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Luke Maddison betrat sein Büro so ruhig, daß Steele, der ihn vorbeigehen sah, nicht im entferntesten ahnen konnte, welch eine Katastrophe das Leben seines jungen Herrn zerstört hatte. Steele blickte auf die Uhr und knurrte zufrieden. Augenscheinlich war die Angelegenheit mit dem Scheck in befriedigender Weise erledigt. Der Apparat auf seinem Tisch läutete, und er nahm den Hörer ab.

 

»Wollen Sie, bitte, zu mir kommen?« Lukes Stimme war fest wie immer und verriet auch nicht durch das geringste Schwanken, was in ihm vorging.

 

Er war selbst über seine eigene, eisige Ruhe überrascht, und es verging geraume Zeit, bis er den Grund für diesen unnatürlichen Gleichmut gefunden hatte: er lebte gänzlich in der Gegenwart, wagte es nicht, zurückzublicken, war gleichgültig dem gegenüber, was ihn am anderen Morgen erwartete.

 

Steele, der ihn schon von klein auf kannte, sah etwas in seinen Gesichtszügen, das er nie zuvor dort gesehen hatte, und war betroffen.

 

»Etwas vorgefallen, Sir?« fragte er besorgt.

 

Luke spitzte die Lippen, als ob er pfeifen wollte.

 

»Ich weiß es nicht … ich bin mir noch nicht über die ganze Sachlage klargeworden. Nehmen Sie Platz, Steele.«

 

Er spitzte wieder die Lippen, starrte an seinem Prokuristen vorbei und begann dann in gleichmäßigem, ruhigem Ton zu erzählen, was geschehen war. Es war nicht der gegebene Moment, etwas zurückzuhalten, er fühlte auch nicht die Notwendigkeit, Margaret zu decken oder ihre Handlung zu entschuldigen. Er hatte mit reinen, nackten Tatsachen zu tun, und er setzte diese mit einer kaltblütigen Genauigkeit auseinander, als ob es sich um Werte eines Bankprospektes handelte. Steele hörte, war aber unfähig, den Umfang des Unheils sofort zu übersehen. Endlich stöhnte er laut auf, und dies schien einen verborgenen Sinn für Humor in Luke Maddison zu wecken. Er lächelte.

 

»Sie müssen es machen, so gut Sie können, Steele. Ich nehme an, Sie haben Freunde in der City, die Ihnen vielleicht behilflich sein werden. Aber ich habe keine Lust, mich an diese zu wenden, kein Vertrauen – habe zu nichts mehr Vertrauen … nein, ich bin nicht betäubt, ich bin erledigt. Aber ich jammere nicht um mich selbst, es tut mir nicht leid um mich… ich wünschte, es wäre so … das würde mich wenigstens etwas in die Wirklichkeit zurückbringen.«

 

»Aber was wollen Sie denn anfangen?« Steele flüsterte beinahe unverständlich. Luke Maddison schüttelte den Kopf.

 

»Das kann ich wirklich nicht sagen. Was tut man eigentlich in einem solchen Fall? Nach Afrika gehen und Löwen schießen! Ist das nicht der gebräuchliche Weg für Leute, deren Herz gebrochen ist? Ich weiß es wirklich nicht.«

 

Steele sah auf seine Uhr und stand auf.

 

»Ich gehe jetzt nach der Bank«, sagte er mit bemerkenswerter Energie. »Ich glaube, wir können unsere Kunstseideaktien als Sicherheit für die neunundsiebzigtausend Pfund hinterlegen.«

 

Luke antwortete nicht. Er hörte, wie Steele in abgehackten Worten seine Anweisung gab – wenn der alte Mann erregt war, sprach er ständig in dieser Weise – dann wurde er sich bewußt, daß Steele gegangen war, und schloß die Tür. Zehn Minuten lang saß er an seinem Tisch, blickte starr vor sich hin und versuchte, sich wieder in sein Leben zurechtzufinden. Schließlich stand er auf, ergriff seinen Hut, zog sich mechanisch die Handschuhe an und verließ das Haus durch den Privateingang. Als er die Tür seiner Wohnung öffnete, hörte er das Telephon läuten und hatte gerade noch Zeit, den Diener aufzuhalten, der an den Apparat gehen wollte.

