16

 

»So, jetzt sind wir am Ende der Reise angekommen«, meinte Jim Bartholomew.

 

»Wieso?« fragte Margot und sah sich erstaunt um. Ein leichter Dunst lag auf dem Wasser, aber die ›Ceramia‹ fuhr mit höchster Geschwindigkeit.

 

»Wenn du genau aufpaßt, kannst du die laute Sirene hören, die jede Minute ertönt. Das ist Fire Island.«

 

»Du scheinst dich sehr gut auszukennen, obwohl du die Reise noch niemals gemacht hast.«

 

»Ich bin noch nicht in den Vereinigten Staaten selbst gewesen, aber beim Leuchtschiff von Fire Island war ich schon einmal. Im Krieg habe ich einmal flüchtige Unterseeboote bis hierher verfolgt.«

 

Gleich darauf hörten sie deutlich die Sirene. Sie standen beide auf dem Vorderdeck unter der Kabine des Kapitäns und hörten den Maschinentelegraphen. Kurz darauf verringerte sich das Geräusch der Schiffsmaschinen.

 

»Wir fahren langsamer«, sagte er.

 

Margot legte ihren Arm in den seinen.

 

»Ich möchte dich etwas fragen.«

 

Er wußte, was das sein würde und schwieg.

 

»Was passiert mit Mrs. Markham?«

 

Er sah sie scharf an.

 

»Was weißt du denn von ihr?«

 

»Sage mir doch, was mit ihr passiert.«

 

»Weißt du denn, wer sie ist?«

 

Sie nickte.

 

»Cecile hat es mir heute morgen gesagt. Mrs. Markham ist ihre Schwester, die gestorben sein sollte. Sie ist mit diesem Mann verheiratet, den sie als ihren Butler ausgibt.«

 

Er sah nachdenklich zur Seite, bevor er antwortete.

 

»Weiß Frank davon?«

 

»Ja. Sie hat Frank alles gebeichtet an dem Tag, an dem sie angeblich nach Schottland fuhr. Frank hat sich während der ganzen Zeit sehr vornehm und anständig ihr gegenüber benommen. Aber nun sage mir doch, was droht Mrs. Markham?«

 

»Nichts. Sanderson hat zwar die Bande die ›Großen Vier‹ genannt, aber unter diesem Namen sind sie weder in England noch in Amerika der Polizei bekannt. Die Leute, hinter denen sie her waren, sind Talbot, Trenton und Romano.«

 

Sie runzelte die Stirn.

 

»Romano? Du meinst doch nicht etwa diesen eleganten Offizier?«

 

»Ja, das ist er. Aber der Name von Mrs. Trenton ist niemals erwähnt worden. In Scotland Yard weiß man von ihrer Existenz, aber man hält sie mehr oder weniger für ein Opfer dieses Trenton. Ich habe mit den Detektiven eingehend darüber gesprochen. Die amerikanische Polizei denkt ebenso. Einer der Beamten hat deshalb gestern noch in Washington durch ein Radiotelegramm angefragt und eine Antwort erhalten, die zugunsten von Mrs. Trenton ausgefallen ist. Die einzige Gefahr besteht natürlich darin, daß Trenton aus reiner Gemeinheit seine Frau in die Sache hineinzieht. Der Mann hat einen entsetzlichen Charakter.«

 

Margot zitterte.

 

»Es ist schrecklich, wenn man daran denkt. Sie ist mit ihm durchgebrannt, als sie noch auf die Schule ging, aber sie ist entsetzlich für ihren Leichtsinn gestraft worden.«

 

»Ich hoffe, daß ihre Sorgen jetzt zu Ende sein werden«, erwiderte Jim, und seine Worte hatten weit mehr zu bedeuten, als Margot im Augenblick ahnen konnte.

 

Winter war zur Kabine seiner Frau zurückgekehrt und mit Packen beschäftigt, als der Maschinentelegraph die Geschwindigkeit des Schiffes verminderte.

 

»Warum fährt das Schiff langsamer?« fragte Stella müde.

 

»Zum Donnerwetter, woher soll ich das wissen? Geh doch zum Kapitän und frag den.«

 

Mrs. Markham zuckte die Schultern.

 

»Winter, du wirst ganz unmöglich. Während der ganzen Reise habe ich versucht, dir zu helfen, aber durch dein Benehmen hast du alle meine Versuche nutzlos gemacht.«

 

»Wenn ich deinen Rat will, frage ich danach, und wenn ich den Wunsch habe, daß du den Schnabel auf- und zumachst und wie eine Gans schnatterst, will ich dir in Zukunft eine schriftliche Erlaubnis erteilen. Jetzt machst du aber auf jeden Fall die Klappe zu und bist ruhig. Ich habe auch noch ein Hühnchen mit dir und Tony zu rupfen.«

 

Er war damit beschäftigt, einen Koffer zuzuschnallen. Mrs. Markham saß mit gefalteten Händen und starrte ins Leere.

 

»Wo wir auch bleiben, westlich oder östlich des Atlantik, immer ist das Leben mit dir eine Hölle.«

 

»Willst du wohl das Maul halten?« fuhr er sie hart an und hob drohend die Faust. »An einem der nächsten Tage –« er sah sie wütend an. »An einem der nächsten Tage, meine Liebe –«

 

Sie zuckte die Schultern.

 

»An einem der nächsten Tage soll mir vermutlich dasselbe passieren wie Talbot. Jim Bartholomew hast du ja auch um die Ecke bringen wollen!«

 

Er ging zum Fenster ihres Schlafzimmers und sah hinaus.

 

Der Mast eines kleinen Bootes schwankte neben der Reling und verschwand nach hinten. Er wurde bleich.

 

»Das war ein Polizeiboot«, sagte er heiser.

