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»Also du willst ihn wirklich heiraten, Margaret?«

 

Es lag eine Erregung in der Stimme Rex Leferres, die beinahe seine Schwester erschreckte. Es lenkte sie auf jeden Fall im Augenblick von dem Ärger ab, der langsam in ihr gegen ihren unpünktlichen Bräutigam aufstieg.

 

»Wie kommst du darauf?« fragte sie. »Meinst du vielleicht, daß ich meine Verlobung auflösen soll, weil Luke ein unhöflicher Gastgeber ist und uns schon zehn Minuten warten läßt?«

 

Sie befanden sich in dem Wintergarten des Ritz-Carlton, und glücklicherweise waren die übrigen Gäste mit ihren Cocktails beschäftigt und schienen Lukes schlechte Manieren noch nicht bemerkt zu haben.

 

Margaret stand mit dem jungen Mann, der ihr einziger Verwandter war, abseits, und kein Fremder, der sie gesehen hätte, wäre auf den Gedanken gekommen, daß er Bruder und Schwester vor sich hätte. Rex war ein fahriger, rothaariger, junger Mann mit ausgesprochen schwachem Kinn, der die nervöse Angewohnheit hatte, seine schwarze Krawatte jeden Augenblick in Ordnung zu bringen.

 

Margaret Leferre hatte Haltung und Figur der großen Dame; mit ihrem reinen Teint, den wunderbar gezeichneten Gesichtszügen, ihren klaren, blauen Augen war sie ein Modell kalter Würde. Niemals hatte sie daran gedacht, ihr Haar, der Mode folgend, kurz schneiden zu lassen. In prächtigen Flechten lag es um den Kopf, so daß sie eine Krone von mattem Golde zu tragen schien.

 

»Ich weiß nicht…« Rex knabberte an seinen Nägeln – eine häßliche Angewohnheit, die er nicht ablegen konnte –, »Luke ist sicher ein netter Kerl – manchmal ’n bißchen zugeknöpft –«

 

»Was willst du mit ›zugeknöpft‹ sagen?« fragte sie und sah ihn fest an.

 

»Ja – ich meine – er sitzt ein bißchen sehr auf seinem Gelde. Er gibt mir ja Tips und sonstige gute Ratschläge, aber es ist mir eigentlich nie gelungen, mich zur richtigen Zeit bei irgendeiner Sache beteiligen zu können … selbstverständlich mein eigener Fehler.«

 

Er suchte ihren Blick zu vermeiden, aber sie war der stärkere Teil.

 

»Hast du Geld geliehen – schon wieder?« fragte sie, und er zuckte unbehaglich mit den Schultern.

 

»I wo – Unsinn! Danty und ich hatten ein Geschäft vor und…«

 

In diesem Augenblick sah sie sich um. Sie hatte das Gefühl, daß der dunkeläugige Danton Morell sie beide beobachtete. Danton war eigentlich ein lieber Mensch, und sie hatte sich daran gewöhnt, ihm zu vertrauen. Er schien ihre Unruhe gefühlt zu haben, denn er löste sich aus einer Gruppe heraus und kam langsam auf sie zu.

 

»Ach, halt doch den Mund, Margaret – erwähne bloß nichts zu Morell über diese Sache – wenn du vielleicht hier Szenen machen willst…«

 

Mit einem Achselzucken drehte er sich um und ließ sie stehen, als Danty zu ihnen trat.

 

Danty, dieser erfahrene Weltmann, lächelte über ihre Befürchtungen. Er war ein stattlicher, amüsanter Junggeselle an der Grenze der Vierzig, dessen Bekanntschaft sie durch ihren Bruder Rex gemacht hatte.

 

»Nein, ich glaube nicht, daß er Geld geborgt hat – Rex ist ein unbedachtsamer junger Mensch, der innerhalb der nächsten zehn Jahre nicht aus seinen Schulden herauskommen wird. Dann wird er sich auch einmal Mühe geben und sicherlich Erfolg haben. Ihr Bräutigam kommt eigentlich ziemlich spät.«

 

Instinktiv fühlte sie, daß er Luke Maddison nicht leiden konnte, hatte es immer gewußt. Luke stammte aus sehr gutem Hause und war verwandt oder stand auf bestem Fuße mit beinahe jeder großen Familie in England. Er hatte nur einmal etwas wegwerfend über Danty gesprochen.

