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Mr. Bird besprach in oberflächlicher Weise den Mord in Süd-London, der Scotland Yard verhältnismäßig wenig erregt hatte.

 

»Ich habe die Photo von dem anderen Galgenvogel heute morgen in der Zeitung gesehen«, begann er. »Sieht beinahe aus wie der Star in ›Aus Seenot gerettet‹ – das ist ein ganz hervorragender Film, Sir. Sie müßten sich den mal ansehen. Mir kamen beinahe die Tränen in die Augen, und ich heule wirklich nicht leicht.« Er zog die Augenbrauen zusammen. »Vielleicht hatte der Film auch überhaupt nichts damit zu tun. – Haben Sie den Mörder gefaßt?«

 

Oberinspektor Kelley schüttelte den Kopf.

 

»Nein, und werden ihn wohl auch kaum fassen. Wenn wir Lewing von den Toten erwecken könnten, würde er einen Schwur ablegen, daß er den Mann, der ihn angriff, nicht erkannt hatte. Und mit dem anderen Kerl wird es genau so sein.«

 

Der Spatz spitzte die Lippen.

 

»Ich möchte eigentlich mal nach dem Hospital gehen und mir den Menschen ansehen – wird er sterben?«

 

Kelley machte eine Bewegung mit seinen Händen, die seine völlige Gleichgültigkeit ausdrückte.

 

»Keine Ahnung! Aber ich würde Ihnen nicht raten, in Gennets ›Gebiet‹ einzubrechen – er ist in dem Punkt außerordentlich empfindlich, und der Fall wird von ihm bearbeitet.«

 

Professionelle Etikette hielt daher Mr. Bird von der Unfallstation des St.-Thomas-Hospitals fern. Er fand jedoch eine Abschrift der Aussage, die der sterbende Mann gemacht hatte; sie war kurz und nichtssagend:

 

»Ich weiß nicht, wer Lewing gemordet hat. Ich war mit ihm zusammen, als er angefallen wurde, kannte ihn aber nur oberflächlich. Ich würde keinen der Angreifer wiedererkennen; sie waren mir völlig unbekannt, und ich konnte ihre Gesichtszüge nicht sehen.«

 

Darunter stand in Anführungsstrichen:

 

»Dieser Mann weigert sich, seinen Namen zu nennen.«

 

Der Spatz las diese kurzen Zeilen halb belustigt durch. Er konnte den Inspektor, der diesen Fall behandelte, nicht leiden.

 

»Gennet wird ja noch viel Glück damit haben – ich wünsche ihm alles Gute!«

 

Später, am Nachmittag, hatte er sich mit Miß Mary Bolford zum Tee verabredet. Der Spatz war schon in einem Alter, wo er sich unbesorgt mit dem hübschesten und jüngsten Mädchen treffen konnte, ohne sich anderen Nachreden auszusetzen als denen, die er selbst über sich gebrauchte.

 

»Wir passen wirklich großartig zueinander, Miß Bolford. Haben Sie etwas erreicht?«

 

»Bei Mrs. Maddison?« Mary schüttelte seufzend den Kopf. »Wissen Sie … ich fühlte mich höchst unbehaglich. Sie haben sich am Hochzeitstage gezankt. Warum – weiß ich selbstverständlich nicht.«

 

»Vielleicht des Bruders wegen«, sagte der Inspektor. »Sie wissen ja, wenn es sich um Angehörige handelt –«

 

»Aber er ist doch tot.«

 

Der Spatz nickte gedankenvoll.

 

Sie saßen in einem der belebtesten Teerestaurants in der Nähe von Charing Croß, und unaufhörlich kamen und gingen Gäste. Mr. Bird hatte einen kleinen Tisch in einer Nische gefunden, von wo aus er den Eingang des Restaurants überblicken konnte. Es lag kein besonderer Grund hierfür vor, denn er erwartete weder Freund noch Feind. Aber er hatte ein tiefes Interesse an seinen Mitmenschen und vor allen Dingen den stillen Wunsch, daß eines Tages ein Mann, den die Polizei aller Welten suchte, vergeblich suchte, in seinem Gesichtskreis auftauchen würde. Er war ein wenig Optimist.

