21

 

Margaret hatte lange zu warten, bis Mr. Gorton herunterkam, und als er endlich erschien, konnte er ihr nur in größter Eile mitteilen, daß man einen Mann in der Wohnung gefunden hätte, der aber entwischt sei. Der Pförtner des Hauses gab ihr dann eingehendere, aber in vielen Dingen nicht ganz genaue Auskünfte.

 

»Ja, Mrs. Maddison, die Polizei hat einen Mann in der Wohnung gefunden … ich sah ihn gerade noch einen Augenblick, bevor er ausrückte. Ein gut aussehender Mensch, mit Schnurrbart und, wie die Polizei sagt, ein ganz gefährlicher Einbrecher – hatte einen Revolver bei sich. Vielleicht möchten Sie selbst mal nach oben gehen?«

 

Margaret zögerte erst und sagte dann:

 

»Ja, ich möchte es eigentlich«, und der Mann fuhr sie im Fahrstuhl nach oben. Ein Detektiv war als Wache zurückgeblieben und schien sie zu erwarten.

 

»Wünschen Sie, daß ich bleibe, Mrs. Maddison. Inspektor Gorton hat gesagt, er würde gern eine Liste der fehlenden Gegenstände haben und will morgen früh zu Ihnen kommen.«

 

Er führte sie in das Zimmer, wo der »Einbrecher« gewesen war. Schubfächer waren herausgezogen, ein Schreibtisch war aufgebrochen (Luke hatte den Schlüssel verloren), und Papiere bedeckten den Boden.

 

»Mr. Gorton hat keine Idee, wonach der Mann eigentlich gesucht hat«, erzählte ihr der Detektiv. »In einem der Schubfächer lag eine goldene Uhr, aber er hat sie nicht angerührt; wir glauben, er war scharf auf Garderobe.«

 

Er zeigte ihr den großen Handkoffer, der mit Sachen vollgestopft war. Ein Gesellschaftsanzug, ein halbes Dutzend Hemden und Kragen, Taschentücher und ein Pyjama.

 

»Aber er muß sehr viel Zeit mit dem Schreibtisch verloren haben. Mein Kollege erzählte mir, daß er unter dem Hemd ein kleines Buch verborgen hatte; er fühlte es, als der Mann sich losriß und entwischte.«

 

»Ein Buch?« fragte Margaret schnell. »Das ist aber merkwürdig!«

 

Und dann fielen ihre Augen auf einen Briefumschlag, der auf der Erde lag. Sie erkannte ihn sofort. Er trug den offiziellen Stempel des Paßbüros; Luke hatte ihn am Tage vor ihrer Trauung in der Tasche gehabt und ihr in seiner scheuen, halb amüsierten Weise gezeigt, die sie manchmal so gereizt hatte. Es war sein neuer Paß, der etwas voreilig schon das Bild seiner Frau enthielt. Luke hatte das Paßbuch geöffnet, und sie hatte sich ein wenig geärgert, weil er leichtsinnigerweise ihren Namen gefälscht hatte, um ihr das Dokument als Geschenk zum Hochzeitstage überreichen zu können. Sie nahm den Umschlag auf. Er war leer – das war also das Buch, das der Einbrecher gestohlen hatte – und warum? Verschiedene Bogen Papier lagen auf dem Boden, sie nahm einen auf und starrte sprachlos auf die wenigen Worte. Das Datum war mit auf die erste Reihe gekritzelt worden, und diese lautete:

 

»Mein lieber Hulbert! Ich bin in einer außerordentlich schrecklichen –«

 

Lukes Handschrift! Luke war hier gewesen. Sie fand einen zweiten Bogen, gleichfalls an den Anwalt gerichtet, aber die ausgestrichenen Worte waren nicht mehr zu erkennen. Allem Anschein nach hatte er sich in der Absicht, an Hulbert zu schreiben, an den Tisch gesetzt, aber nach einem zweimaligen Versuche sein Vorhaben geändert.

 

Das sah Luke ähnlich: er konnte niemals der Versuchung widerstehen, die ihm ein Bogen Briefpapier darbot. Er mußte dann schreiben, an irgendjemand … oft hatte er ihr das erzählt.

 

Luke war hier gewesen; Luke war der Einbrecher. Aber warum denn nur?

 

Sie wandte sich dem Detektiv zu und war schon im Begriff, diesem ihre Entdeckung mitzuteilen, als er etwas sagte, was sie veranlaßte zu schweigen.

 

»Er muß ein schwerer Junge sein – einer unserer Leute hat in ihm den Mann erkannt, der heute nachmittag das Auto steuerte, als Taffanny beraubt wurde. Er gab einem der Verkäufer einen Faustschlag unters Kinn –«

 

»Aber das ist unmöglich!« rief sie entrüstet. »Dieser Mann ist –«

 

»Ach, Sie haben die Zeitung gelesen – ein bärtiger Mann, das stimmt schon, aber er hat sich den Bart abnehmen lassen. Johnson – mein Kollege – hat ihn mit einem Mädel im Park spazierenfahren sehen.«

 

Wieder blieben die Worte ungesprochen, die sie auf der Zunge hatte. Sie erinnerte sich an den bärtigen Mann, erinnerte sich, daß in seiner Haltung – sie hatte ihn ja nur von hinten gesehen – etwas ihr Vertrautes gelegen hatte… und er fuhr mit einer berüchtigten Frau spazieren – einer Frau, die der Polizei gut bekannt war.