 

»Wo ist denn der hergekommen? Ich habe noch niemals von ihm gehört«, hatte er sie gefragt.

 

Sie hätte ihm erzählen können, daß Danton den größeren Teil seines Lebens in Argentinien verbracht hatte, aber das Wegwerfende in seinem Ton, als er über den Freund ihres Bruders – und ihren eigenen sprach, hatte sie etwas verletzt. Und dann hatte Luke die Sache noch schlimmer gemacht.

 

»Er ist ein merkwürdiger Vogel. Es sollte mich gar nicht überraschen, wenn er zu jenen langfingerigen Burschen gehörte, die der Polizei bekannt sind – man sollte eigentlich Erkundigungen einziehen.«

 

»Warum tust du es denn nicht?« hatte sie eisig erwidert.

 

Dies hatte sich lange vor jenem Tage ereignet, als sie sich endlich entschlossen und einen beglückten Luke Maddison nach Hause geschickt hatte.

 

Während sie auf Dantons Worte lauschte, blickte sie gedankenlos auf den Diamantring an ihrem Finger, das äußere und sichtbare Zeichen ihrer Verlobung.

 

»… Rex ist leichtsinnig und wenig beständig – manchmal kann er nicht schlecht genug über Maddison sprechen, und dann hebt er ihn wieder in den Himmel … na, da haben wir ja unseren liebenswürdigen Wirt!«

 

Luke Maddison kam mit langen Schritten durch die Halle des Hotels, blieb einen Augenblick stehen, um seinen Mantel und Zylinder abzulegen, die er dem Diener beinahe zuwarf, und machte einen Schritt in der Richtung der Tür. In diesem Augenblick glitt er auf dem Marmorfußboden aus und wäre sicherlich gefallen, wenn nicht eine Hand seinen Arm ergriffen hätte.

 

Der Mann, der ihn hielt, mußte außergewöhnlich kräftig sein, denn im wahren Sinne des Wortes und anscheinend ohne jede Anstrengung hielt er Luke Maddisons Fall auf und stellte ihn auf die Füße. Mit einem halb ärgerlichen Lächeln drehte Luke sich herum und blickte in ein finsteres Gesicht mit scharfen Falten, tiefbraun gefärbt, und in zwei kühle, ausdruckslose Augen.

 

»Danke Ihnen – vielmals!«

 

Der Fremde nickte.

 

»Das hätte ein schlimmer Fall werden können. Ich bin Ihnen außerordentlich verbunden!«

 

»O bitte, gern geschehen«, sagte der Unbekannte.

 

Er war im Abendanzug, tadellos angezogen, und sein gepflegtes Äußere ließ die Sorgfalt eines geschulten Kammerdieners ahnen. Maddison sah in dem Gesicht scharfe Linien, die nicht die Natur hineingezeichnet hatte. Er konnte nicht wissen, daß die beiden Narben, die die rechte Wange des Mannes entstellten, Erinnerungen an ein lebhaftes Zusammentreffen mit dem verstorbenen Lew Selinski in New York waren. Wenn Lew ärgerlich war, pflegte er ein Messer zu gebrauchen. Und er war außerordentlich ärgerlich über diesen elegant gekleideten Mann gewesen, als er die Zeichen auf dem Gesicht seines Feindes zurückließ.

 

»Ich bin froh, daß ich gerade in der Nähe war. Glücklicherweise warte ich immer in der Halle, wenn ich Bekannte eingeladen habe. Guten Abend.«

 

Er drehte sich um, als ob ihm die Aufmerksamkeit, die er selbst erregt hatte, peinlich wäre, und Luke ging voller Entschuldigungen zu seiner eigenen Gesellschaft.