 

»Lassen Sie es klingeln«, sagte er. Der Apparat befand sich in seinem eigenen, kleinen Arbeitszimmer, das neben dem Schlafzimmer lag. Er nahm den Hörer ab, legte ihn auf den Tisch. Dann schloß er die Tür und begann sich umzuziehen. Er nahm, was ihm unter die Hände kam, und bemerkte erst, als er völlig angekleidet war, daß Rock und Beinkleid nicht zueinander paßten. Er zählte sein Geld und fand etwas mehr als fünfzig Pfund in seinen Taschen. Er dachte nach. War das sein Geld oder gehörte es ihr? Ein lächerliches Rätsel, und doch grübelte er lange Zeit darüber. Aber die Wirklichkeit kam ihm noch immer nicht zum Bewußtsein. Er konnte nur an Margaret als A denken, an sich selbst als B, dann gab es noch ein C, das bedeutete: Geld – gehörte nun zu C zu A oder zu B?

 

Luke warf die Banknoten auf den Tisch, behielt das Silber und ging in die Vorhalle. Er nahm gerade seinen leichten Überzieher, als der Diener an seiner Seite erschien und die unvermeidliche Frage an ihn richtete.

 

»Nein, nein. Ich esse heute abend außerhalb.« Und dann, mit der Hand auf der Klinke der offenen Tür, fiel ihm etwas ein. »Auf meinem Schreibtisch liegt Geld, nehmen Sie die Hälfte für sich und die Hälfte für die Köchin – von der nächsten Woche ab habe ich Sie beide nicht mehr nötig.«

 

Wie erstarrt blickte der Mann hinter ihm her.

 

Warum und wie er schließlich nach dem Embankment gekommen war, konnte er niemals sagen; es schien ganz selbstverständlich für ihn gewesen zu sein. Er dachte nicht an Selbstmord, hatte nicht die geringste Absicht, auf diesem Wege Vergessenheit zu finden. Langsam ging er an dem Gitter entlang, blieb vor Scotland Yard stehen und betrachtete gleichgültig das große, graue Gebäude. Der dicke Detektiv war doch dort, der Spatz … der Spatz, der schon manches Unrecht gutgemacht hatte, würde wohl kaum das Problem lösen können, das Luke Maddisons Gehirn quälte. Die Kinder der Armen … er lächelte bitter. Er gehörte jetzt auch zu den Kindern der Armen, stand jetzt auch unter dem Schutze des dicken Mannes. Beschützt die Kinder der Armen und bestraft die Übeltäter! Wer hatte hier unrecht getan? Margaret? Er versuchte, sie anzuklagen, sie zu hassen … Er schüttelte den Kopf und ging langsam nach Blackfriars zurück.

 

Gegenüber der Tempelstation blieb er von neuem stehen. Dort lief doch eine schmale Straße nach dem Strand hinauf – war es nicht Norfolk Street? Sein Anwalt wohnte dort. Warum nicht hinaufgehen und ihm erzählen, was vorgefallen war? Das wäre doch das einzig Vernünftige. Aber dann fiel es Luke Maddison ein, daß er ja nicht vernünftig war. Er war das verrückteste Wesen in der verrücktesten aller Welten. Er ging weiter in der Richtung nach Blackfriars und blieb an einer der Haltestellen der Straßenbahn stehen. Eine lange Reihe von Menschen wartete auf die Wagen, die leer ankamen und dann überfüllt das Embankment entlangrollten. Vielleicht Männer mit ihren Frauen, vielleicht junge Leute, auf dem Wege zu einem zärtlichen Stelldichein, vielleicht junge Mädchen, die Vertrauen zu irgendeinem Mann hatten und bereit waren, jedes Opfer für den Mann ihres Herzens zu bringen. Für Luke Maddison erschien jeder Wagen, der davonfuhr, voll von glücklichen Menschen, die ihr schweres Tagewerk hinter sich hatten, Erholung und Vergnügen des Abends vor sich. Alte Leute, junge Männer, junge Mädchen, so nett und sauber in ihrer einfachen Kleidung, Arbeiter mit der Pfeife zwischen den Zähnen, eine Zeitung unter dem Arm, bebrillte Studenten … wie hypnotisiert starrte er auf die großen erleuchteten Straßenbahnen. Er beobachtete Männer und Frauen, versuchte durch die Glasscheiben hindurch sich ein Bild von ihrem Beruf, ihrem Stand zu machen. Er lehnte mit dem Rücken gegen das Gitter und hatte beide Ellbogen aufgestützt.