 

»Sie ist heute nacht gefaßt worden«, fuhr der mitteilsame Detektiv fort, »und Mr. Gorton ist ziemlich sicher, daß sie den anderen verpfeifen wird – ich meine, sie wird erzählen, wer ihr Begleiter war. Nach allem, was man gehört hat, ist er in den letzten ein oder zwei Jahren sehr häufig mit ihr zusammen gesehen worden.«

 

Sie hörte ihn sprachlos an und konnte nur den Kopf in schwachem Protest schütteln.

 

»Es konnte aber nicht derselbe Mann gewesen sein«, brachte sie endlich heraus.«

 

»Kennen Sie ihn denn – ich meine den Menschen, der hier in der Wohnung war?« Der Detektiv blickte sie scharf an.

 

»Nein, nein«, entgegnete sie hastig. »Ich dachte nur… aber das wäre ein so außergewöhnlicher Zufall –«

 

»Ich habe so das Gefühl, als ob Mr. Gorton ihn kennt.« Mit diesen Worten schloß der Detektiv die Tür und ging mit ihr die Treppe hinunter. »Ich hörte, wie er dem Sergeanten erzählte, daß er vielleicht derselbe Mann wäre, der in jener Nacht, als man Lewing tötete, so schwer verletzt ins Hospital gebracht wurde. Wenn das stimmt, kann er erst wenige Tage wieder heraus sein.«

 

Sie bot dem Beamten etwas Geld an, aber mit großer Festigkeit lehnte er es ab und half ihr in den Wagen.

 

Die Summe, die sie zu zahlen hatte, als sie schließlich ihr Haus erreichte, sagte ihr, daß sie über zwei Stunden unterwegs gewesen sein mußte.

 

Ihr Mädchen wartete noch auf sie, und Margaret ließ sich Kaffee bereiten. Dann drehte sie alle Lichter im Wohnzimmer an, öffnete ihren Schreibtisch und nahm ein Paket Briefe heraus, die sie von Luke erhalten hatte. Sie verglich diese mit den beiden heimlich mitgenommenen Bogen. Es war kein Zweifel möglich: Lukes Handschrift. Die Überschrift »Meine liebe« begann überall in der Mitte einer jeden Seite.

 

Es war Luke. Und es war auch Luke, der an diesem Nachmittag mit einer ganz unmöglichen Frauensperson in einem Auto gesehen worden war! Luke, der hilfreiche Hand bei dem Raubüberfall auf Taffanny geleistet hatte!

 

Entsetzt war sie eigentlich nicht; die Entdeckung, die sie gemacht hatte, war so ungeheuerlich, daß ihre Empfindungen sich nicht durch ein so alltägliches Wort beschreiben ließen. Sie betrachtete Luke Maddison, den Bankier, den Einbrecher, den Räuber, den Begleiter von zweifelhaften Damen, mit der Ruhe eines Wissenschaftlers, der ganz zufällig auf eine neue, überaus interessante Entdeckung gestoßen ist.

 

Es war so unbegreiflich, so absurd, daß jedes Zeichen von Ärger oder Demütigung lächerlich sein würde. Man achtet kaum noch auf Anstand und Rücksichtnahme, wenn man die Erde unter sich schwanken fühlt, die Mauern um sich zusammenbrechen sieht. Margaret legte sich zur Ruhe und schlief traumlos bis in den Morgen hinein. Sie saß beim Frühstück, als Inspektor Gorton gemeldet wurde, dessen Bericht über seinen Mißerfolg sie ruhig anhörte.

 

»Der Kerl rannte wie ein Hase, muß ein trainierter Läufer gewesen sein. Ich bin beinahe sicher, daß er derselbe ist, der in einer Messerstecherei in Süd-London schwer verletzt wurde. Lewing ist dabei getötet worden.«

 

»Wer war denn Lewing?«

 

Gorton zuckte seine breiten Schultern.

 

»Nichts Besonderes, obgleich die Bande seinen Namen trug. Ihr eigentlicher Anführer ist ein ›Kavalier‹, ein gewisser Danty Morell – obgleich er sich in letzter Zeit nicht sehr aktiv beteiligt hat …«

 

Sie hatte klirrend die Tasse niedergesetzt. Er sah, wie blaß sie geworden war.

 

»Danty Morell? Sie meinen doch nicht etwa Mr. Danton Morell, der in der Halfmoon Street wohnt?«

 

Gorton lächelte.