 

Zwei Leben berührten sich in dieser Januarnacht im Ritz-Carlton – berührten sich und liefen wieder auseinander, um später, im Augenblick einer großen Krisis, wieder zusammenzukommen. Schwere Wege waren es: ein bitterer, herzzerreißender Weg für den einen, eine fortwährende Hölle für den weniger begünstigten anderm, der ihn mit dem zynischen Lächeln durchlaufen mußte, mit dem Gunner Haynes jedem Unglück begegnete.

 

Für Luke Maddison war das Leben eine verwirrende Menge von Pfaden, die einander kreuzten, die nebeneinander herliefen. Wenn er in einen Irrtum fiel, so war es der, daß er glaubte, sein eigener Pfad wäre der große, breite Hauptweg, zu dem alle anderen hinliefen, von dem alle anderen abzweigten.

 

Acht Generationen angesehener Finanzleute, alle aus guter Familie, alle aus einer Klasse, die Staatsmänner und Führer hervorbringt, waren verantwortlich für sein Vermögen, waren verantwortlich für sein gutes Äußere. Er war blond, schlank, blauäugig, und es gab Augenblicke, in denen er übermütig wie ein kleiner Junge sein konnte. Er war kein genauer Rechner, gab sein Geld gern und willig aus und war ein Idealist, was in diesem Falle bedeutete, daß er ein Verschwender jenes klingenden Materials war, das die Geschäftsherren der City in Luxus, Behaglichkeit und finanzieller Überlegenheit erhält. Luke hatte eine kleine Veranlagung zum Spieler, denn zeitweise ging er Risikos ein, die seine vorsichtigeren Freunde schaudern ließen. Und doch, mit einer halben Million goldsicherer Papiere im Depot – wie man sagte –, warum soll man da nicht ein Geschäft mit zehn Prozent Gewinn riskieren?

 

Gunner Haynes, dessen starker Arm ihn vor einem gebrochenen Handgelenk oder vor noch Schlimmerem bewahrt hatte, verfügte über keinerlei Mittel, die des Erwähnens wert waren. Sein Hauptguthaben bestand in einem tadellosen Gesellschaftsanzug, in kultivierter Sprache und vorzüglichen Manieren, die seine scharfen, finsteren Gesichtszüge vergessen ließen. Er lebte Gott weiß wo, wurde aber in den besten Hotels gesehen, allerdings nur in denjenigen, in denen er nicht als hervorragender Juwelendieb bekannt war.

 

Man nannte ihn »Gunner«, 1 und zwar wegen gewisser Vorfälle in New York. Es war wohl behauptet, aber niemals bewiesen worden, daß er es gewesen wäre, der den berüchtigten Bandenführer Lew Selinski erledigt und seinen Weg durch Lews Bande hindurch zu der Sicherheit erkämpft hätte, die ihm ein kleines Transportboot lieferte.

 

Niemand hatte ihn jemals mit einem Revolver in England gesehen; aber die Detektive, die ihn ein Jahr später nach seiner Rückkehr nach Amerika verhafteten, erwarteten eine lebhafte Schießerei und kamen infolgedessen bewaffnet.

 

Als er vor Gericht stand, kümmerte sich niemand um ihn: weder seine hübsche Frau, noch sein bester Freund Larry Vinman. Larry war eine Kanone der Hochstaplerzunft, jung, von gutem Äußeren und gefälligem Wesen.

 

Vielleicht bestanden sehr gute Gründe, daß Larry nicht wünschte, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, aber es bestand kein Grund, warum Lila nicht hätte schreiben oder irgendetwas für ihn tun können. Sie hatte tausend Pfund in barem Geld, und ein guter Rechtsanwalt wäre leicht zu finden gewesen. Aber als der Gunner nach ihr gesandt hatte, hieß es, sie hätte die Wohnung verlassen. Er sollte sie niemals wiedersehen. Wenige Monate, bevor er aus dem Gefängnis entlassen wurde, hörte er, daß sie in der Krankenabteilung eines Asyls für Obdachlose gestorben wäre.

 

Als er dies vernahm, verzog sich sein Gesicht zu einem grimmigen Lächeln. Er lächelte immer, wenn ihn etwas schmerzte – und jetzt, bei diesem bitteren Lächeln, war sein Herz eine einzige große, zuckende Wunde.

