33

 

Es war beinah elf Uhr, als Margarets Wagen vorfuhr und Lukes Koffer hineingestellt wurde. Ihre Absicht war, nach dem entfernteren Ende der Villiers Street zu fahren und ihren Chauffeur mit dem Koffer nach der Gepäckaufbewahrungsstelle zu schicken. Im Strand hatte der Wagen Mühe, sich seinen Weg durch den lebhaften Verkehr – die Theater waren gerade zu Ende – zu bahnen und bog in die steile Straße hinein, die nach dem Embankment hinunterführt, als Margaret das Zeichen zum Halten gab.

 

Es regnete stark, nur wenige Fußgänger waren zu sehen, und diese beeilten sich, den Schutz der Untergrundstation zu erreichen. Sie versuchte die Tür zu offnen, um dem Chauffeur das Herausnehmen des Koffers zu erleichtern, als aus der Dunkelheit eine schäbige Gestalt auftauchte. Der Mann schien ihre Absicht erraten zu haben, denn er öffnete die Tür, bevor der Chauffeur von seinem Sitze steigen konnte.

 

»Danke bestens«, sagte Margaret und gab ihm das Geldstück, das sie schon für Ausgabe des Koffers bereit in der Hand hielt, und schaltete das Licht ein. Nur einen Augenblick blickte sie in das unrasierte Gesicht, auf das verkommene Äußere des Mannes.

 

»Luke!« stammelte sie kaum hörbar.

 

Er starrte sie an. Sprachlos vor Erstaunen, keiner Bewegung fähig.

 

»Luke!« sagte sie wieder.

 

Dann schreckte er zurück, aber ihre Hand schoß vorwärts, packte ihn am Rock.

 

»Steig ein, um’s Himmels willen!« stieß sie atemlos heraus und zog ihn hinein.

 

In diesem Augenblick erschien der Chauffeur an der Wagentür.

 

»Fahren Sie weiter. Der Herr ist – ein Bekannter von mir.«

 

Sie hoffte inständig, daß ihr Diener die Vogelscheuche an ihrer Seite nicht genau sehen könnte.

 

»Wohin, gnädige Frau?«

 

»Nach – nach Haus!«

 

Als der Chauffeur seinen Sitz wieder eingenommen hatte, erschien eine dritte Person aus der Bildfläche. Ein Mann kam in größter Eile die Straße hinuntergelaufen, griff nach der Türklinke und sprang auf das Trittbrett des fahrenden Wagens. Erst dachte sie, es wäre ein Schutzmann, dann aber erkannte sie im Schein einer Straßenlaterne das dunkle Gesicht Gunner Haynes‘.

 

»Machen Sie kein Aufsehen«, sagte er, als er sich in das Innere schwang und die Tür hinter sich schloß. »Ich bin schon von Haymarket hinter Ihnen her. Wer ist denn das?«

 

Er beugte sich vor, und sie hörte ihn leise durch die Zähne pfeifen.

 

»Ist das Mr. Maddison?«

 

»Ja, ich bin es.« Luke sprach zum ersten Male.

 

Seine Stimme klang erbarmenswert schwach. Am frühen Nachmittag war er aus dem Polizeirevier entlassen worden, seit dem Morgen hatte er nichts gegessen. Er machte keinen Versuch, ihnen seinen Zustand zu erklären, war so müde, so zerschlagen, daß ihm alles gleichgültig war. Die behaglichen, gepolsterten Sitze, das sanfte Wiegen des Autos … er schlief schon halb, bevor noch der Wagen das Embankment erreicht hatte.

 

»Schon gut. Wecken Sie ihn nicht auf«, sagte Gunner Haynes leise. »Er war heute morgen verhaftet worden; ich hab‘ das erst vor ein paar Stunden herausbekommen; einer meiner … Freunde hat’s mir erzählt. Dann haben sie ihn wieder freigelassen. Aber jetzt ist die ganze Polizei auf der Suche nach ihm. Jemand hat dem Spatz ein Telegramm geschickt – ich glaube unser Freund Danty. Wo wollen Sie ihn jetzt hinbringen?«

 

»Nach Haus!« sagte sie einfach.

 

Sie legte eine Decke um die zusammengesunkene Figur in der Ecke.