 

»Ich hätte das vielleicht nicht erwähnen sollen, aber ich dachte, Mr. Bird hätte schon davon gesprochen. Sie kennen doch Mr. Bird? … Ich hoffe aber, daß Sie Mr. Morell nicht kennen!«

 

»Ich kenne ihn sehr gut.« Ihre Stimme war fest, und sie lächelte. »Aber Sie können meiner Diskretion versichert sein, Inspektor; ich komme mir bald selbst wie ein Beamter von Scotland Yard vor.«

 

Sie hielt ihre Hände im Schoß gefaltet, so daß er nicht bemerken konnte, wie heftig sie zitterten.

 

»Vielleicht hat er sich auch geändert«, sagte Gorton mit dem unbehaglichen Gefühle, etwas Unrechtes gesagt zu haben. »Einige von den Menschen bessern sich ja auch manchmal. Ich weiß nur, daß seit langer Zeit nichts gegen ihn vorliegt. Morell ist natürlich nicht sein eigentlicher Name – den habe ich vergessen, aber der Spatz – ich meine Mr. Bird – kennt ihn. Großartiger Kerl, dieser Danty! Er kann reden wie ein Wasserfall! Glänzend … man sagt, er ist einer der gerissensten Schwindler, die jemals in Europa gearbeitet haben. Vielleicht hat er auch genug Geld gemacht, um sich vom Geschäft zurückziehen zu können.«

 

Danton Morell! Wie hatte sie ihn doch kennengelernt?

 

Sie versuchte, sich den Beginn ihrer Bekanntschaft ins Gedächtnis zurückzurufen. Natürlich, es war ja ihr Bruder – ihr armer Bruder –, der ihr Danton vorgestellt hatte. Rex kannte so viele merkwürdige Leute. Sie vertraute ihm – und hatte auch Danty vertraut. Sie hatte ihm rückhaltslos geglaubt, hatte ihm geglaubt, als er ihr erzählte, Luke hätte ihren Bruder zu Tode gehetzt, hatte ihm geglaubt, als er ihr Rex‘ letzte jammervolle Mitteilung auf den beiden kleinen Bogen Briefpapier brachte – diese war wenigstens echt. Sie kannte ihres Bruders Handschrift.

 

Sie sah eine neue Welt vor sich, oder sah sie vielleicht von einem neuen Gesichtspunkt aus. Sie fühlte sich jetzt imstande – wie das kam, wußte sie selbst nicht –, sich ganz ruhig mit Problemen zu beschäftigen, die ihr erst gestern noch Entsetzen eingeflößt hatten.

 

Gorton, der in der Nacht wenig Ruhe gefunden hatte, leistete ihrer Einladung, mit ihr zu frühstücken, Folge, obgleich er sich nur auf eine Tasse Kaffee und ein Brötchen beschränkte.

 

»Also nichts fehlte? Der Beamte, den ich als Wache zurückgelassen hatte, erzählte mir, daß Sie dagewesen wären und nachgesehen hätten. Wo ist denn eigentlich Ihr Gatte, Mrs. Maddison?«

 

»In Spanien, glaube ich.« Die Antwort fiel ihr schwer. »In ein oder zwei Tagen werde ich dort mit ihm zusammentreffen.«

 

»Keines der Hochzeitsgeschenke befand sich in der Wohnung?«

 

Sie schüttelte den Kopf und sagte lächelnd:

 

»Wir hatten überhaupt keine Hochzeitsgeschenke.«

 

Er trank seinen Kaffee, legte die Serviette zusammen und stand auf.

 

»Jetzt habe ich etwas sehr Unangenehmes vor mir; ich wünschte, jemand anderes könnte es an meiner Stelle tun«, sagte er.

 

»Sie wollen jemand verhaften?«

 

»Nein, das wäre gar nicht so schlimm. Es macht mir sogar Spaß, diese Kerls hinter Schloß und Riegel zu bringen, und der Tag, an dem ich den unternehmenden Herrn zu fassen bekomme, der in der letzten Nacht der Wohnung Ihres Mannes einen Besuch abgestattet hat, wird einer der glücklichsten sein, den ich seit Jahren gehabt habe! Nein, es handelt sich um etwas Grausiges, das ich Ihnen lieber nicht erzählen möchte.«

 

»Ich glaube nicht, daß ich so leicht zu erschrecken bin.«

 

»Es ist eigentlich nichts Besonderes«, erklärte Gorton. »In der letzten Nacht hatten wir sehr hohe Flut, und die Strompolizei hat den Körper eines Mannes gefunden, der augenscheinlich heute nacht ertrunken ist. Ich muß nach dem Leichenschauhaus fahren und sehen, ob ich ihn vielleicht kenne. Nach der Beschreibung, die man mir geschickt hat, sollte es mich gar nicht wundern, wenn es unser Einbrecher wäre.«

 

Sie hatte gesagt, sie wäre nicht so leicht zu erschrecken. Aber jetzt war sie zu Tode erschrocken, krampfte die Hände zusammen, daß sie schmerzten – und nur der Schmerz verhinderte, daß sie ohnmächtig wurde.