 

Er verließ das Gefängnis und trieb langsam auf eigenartigen Wegen nach England, nach dem Ritz-Carlon-Hotel, wo er Mr. Luke Maddison, der seine Verlobung feierte, treffen sollte. Von Luke wußte er nichts – was ihn aber dorthin gebracht hatte, war der Schmuckkasten einer reichen, amerikanischen Dame, der den ganzen Tag über im Geldschrank des Hotels und von neun Uhr abends bis ein Uhr nachts in ihrem Schlafzimmer zu finden war. Gunner Haynes hatte ein Zimmer in derselben Etage genommen…!

 

»Ich bitte dich wirklich fußfällig um Verzeihung«, sagte Luke, und zwar nicht zum ersten Male im Laufe des Diners. »Mein Wagen fuhr mit einem Taxi zusammen – der andere hatte die Schuld, und natürlich erschien so ein langweiliges Verkehrshindernis und mußte alle Einzelheiten mühevoll in sein kleines Buch eintragen! Daß man Schutzleuten noch keine Stenographie beigebracht hat, ist eigentlich zu bedauern!«

 

»Aber, lieber Luke, das macht doch wirklich nichts.«

 

Margarets Stimme klang ein wenig müde. Nichts schien heute abend richtig gehen zu wollen. Sogar Danton schien verstimmt zu sein und war anders als gewöhnlich. Luke kam spät, sein Eintritt war beinahe ein akrobatischer Akt, den er in den Armen eines fremden Mannes ausführte. Was verstimmte Danty? Sie hatte bemerkt, wie sein Gesicht eine krankhaft grüne Farbe annahm, als Luke hereintrat. Rex war verstimmt, schweigsam und sprach kaum mit Lady Revellson, die ihm zur Linken saß. Und Luke hatte darauf bestanden, an ihrer Seite zu sitzen, trotzdem sie schon die ganze Tafelordnung festgelegt hatte, und der Erfolg war, daß alle bei Tisch am falschen Platze saßen.

 

Wenn der Kerl nicht glücklicherweise dagewesen wäre, hätte ich mir sicherlich irgend etwas gebrochen – ich konnte mich nicht mehr halten … es hatte etwas geschneit, und ein wenig Schnee muß an meiner Sohle geblieben sein – ich mußte ja die letzten hundert Meter zu Fuß gehen, der Zusammenstoß passierte am Piccadilly-Cirkus …!«

 

»Wie sah er eigentlich aus?«

 

Dantons Stimme klang etwas heiser und gedrückt.

 

»Wer – der Mann, der mir geholfen hat?« Und als der andere nickte, fuhr Luke fort: »Ein finster aussehender Mensch – zuerst dachte ich, er wäre Deutscher … zwei Narben liefen über seine rechte Wange hinweg – wissen Sie, wie sie die deutschen Studenten so gern haben. Ich erinnere mich, als ich auf der Universität in Bonn …!«

 

Danton hörte nicht mehr zu. Zwei Narben auf der rechten Wange! Dann hatte er sich nicht getäuscht. Die einzige Frage war nur, hatte der Gunner ihn wiedererkannt? Sieben Jahre waren vergangen, seit sie sich das letztemal gesehen hatten. Danton war damals noch glattrasiert und viel heller. Millie Haynes pflegte ihn ihren »goldhaarigen Jungen« zu nennen; das war in der Zeit, wo sie noch alles in ihm sah. Er hatte sich einen Schnurrbart wachsen und sich das Haar färben lassen – und stand als Larry Vinman nicht mehr in den polizeilichen Steckbriefen. Er hatte diese durchgreifende Änderung seines Äußeren vorgenommen – lange nachdem er Millie verlassen und sie auf den Weg zum Arbeitshaus und in einen schmählichen Tod getrieben hatte. Die Veränderung war nötig gewesen, weil er einem australischen Farmer einen kleinen Streich gespielt hatte, der diesen um einige achttausend Pfund erleichterte, und weil die Bemühungen der Abteilung für Hochstapler von Scottland Yard anfingen, ihm peinlich zu werden.