 

»Gezankt, sagen Sie? Das wird hoffentlich eine Warnung für Sie sein, mein liebes Kind. – Heiraten Sie niemals. Erst heute habe ich gesagt –«

 

Sie sah, wie Mund und Augen ihres Begleiters sich vor Erstaunen öffneten. Er starrte nach der Tür. Sie blickte sich um und sah einen Mann das Café betreten, seinen weichen Hut auf dem Hinterkopf, die Hände in den Taschen. Er sah ernst und finster aus, und doch hatte sein Gesicht eine eigenartige Anziehungskraft.

 

»Da hört doch alles auf!« murmelte Mr. Bird.

 

»Wer ist es denn?« flüsterte sie.

 

»Ein dunkler Charakter«, erwiderte der Spatz bedeutungsvoll. »Wollen Sie ihn kennenlernen?«

 

Sie nickte, und im gleichen Augenblick begegneten sich die Augen des Fremden mit denen des Detektivs. Ein halbes Lächeln huschte über sein finsteres Gesicht, er folgte der Einladung von Mr. Birds winkendem Finger und kam langsam auf ihn zu. Als er das junge Mädchen erblickte, nahm er den Hut ab und setzte sich nach einem Augenblick kurzen Zögerns an den Tisch.

 

»Nun, Gunner«, sagte der Spatz mit leichtem Vorwurf. »Freigekommen?«

 

»Selbstverständlich«, lächelte Gunner Haynes und bestellte sich Kaffee.

 

»Eine Bekannte von mir – an der Zeitung«, stellte der Spatz vor. »Da sie selbst ein Mitglied dieser gesetzlosen Klasse ist, kann sie, ohne zu erröten, den hervorragendsten Juwelendieb Englands kennenlernen.«

 

Sie sah in Gunners Augen ein belustigtes Lächeln aufblitzen und lächelte zurück.

 

»Nun wissen Sie ja, wer ich bin«, sagte Haynes ironisch.

 

»Man hat also die Anklage niedergeschlagen?« Und als der Gunner nickte, stieß Mr. Bird einen langen, murrenden Seufzer aus. »Ich habe mein Vertrauen zu der Gerechtigkeit verloren«, sagte er verzweifelt. »Ich weiß ganz genau, warum Sie in dem Hotel waren, wessen glitzernde Steinchen Sie suchten – nein, Gunner, es gibt wirklich keine Gerechtigkeit mehr in der Welt.«

 

Der Gunner rührte in dem Kaffee, den die Kellnerin vor ihn hingestellt hatte, und lachte. Ein sanftes, musikalisches Lachen, das gar nicht zu dem Mann paßte, der da vor ihr saß.

 

»Ihre Sache stand schlecht, Mr. Bird, und Sie werden der erste sein, der mir das zugibt. Ich würde gern mal den Mann wiedersehen; der versucht hat, mich zu – mir zu helfen.«

 

»Sie wollten sagen, ›mich zu warnen‹.« Der Spatz blickte ihn durchdringend an. »Leider können Sie ihn nicht sehen. Er ist nämlich auf der Hochzeitsreise.«

 

»Maddison? – Hieß er nicht so. Ich erinnere mich jetzt an den Namen. Handelt es sich um den Bankier? Sie können mir ruhig antworten, Mr. Bird. Ich will nichts von ihm haben. Er ist in meinem Buch mit einem Stern angemerkt.«

 

»Das wird ihn sicher mal in den Himmel bringen«, spöttelte Bird und wurde dann wieder der kühle Polizeibeamte.

 

»Was führen Sie nun im Schilde, Gunner? Sind Sie jetzt reif für die Besserungsanstalt? Wenn das der Fall ist, können Sie von mir eine Empfehlung für das Heim für ehemalige Gefangene erhalten.«

 

Aber Gunner Haynes hörte gar nicht zu.

 

»Wen hat er geheiratet? – das hübsche, junge Mädchen, das an jenem Abend am oberen Ende der Tafel saß? Bei Gott! Sie war wunderhübsch! Erinnerte mich an –«

 

Er hielt plötzlich inne, und Mary Bolford sah, wie es in seinem Gesicht zuckte.

 

»– an jemand, den ich früher mal kannte. Ich wünsche ihnen alles Glück!«

 

»Dann müssen Sie jedem einzeln Glück wünschen«, sagte Mary Bolford; »an ihrem Hochzeitstage haben sie sich getrennt.«

 

Er blickte schnell zu ihr hinüber.