 

»Da wird schon ein Schutzmann vor der Tür warten. Nein, wir bringen ihn nach Elford. – Was ist denn das?«

 

Er stieß mit dem Fuß gegen den Koffer. Sie erzählte, was sie beabsichtigt hatte, und hörte ihn kichern.

 

»Sie müssen wirklich Gedankenleserin sein. Das ist gerade das, was er braucht. Heute nacht nicht mehr, aber morgen früh. Wir fahren jetzt nach Elford. Kennen Sie den Flugplatz da? Wir fahren vielleicht dreiviertel Stunden, und wenn wir Glück haben, fassen wir eine der größten Ratten, die jemals aus dem Themseschlamm gekrochen sind.«

 

Sie beugte sich aus dem Fenster und gab dem Chauffeur die nötigen Anweisungen.

 

»Könnten wir denn nicht direkt nach Dover fahren und an Bord eines Kanalbootes gehen?«

 

Der Gunner schüttelte den Kopf.

 

»Ausgeschlossen. Der Spatz ist ein netter Kerl, aber er würde, wenn’s nötig ist, seine eigene Mutter verhaften. Und wenn, wie ich annehme, unser Mr. Morell, oder wie er sich jetzt gerade nennt, ihn verpfiffen – ich meine, wenn er die Geschichte von Taffanny erzählt hat, dann ist jeder Zug, jedes Boot bewacht. Und übrigens fährt vor morgen früh kein Boot ab. Es gibt nur noch eine Möglichkeit: Mr. Maddison muß in Spanien auftauchen, wo er ja auch sein soll, wie behauptet wird. Ich glaube, das werden wir fertig bekommen, falls nicht Mr. Danty Morell uns zuvorkommt.«

 

Er beugte sich wieder vor.

 

»Was haben Sie denn an – einen Pelzmantel? Das ist gut. Den können Sie Ihrem Mann borgen. Es wird ziemlich verrückt aussehen, aber das macht nichts. In der Dunkelheit sieht man ihn ja kaum.«

 

»Was haben Sie vor?« fragte sie.

 

»Ich will einen Nachtflug machen, und er kommt mit«, war seine Antwort. »Was Sie tun müssen, Mrs. Maddison, ist sehr einfach. Sie fahren nach London zurück. Sie müssen ein bißchen lügen – hoffentlich wird Ihnen das nicht zu schwer – und morgen reisen Sie nach Spanien ab. Wenn ich ihn nicht dorthin bringen kann – habe ich ihn erst mal in Frankreich –, dann bin ich ein Dummkopf.«

 

Ein kurzes Schweigen, und dann sagte sie:

 

»Ich weiß noch etwas Besseres. Ich gehe mit ihm!«

 

Zu ihrer Überraschung widersetzte sich der Gunner diesem Vorschlage nicht.

 

»Vielleicht das Richtigste!« war alles, was er sagte.

 

Endlich erreichten sie eine dunkle, holprige Straße, und Haynes ließ den Wagen halten.

 

»Fahren Sie den Wagen unter die Bäume«, er wies in die Dunkelheit, »und schalten Sie alle Lampen aus.« Sie stiegen aus, der Wagen wurde mit Mühe an der Seite des Weges verborgen und der Motor abgestellt.

 

»Wir haben Glück«, sagte er zu der jungen Frau. »Danty ist ein vorsichtiger Mann, ich konnte darauf wetten; aber wir sind doch noch vor ihm hier. Da hinten kommt er.«

 

In der Richtung von London erschienen Lichter. Ein Motorwagen hielt einige hundert Meter von ihrem Standplatz entfernt an und drehte dann um.

 

»Sie gehen das letzte Ende lieber zu Fuß«, murmelte der Gunner in grimmiger Zufriedenheit. »Warten Sie hier.«

 

Er ging bis zu dem Eingang des kleinen Aerodroms und zog etwas aus der Tasche. Lange hatte er nicht zu warten: Danty und Connor kamen auf ihn zu.

 

»Sind Sie es, Higgins?« rief Danty. »Ist der Pilot da –«

 

»Sind alle da, mich eingeschlossen!« sagte der Gunner. »Mach keine Dummheiten, Connor! Du bist fein in der Schußlinie, mein Liebling, und ich habe einen Schalldämpfer an meinem Schießeisen. ›Puff!‹, das ist alles, was du hörst, und das kannst du dann deinen guten Freunden in der Hölle erzählen.«

 

Danty sagte kein Wort. Haynes konnte beinahe seine Zähne vor Angst klappern hören.