 

»Gunner Haynes!« Er atmete ein wenig hastig, und ein kalter Schauder lief seinen Rücken hinunter. Angenommen, Haynes hätte seinen früheren Freund erkannt … angenommen, er hätte seinen Revolver ergriffen … angenommen, er wartete noch draußen im Vestibül!

 

Danty fuhr sich über die feuchte Stirn, sah, daß seine Wirtin ihn anblickte, und stand mit einer stummen Bitte um Erlaubnis auf.

 

»Es fällt mir gerade ein, daß ich telephonieren muß… entschuldigen Sie mich, bitte, einen Augenblick …«, murmelte er, als er hinter ihrem Platz vorbeiging.

 

Er blickte in den Wintergarten. Der Gunner war nicht dort. Er durchschritt den weiten Raum, spähte in das Vestibül – leer. Das Hotel hatte zwei Vorhallen, eine in Haymarket, die andere in Pall Mall. Beide waren durch einen Gang miteinander verbunden, den er eilig durchlief.

 

Als er in das andere Vestibül kam, sah er den Gesuchten und fuhr zurück. Gunner trat gerade in den Aufzug, und sein Rücken war dem Beobachter halb zugedreht.

 

Er war es wirklich … Es konnte kein Zweifel daran bestehen, Gunner Haynes! Die Tür des Lifts schloß sich, und Danton blickte suchend umher. Er erkannte den gutmütig aussehenden Herrn, der in der Nähe der Drehtür in seinem Sessel saß.

 

»Sie sind doch der Hoteldetektiv?« fragte er. (Als Danty Morell noch der bekannte Larry Vinman war, kannte er die meisten der Hoteldetektive vom Gehen und konnte instinktiv die ihm noch unbekannten herausfinden.)

 

»Ja, Sir – ist irgendetwas nicht in Ordnung?«

 

»Der Herr, der eben in dem Lift nach oben gefahren ist – kennen Sie ihn?«

 

Der Detektiv nannte den Namen – einer der vielen angenommenen, die der Gunner regelmäßig gebrauchte, und das Herz von Mr. Morell schlug leichter.

 

»Was? – das glauben Sie selbst nicht. Also sein Zimmer ist Nummer 986? Wissen Sie, wer es ist? … Gunner Haynes! – und er ist hinter Juwelen her. Rufen Sie Scotland Yard an. Die werden sofort heraus haben, was mit ihm los ist. Aber ich will nicht, daß mein Name erwähnt wird, verstanden?«

 

Der Detektiv stürzte an das Telephon, und Danty ging vergnügt zu seiner Gesellschaft zurück.

 

Die Geschichte war zu gut, um sie für sich zu behalten. Und noch mehr, er liebte es, wenn er die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer fesseln konnte. Für beinah volle fünf Minuten lauschte die ganze Tafelrunde atemlos seinen Worten.

 

»Er hat ein Zimmer hier im Hotel, Nummer 986. Ich kenne den Kerl ganz gut, ich war seinerzeit ein guter Freund des Staatsanwalts in New York, der mir sein Bild gezeigt hat. Einer der gefährlichsten Verbrecher von New York – äußerst geschickt – ich hoffe, es wird keine Störung im Hotel verursachen – ich erkannte ihn im selben Augenblick, als ich ihn sah, aber ich wollte mich lieber noch einmal überzeugen, um ganz sicher zu gehen.«

 

»Was haben Sie nun gemacht?«

 

Lukes Gesicht war unruhig. Er war leicht zu beeinflussen, und Danty wußte das sehr genau.

 

»Ich habe natürlich den Hoteldetektiv benachrichtigt – als ich ihn verließ, telephonierte er gerade an das Polizeipräsidium.«

 

Luke Maddison atmete tief auf.

 

»Armer Teufel!« sagte er leise. Margaret sah Danty an und schüttelte hilflos den Kopf.

 

»Sie haben Lukes Abend verdorben«, sagte sie, und Luke fuhr bei dem feinen Sarkasmus, der in ihren Worten lag, zusammen.

 

»Aber ganz und gar nicht – nur, willst du mich, bitte, einen Augenblick entschuldigen?«

 

Er war verschwunden, bevor noch das überraschte, junge Mädchen ein Wort hervorbringen konnte.