 

Sie zuckte die Schultern aufs neue und verließ die Kabine.

 

»Wohin gehst du?«

 

»An Deck, um zuzusehen.«

 

»Komm sofort zurück«, rief er ihr zu, und als sie seiner Aufforderung nicht folgte, argwöhnte er, was sie im Sinn hatte. Er stieß einen Wutschrei aus und eilte hinter ihr her.

 

In langen Sätzen raste er den Gang zwischen den Kabinen entlang, trat aufs Deck hinaus und sah sich nach ihr um. Aber er konnte sie nicht entdecken. Gleich darauf beobachtete er eine Szene, die ihn vollständig aus der Fassung brachte.

 

Tony stand ein paar Schritte vom Saloneingang entfernt und war von drei Männern umringt, die allem Anschein nach mit dem Polizeiboot vom Land gekommen waren. Winter konnte wieder den Mast sehen, der über die Reling hinausragte. Und obwohl sich Tony lächelnd mit den Leuten unterhielt, wurde er doch von einem der Fremden fest am Arm gepackt.

 

Er versuchte, zu seiner Kabine zurückzugehen, aber jetzt trat ein vierter in den Gang, und hinter ihm erschien Jim Bartholomew.

 

»Ich verhafte Sie, Trenton«, sagte der Mann, »und wenn Sie vernünftig sind, machen Sie keinen Spektakel. Strecken Sie die Hände aus.«

 

Das Spiel war verloren, Flucht unmöglich. Trentons Gesicht sah eingefallen und aschgrau aus, als die Handschellen über seinen Gelenken einschnappten. Der Fremde packte ihn am Arm und führte ihn zu den anderen, die Tony Romano umringt hatten. In der kurzen Zeit hatte Trenton einen Entschluß gefaßt.

 

»Guten Morgen, Chefinspektor«, sagte er, als er einen der Beamten erkannte.

 

»Guten Morgen, Trenton«, erwiderte dieser kühl. »Der dritte Mann ist also tot, wie Sie sagen«, wandte er sich dann an einen der Detektive von Scotland Yard.

 

»Ja, der ist erledigt«, entgegnete Romano heiter. »Diese Tatsache kann ich bezeugen, denn ich habe ihn selbst umgebracht. Nun, mein lieber Winter«, fuhr er fort und sah seinen Komplicen lächelnd an, »wir wollen machen, daß wir weiterkommen und von Bord gehen.«

 

»Einen Augenblick«, sagte Trenton heiser. »Sie suchen doch drei Personen – oder irre ich mich?«

 

»Ja, zwei Lebende und einen Toten«, erklärte einer der Polizeibeamten.

 

»Nun gut, Sie sollen drei Lebende gefangennehmen.«

 

Tony Romano hatten sie keine Handschellen angelegt, und er stand in seiner gewöhnlichen, nachlässigen Haltung da. Ein Lächeln spielte um seine Lippen.

 

»Mein Freund«, sagte er, »du hast eben gehört, daß der Chefinspektor nur drei braucht, zwei Lebende und einen Toten. Willst du noch mehr?«

 

»Ja«, fuhr Trenton ihn wütend an.

 

»Du bist eben ein gemeiner Lump«, erwiderte Tony. »Aber du sollst haben, was du wünschst.«

 

Er hatte vollkommen ruhig gesprochen, und keiner der Anwesenden ahnte etwas von seiner Absicht. Nur seine Armmuskeln schienen sich zusammenzuziehen, dann sprang er vorwärts. Die Umstehenden glaubten, daß er Trenton umarmte.

 

»Können Sie sich denn gar nicht ruhig benehmen?« sagte der Chefinspektor scharf. »Legen Sie ihm Handschellen an, Riley«, wandte er sich an einen seiner Leute.

 

Dann sah er Trentons starres Gesicht: das Kinn war auf die Schulter des Spaniers gesunken.

 

»Das genügt«, meinte Romano.

 

Als er Trenton losließ, sank dieser zu Boden.

 

»So, meine Herren, hier ist das Messer«, erklärte der Spanier und ließ die lange Dolchklinge zu Boden fallen.

 

Sie legten ihm die Handschellen an.

 

»Mit Trenton brauchen Sie sich keine Mühe zu machen«, sagte er, als sich die Beamten über den Mann am Boden beugten und die Wunde zu verbinden suchten. »Der ist mausetot und sagt keinen Ton mehr, er starb auf dieselbe Weise wie mein Freund Talbot, und es ist besser so. Ich möchte nicht mit solchen Lumpen vor Gericht stehen.«

 

Sie brachten ihn schleunigst zum F-Deck hinunter, wo sie ihn in aller Eile durchsuchten.

 

»Meiner Meinung nach finden Sie fast alle Juwelen, die die Leute von ihrer Raubfahrt nach Europa mitbringen, in den Breeches von Romano«, sagte Jim ruhig.

 

Der Spanier lächelte.

 

»Sie haben vollkommen recht, sonst hätte dieses Kleidungsstück ja auch keinen Zweck gehabt«, entgegnete er kühl und schlug mit den gefesselten Händen gegen das Beinkleid. »Es ist drei Millionen Dollar wert.«

 

Vom F-Deck führte ein Fallreep direkt zum Polizeiboot. Als sie Romano fortführten, wandte er sich noch einmal an Jim.

 

»Meine respektvollen Empfehlungen an alle, die liebenswürdig zu mir waren.« Er sah Bartholomew direkt in die Augen, und dieser wußte, daß das ein letzter Gruß an Stella Markham war. »Bitte, entschuldigen Sie mich auch bei Miss Cameron. Ich bin in ihre Kabine gegangen, um mich zu vergewissern und zu beruhigen. Es war etwas dort, was ich zu finden hoffte, und es ist auch noch dort.«