 

»Warten Sie auf jemand?«

 

Die Stimme war voller Autorität, klang aber freundlich. Er blickte auf und begegnete dem forschenden Blick eines Schutzmannes. Die Polizei liebt es nicht, Leute am Ufer des Stromes zu sehen, eine Hand auf dem Gitter, der rauschende schwarze Fluß tief unten – vor allen Dingen nicht Leute mit schneeweißem Gesicht und verzerrten Zügen, aus deren Augen Verzweiflung starrt.

 

»N–nein«, stammelte Luke, »ich – ich sehe mir das nur an.« Der Schutzmann betrachtete ihn neugierig, als ob er versuchte, sich an sein Gesicht zu erinnern.

 

»Ich muß Sie schon mal gesehen haben, stimmt’s nicht?«

 

»Schon möglich«, erwiderte Luke und drehte sich schroff um. Er lief in der großen Masse, die ihren verschiedenen Heimen zuflutete, über die Blackfriars-Brücke. Es war dunkel und kalt, und er zog den Mantel an, den er bis jetzt über dem Arm getragen hatte. Später erinnerte er sich, in jener Gegend ein kleines Café betreten zu haben, in dem es nach ranzigem Fett roch.

 

Gegen elf Uhr begann es zu regnen, ein feiner, aber durchdringender Regen, der bald seinen leichten Überzieher durchnäßt hatte. Ziellos wanderte er durch die York Road in der Richtung nach Westminster. Vor ihm schlich ein Mann entlang, zusammengesunken, die Hände in den Taschen und den Kragen hochgeschlagen. Luke trug Schuhe mit Gummisohlen und war schon neben dem Manne, bevor sich dieser seiner Gegenwart bewußt war. Er sah, wie der nächtliche Wanderer mit einem unterdrückten Fluch zur Seite sprang, sich nach vorn beugte, als ob er rennen wollte, bis schließlich etwas in Lukes Gesicht und Erscheinung ihn zögern ließ.

 

»Hallo!« sagte er heiser. »Dachte schon, Sie wären ein Greifer.« Luke erkannte ihn.

 

»Sie sind doch Lewing?«

 

Der Mann starrte ihm ins Gesicht.

 

»Allmächtiger, ist das nicht Mr…. wie heißen Sie doch gleich? … ach so, Maddison! Was machen Sie denn hier? Sie hätten zu mir nach Hause kommen sollen. An der Tooley-Street, das hier ist nicht mein Strich.«

 

Unruhig blickte er rechts und links um sich.

 

»Sie dachten, ich wäre ein Detektiv?«

 

Die dünnen Lippen des Mannes zuckten.

 

»Das habe ich gesagt, aber eigentlich dachte ich, Sie wären einer von Connors Bande; die haben mich heute nacht aus Rotherhithe verjagt … haben gesagt, ich schnüffelte ihnen nach; darum bin ich ja jetzt hier. Connors Leute glauben immer, daß man ihnen nachgeschnüffelt hat, wenn einer von der Bande gefaßt wird.«

 

»Schnüffeln? Sie meinen spionieren?«

 

»Sie der Polizei verraten«, erklärte Mr. Lewing. »Connors Bruder ist letzte Nacht gefaßt worden, und in der Tooley-Street hat man gesagt, daß ich dahinter stecke.«

 

Luke begann allmählich zu begreifen.