 

»Das sieht Luke wieder ähnlich – und wie alles so tadellos zusammenkommt, um uns diesen Abend so richtig zu verderben!«

 

»Wo ist er denn hingegangen?« fragte Danty unruhig.

 

Sie zuckte leicht mit den Schultern.

 

»Was tut er in einem solchen Fall? Für ihn gutsagen, ihm Geld geben, daß er frühstücken kann – sicherlich irgendwas entsetzlich Philantropisches unternehmen«, antwortete sie kurz.

 

Luke ging direkt in das zweite Vestibül und stieg in den Aufzug.

 

»Wo ist Nummer 986?« fragte er, als der Lift sich in Bewegung setzte.

 

Der Bediente hielt in der vierten Etage an und wies auf eine Tür. Mit der Hand auf der Türklinke zögerte Luke Maddison, zögerte aber nur einen Augenblick, drückte die Klinke nieder und trat in das Zimmer ein.

 

Der Mann stand am Fenster, den Rücken nach der Tür zugewandt.

 

»Nun, Sir?«

 

Er blickte sich nicht um, und Luke wurde sich klar, daß er mit Hilfe eines Spiegels, der auf einem Seitentisch stand, beobachtet wurde.

 

Luke schloß die Tür hinter sich.

 

»Wenn Sie Gunner Haynes sind, rate ich Ihnen, so schnell wie möglich zu verschwinden«, sagte er mit gedämpfter Stimme. »Sind Sie es nicht, muß ich Sie um Entschuldigung bitten.«

 

Haynes fuhr herum, als er seinen Namen hörte.

 

»Oh …«, sagte er, und nach einer kurzen Pause: »Ich bin Ihnen außerordentlich dankbar.«

 

»Haben Sie Geld?«

 

Wieder eine kurze Pause.

 

»Ja – ich habe alles, was ich nötig habe. Danke bestens.« Der Gunner lächelte, irgendetwas mußte ihn humoristisch berührt haben.

 

»Noch einmal besten Dank – ich glaube, ich begreife. Ich war nur nicht ganz sicher, ob es Larry war. Hat wohl einen großen Fischzug vor, was?«

 

All dieses war für Maddison völlig unverständlich. Er sah, wie der Gunner seinen Mantel nahm und dann wurde die Tür aufgerissen, und ein großer Mann, gefolgt von zwei anderen, kam heran. Die ganze Autorität des Gesetzes lag in seiner Stimme.

 

»Nun, Gunner!«

 

»Nun, Spatz – Sie haben sich fein gehalten!«

 

Der dicke Mann kicherte.

 

»Nicht wahr?« Seine Hände fuhren schnell über die Hüften seines Gefangenen hinweg. »Schießeisen?« fragte er im freundlichsten Ton.

 

»Nein, Sir.« Der Gunner lächelte immer noch. »Die Legende, daß ich tödliche Waffen bei mir trage, ist wirklich nicht umzubringen. Mein waffenloser Zustand würde mir sicherlich von der Liga für Menschenrechte in Genf Lob und Preis einbringen.«

 

Der Detektiv legte ihm die Handfesseln an und sah dann zwinkernd auf Luke.

 

»Hat der Mann irgend etwas, das Ihnen gehört, Mr. Maddison?« fragte er.

 

Luke war mehr als überrascht, als der Mann ihn mit seinem Namen anredete.

 

»Nein – und eigentlich tut es mir leid.«

 

»Mr. Maddison – den Namen werde ich nicht vergessen«, sagte der Gunner und nickte Luke freundlich zu, als man ihn hinausführte.

 

Diesmal nahm Margaret Leferre seine Entschuldigung nicht an, als er ihr erzählte, wo er gewesen war, und ihr Gesicht wurde schneeweiß – wie Danty Morells.

 

Es dauerte ganze drei Wochen, bevor sich diese kleine Kluft zwischen ihnen geschlossen hatte.

 

    1. gunner (gun man), hier unübersetzbar, bezeichnet den mit Revolver bewaffneten, rücksichtslosen Verbrecher, dessen Kugel nie sein Ziel verfehlt, dem ein Menschenleben nichts gilt.