 

»Was hat sie ihm angetan?« fragte er, und Mary Bolford mußte, wenn auch widerwillig, lachen.

 

»Sie nehmen vieles für sicher an! Der Gedanke, daß er vielleicht der schuldige Teil sein konnte, scheint Ihnen wohl unmöglich?«

 

Er schüttelte den Kopf.

 

»Diese Art Mann kann nichts Schlechtes begehen, das kann ich Ihnen sagen, Miß! Ich kenne die Männer; ich verstehe das Gute in ihnen und das Schlechte. – Mein ganzes Leben lang habe ich von Männern gelebt: meine Kenntnis ihrer Schwächen und ihrer Stärke war mein einziger Trumpf. Frauen verstehe ich nicht. Und auch Sie haben unrecht, Mr. Bird – ich sage Ihnen dies hier offen und ehrlich – ich war nicht hinter den Juwelen von der Frau her, obgleich ich zugeben muß, ich hätte sie gern mal gesehen. Nein, hinter einem Diamantarmband, so groß wie eine Fußschelle! Im Hotel war ein alter Narr, der hatte es für eine Schauspielerin gekauft – sie nannte sich wenigstens Schauspielerin, aber ich habe sie gesehen! – Er muß mindestens hundert Jahre alt gewesen sein – vielleicht sogar hundertzwanzig. Ekelhaft! … nein, ich habe genügend Geld, um leben zu können.«

 

Er blinzelte dem Spatz zu. »Geld genug, um mir ein Maschinengewehr zu kaufen, damit ich wenigstens meinen Titel mit Recht trage. Wo steckt denn eigentlich Maddison?«

 

Er wandte sich an Mary Bolford.

 

»Fragen Sie mich!« fuhr der Spatz dazwischen, seine kalten Augen in denen des Hochstaplers. »Ich bin hier das zuständige Auskunftsbüro! Wenn Sie Ihre Lebensgeschichte erzählen wollen, wird Miß Bolford, glaube ich, einen ganz interessanten Artikel schreiben können, aber ich habe Sie nicht hierhergerufen, um angenehme Konversation zu machen, verstanden, Gunner!«

 

Haynes glaubte, in den Augen des jungen Mädchens einen feinen Schmerz zu sehen und lachte.

 

»Er hat recht – er hat selbstverständlich recht –« sagte er. »Lassen Sie mich Ihnen einen guten Rat geben, Miß Bolford.« Seine Stimme war eigenartig sanft, und selbst der Spatz blickte ihn erstaunt an. »Befürchten Sie niemals, daß Sie die Gefühle eines Hochstaplers verletzen könnten – das ist nämlich unmöglich. Ein Mann, der nach seiner Verhaftung eine Unterredung von nur zehn Minuten mit der Polizei gehabt hat – wenn sie nicht genau weiß, wo die Beute versteckt ist –, ist von Fachleuten … beleidigt worden.«

 

Der Spatz nickte ernsthaft.

 

»Bevor Sie beginnen, Sympathie für einen Exsträfling zu empfinden«, fuhr der Gunner fort, »rate ich Ihnen, ausfindig zu machen, warum er gesessen hat – und, was noch viel wichtiger ist, wie oft. Es kommt gar nicht darauf an, welches Verbrechen er begangen hat; ist er zweimal im Gefängnis gewesen, so brauchen Sie keinerlei Mitleid mehr an ihn zu verschwenden … Ich habe dreimal gesessen.«

 

Seine Augen lächelten, aber die scharfen Falten um seinen Mund hatten sich vertieft. Die ganze Zeit hindurch blickte er das junge Mädchen unverwandt an, trank ihre unberührte, frische Schönheit in sich hinein. Mit einem plötzlichen Ruck drehte er sich um, winkte der Kellnerin und bezahlte. Dann stand er auf und reichte Mr. Bird die Hand.

 

»Bird und ich kämpfen einen gleichen Kampf.« Seine Worte richteten sich wieder an das junge Mädchen. »Nur stehen wir beide auf verschiedenen Seiten. Meine Seite verliert immer, hat aber den meisten Spaß dabei.«

 

Er drehte sich um, ging langsam auf die Tür zu und verschwand.