 

»Kommen Sie hier lang.« Die klauenähnlichen Hände Lewings packten ihn und zerrten ihn in eine enge, schlecht beleuchtete Straße hinein.

 

»Ich bin heute abend nervös«, sagte er und sprach damit die Wahrheit, denn seine Stimme zitterte heftig. »Sie sind doch ein Kavalier, Mr. Maddison. Sie würden doch einem armen Kerl aus der Klemme helfen. Sie wissen doch, wie Connor ist … ein Messerstich für ’n Penny … erledigen nennt er das … er ist Amerikaner; er ist wenigstens in Sing Song gewesen … ach nee, Sing Sing! Ist ja egal, ’s ist auf jeden Fall ’n Kittchen. Ein paar Pfund würden mir ‚raus aus London helfen.«

 

»Ich habe kein Geld bei mir«, antwortete Luke. Er war schon seines Begleiters müde geworden, und nur seine augenblickliche Verfassung war der Grund, daß er sich in diese schmutzige, kleine Straße hatte ziehen lassen.

 

»Kann ich nicht morgen früh in ihr Büro kommen?« Lewings Stimme verriet deutlich seine Angst, und dann, als er sich erinnerte: »Die zehn Pfund habe ich übrigens dem Gunner gegeben und –«

 

»Dem Gunner haben Sie nichts gegeben«, sagte Luke kalt. »Mr. Bird hat mir alles Nötige von Ihnen erzählt.«

 

Ein verlegenes Schweigen.

 

»Auf jeden Fall möchte ich gerne, daß Sie bei mir bleiben, Sir«, begann der Mann von neuem. »Ich habe Sie einen Greifer genannt, und Sie sehen wirklich aus wie einer. Wenn einer von den Connor-Leuten mich zusammen mit einem Greifer steht, werden sie –«

 

Sie waren gerade in eine vielleicht noch engere Straße eingebogen, als Lewing plötzlich stehenblieb. Vier dunkle Schatten, zwei auf dem Bürgersteig, zwei auf dem Damm, standen ihnen gegenüber. Luke betrachtete sie neugierig. Alle hatten sie ihre Mützen tief in die Augen gezogen, jeder Mann hatte beide Hände in den Taschen.

 

»Hör mal, was soll das bedeuten, Joe?« Lewings Stimme klang weinerlich. »Der Herr hier bringt mich nach –«

 

Der Anführer der vier lachte roh.

 

»Du scheinst wahrhaftig einen Greifer nötig zu haben, stimmt’s nicht?« sagte er. »Du bist noch nicht mal zufrieden, daß du uns Connors nachschnüffelst, sondern mußt sogar noch Scotland Yard an deinem Arm mit herumschleppen. Das ist für dich, Lewing!«

 

Für Luke hatte es nur den Anschein, als ob der Mann mit diesen Worten ein wenig näher an Lewing herangetreten war. Lewing hustete und fiel schwankend gegen Luke…

 

»Und jetzt den Greifer«, sagte eine schnarrende Stimme.

 

Luke warf sich zurück, aber nicht rechtzeitig genug. Er sah etwas aufblitzen, fühlte etwas, wie ein heißes Eisen seine Brust berühren; dann überkam ihn eine eigenartige Schwäche, er lehnte sich mit dem Rücken an die Mauer und sank langsam in sich zusammen … Sein letzter bewußter Eindruck war das Geräusch von laufenden Füßen, vier schwarze Schatten tauchten in noch größerer Dunkelheit unter. Er blieb allein zurück, sein Blut verbreitete sich langsam auf dem Bürgersteig, seine leeren Augen starrten auf das flackernde Licht der Straßenlaternen.