehen Sie doch hinaus auf die Straße, Brown. Ich will das Haus durchsuchen. Der Täter kann nicht weit entfernt sein.«

 

Aber allem Anschein nach war der Mörder auf dem Weg entkommen, auf dem sowohl Jim als auch Inspektor Brown das Haus betreten hatten. Vermutlich befand er sich in nächster Nähe, als der Inspektor durch die angelehnte Tür in die Bank ging. Als der Beamte aber wieder auf die Straße hinaustrat, war niemand mehr zu sehen. Weiter unten die Straße entlang leuchtete ein kleines rotes Schlußlicht. Es mußte das Auto sein, das sie auf der anderen Seite der Straße bemerkt hatten, und das sich jetzt in schneller Fahrt entfernte.

 

Jim durchsuchte alle Ecken und Winkel, fand aber nichts. Nur so viel konnte er feststellen, daß sich zwei Personen in dem Zimmer aufgehalten hatten. Sanderson mußte also Besuch gehabt haben. Zwei leere Kaffeetassen standen in der Wohnung auf dem Tisch, und im Aschenbecher lag das Ende einer Zigarette. Jim sah, daß es die Marke war, die sein Assistent gewöhnlich rauchte.

 

Andere Anhaltspunkte fand er nicht. Er ging wieder zum Büro zurück und beugte sich über den Toten. Sanderson war aus kürzester Entfernung erschossen worden; er mußte einen schmerzlosen Tod gehabt haben, denn seine Züge waren heiter. Sein Gesicht zeigte noch einen Schimmer der frohen Stimmung, in der er am Nachmittag gewesen war.

 

Die eine Hand des Ermordeten lag flach und offen auf dem Boden, die andere war zusammengekrampft. Jim hob sie auf und entdeckte zwischen den Fingern ein kleines Stück Papier. Er brach sie auf und nahm es heraus. Als er es am Tisch beim Licht der Lampe genauer betrachtete, war es ein Stück einer Photographie, das gewaltsam abgerissen war. Das Gesicht war nicht zu sehen, aber eine Hand, die einer Frau gehören mußte. Als Jim auf den kleinen Fetzen starrte, schien sich plötzlich der ganze Raum um ihn zu drehen. Er hielt sich an der Tischecke fest, um nicht umzusinken, denn er erkannte den Ring: Es waren die drei Töchter der Nacht.

 

Was hatte diese Photographie von Mrs. Cameron hier zu suchen?

 

Der Mörder hatte Sanderson umgebracht, um sich in den Besitz dieser Photographie zu setzen. Woher hatte Sanderson sie nur? Jim erinnerte sich plötzlich an den Stoß Photographien, die der Staatsanwalt von New York seinem Assistenten geschickt hatte.

 

Und nun fiel ihm auch wieder ein, wie sehr Mrs. Cameron erschrak, als sie Sanderson sah. Und daraufhin hatte sie ihre Pläne geändert… Was hatte es zu bedeuten, daß sie auf der Station dicht bei der Stadt ausstieg, während doch alle Leute annehmen mußten, daß sie auf dem Weg nach Schottland war? Er sank schwer in einen Stuhl und stützte den Kopf in die Hände. Jim wußte nicht, was er tun sollte, zitterte vor Erregung und fühlte sich körperlich krank.

 

In dem Augenblick hörte er laute Schritte draußen im Gang. Sofort steckte er mechanisch die abgerissene Ecke der Photographie in seine Westentasche, erhob sich und ging dem Inspektor entgegen, der allein zurückkehrte.

 

»Ich muß den Arzt holen, Mr. Bartholomew. Der Polizeiarzt ist unglücklicherweise nicht in der Stadt anwesend, deswegen rufe ich Dr. Grey von Oldshot. Wollen Sie solange warten?«

 

Jim nickte. Ihm war es nur recht, wenn er etwas Zeit zum Nachdenken hatte.

 

Es dauerte eine halbe Stunde, bis der Inspektor mit dem Arzt und einem Polizisten zurückkam, den er unterwegs in der Stadt getroffen hatte. Der Inspektor war überrascht. Die Tür stand angelehnt, aber Jim Bartholomew war nicht mehr da. Auf dem Schreibtisch lagen ein Zettel und ein Schlüssel. Auf dem Papier standen die Worte: »Telegraphieren Sie an unsere Bank in Tiverton, daß man einen neuen Direktor hierhersenden soll, der die Geschäfte weiterführt, und geben Sie ihm diesen Schlüssel.«

 

Der Beamte sah bestürzt von dem Doktor zu dem Polizisten.

 

»Ich verstehe nicht, was das zu bedeuten hat«, sagte er verwirrt. »Warum ist Mr. Bartholomew nur fortgegangen, und wohin hat er sich gewandt?«

 

Diese beiden Fragen wurden verhältnismäßig bald beantwortet. Um zwei Uhr nachts wurde dem Inspektor berichtet, daß Mr. Bartholomew mit dem letzten Zug nach Exeter gefahren war, gerade als die letzten Wagen aus dem Bahnhof fuhren. Um zehn Uhr am nächsten Morgen kam ein Bankbeamter, der in aller Eile den Inhalt der Stahlkammer untersuchte.

 

Mit einem Stoß von Papieren in der Hand kam er wieder zurück, legte sie auf den Tisch seines Büros und nahm dann Einsicht in das Buch für Depositen.

 

»Depot Nr. 64«, las er langsam, »ein Halsband, mit Diamanten besetzt, Eigentum von Mrs. Stella Markham auf Tor Towers. Deponiert am 19. September. Wert 112 000 Pfund und versichert bei der Bank. Prämie bezahlt.«

 

Er sah von dem Buch auf das geöffnete Paket. Die Siegel waren aufgerissen, die Schnüre zerbrochen. Das braune Papier hing in Fetzen herunter, und der Glaskasten – war leer.

 

Am selben Nachmittag wurde ein Steckbrief hinter Jim Bartholomew erlassen, den man wegen Mordes und Einbruchs anklagte. Seine Personalbeschreibung wurde telegraphisch im ganzen Land verbreitet, etwas später ebenfalls durch Radio. Dringende Anfragen wurden an alle Dampfer gesandt, die an dem Tag England verlassen hatten. Aber von allen kam die Antwort zurück: »Nicht an Bord.«