 

»Na und?« fragte Connor.

 

»Und? … Ein kleiner Spaziergang zurück nach der nächsten Ortschaft, falls ihr nicht intelligent genug gewesen seid, euren Wagen warten zu lassen. Wenn ihr klug seid, beeilt ihr euch – aber ich fürchte, ihr habt kein Glück mehr«, er sah das Schlußlicht des Autos hinter einer Krümmung des Weges verschwinden. »Die Polizei bewacht den Flugplatz hier, und ihr habt vielleicht noch eine ganz kleine Chance, davonzukommen.«

 

»Sie sind wirklich ein lieber Kerl! Und wie nett Sie uns helfen wollen!« spottete Connor. »Sie müssen uns wirklich für verdammt dämlich halten.«

 

»Schwatzt nicht, lauft lieber … aber schnell! Ich bin heut abend nicht in bester Laune. Leider habe ich versprochen, euch nicht umzubringen, aber es gehört nicht viel dazu, daß ich meine Meinung doch noch ändere.«

 

»Ist schon gut, Gunner. Wir gehen.« Danty hatte seine Stimme wiedergefunden, aber sie verriet die Angst in seinem Innern. »Kommen Sie, Connor. Der Gunner wird uns schon nicht –«

 

»Ich habe die Briefe gefunden, Danty«, sagte Haynes leise. »Du weißt doch, daß der Tod an deiner Seite steht? Ist dir das klar?«

 

Danty antwortete nichts, sondern packte den Arm seines Begleiters und zerrte ihn den Weg zurück. Nach ungefähr hundert Metern blieb Connor stehen:

 

»Wenn du denkst, daß ich mir das von dem Kerl bieten –«

 

»Laufen, aber schnell!« erklang eine Stimme hinter ihnen, und sie gehorchten.

 

Als er sich überzeugt hatte, daß sie sich wirklich auf den Weg gemacht hatten, eilte der Gunner nach dem Wagen zurück. Luke war wach; sie sprachen leise miteinander, er und seine junge Frau. Haynes hielt es für rücksichtsvoll, sie allein zu lassen und machte sich auf die Suche nach dem Flugzeugführer.

 

Die Maschine war startbereit. Zwei müde Mechaniker hatten gerade ihre Arbeit beendet, und der Flugzeugführer stand ungeduldig daneben. Gunner Haynes gab ihm seine Instruktionen, und da er seine Worte mit überzeugenden Argumenten begleitete, fand er einen willigen Zuhörer, der die knisternden Scheine schmunzelnd in der Tasche verschwinden ließ.

 

»Ich kann drei oder mehr Personen mitnehmen. Macht gar keine Schwierigkeiten. Ich habe den Nachtflug schon Hunderte von Malen gemacht.«

 

Befriedigt ging der Gunner nach dem Wagen zurück, wo er sich entschließen mußte, eine sehr vertraute Unterhaltung der beiden zu stören.

 

»Ich habe ein Stückchen Papier für Sie, Mrs. Maddison. Lesen Sie es, wenn es hell genug ist. Es betrifft den Tod Ihres Bruders – es tut mir leid, wenn ich alte Wunden aufreißen muß, aber ich meine; Sie müssen erfahren, daß der Mann, der ihn ins Verderben stürzte – Danton Morell war und –«

 

»Ich vermutete es«, sagte sie leise.

 

Es fiel immer noch ein seiner Regen, und die Wolken hingen tief, aber keiner der drei Passagiere empfand die leiseste Besorgnis, als der große Eindecker unter dem Gebrüll der Motoren durch die schweren Wolken strich, höher, immer höher, bis sie mit dem Mond in einem klaren Himmel über dem weißen Wolkenmeere schwammen.

 

*

 

Kaum eine Woche später speisten drei Menschen im Café Ritz in Madrid. Es war das Abschiedsessen für Gunner Haynes, der nach Neapel fuhr, um den Postdampfer nach Australien zu erreichen.

 

»Ich werde mich nicht eher richtig behaglich fühlen«, sagte er, »als bis ich im Barcelona-Expreß sitze. Ich habe schon manches erlebt, aber es ist das erstemal, daß ich als Dritter eine Hochzeitsreise mitmachen mußte.«

 

*

 

Ende