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Kaum hundert Meter vom Quai des Fleurs entfernt hatte Chi So ein Restaurant.

 

Er selbst war ein Japaner, der sich als Chinese ausgab. Sein Lokal war nicht elegant, aber sehr beliebt. Viele Leute kamen hierher, um die exotischen Speisen zu genießen, die in seiner Küche zubereitet wurden, und gewöhnlich parkte eine große Anzahl von Wagen in der Nähe.

 

Tre-Bong Smith aß niemals bei Chi So, aber er verkehrte häufig dort. Das Restaurant befand sich in einem Eckhaus, das schon vor langer Zeit errichtet worden war. Unter dem Gebäude lag ein sehr geräumiger Keller, ein großer, gewölbter Raum, den Chi So in ein unterirdisches Lokal für seine Stammkunden verwandelt hatte.

 

Seit Wochen war Tre-Bong Smith mit größter Regelmäßigkeit jede Nacht um zwölf Uhr hier erschienen, um in einer der Kojen Opium zu rauchen und bis gegen vier Uhr morgens dort zu ruhen.

 

Aus vielen triftigen Gründen zog er es vor, nachts nicht in Paris herumzuwandern. Es tagte eine internationale Polizeikonferenz in der Stadt, und es war unmöglich für ihn, sich auf der Straße aufzuhalten, ohne Beamte von Scotland Yard zu treffen, die ihn sicher erkannt hätten.

 

Ob allerdings andere Besucher in dem schlanken, wenig gepflegten jungen Menschen einen früher bedeutenden Sportsmann der Universität Cambridge erkannt hätten, ist fraglich. Aber gewisse Abteilungen der Polizei hatten tatsächlich seinen Steckbrief.

 

In einem kleinen Cafe am Montmartre, in dem er abends meistens zu treffen war, hatte man ihm den Namen Tre-Bong Smith gegeben, weil er auf alle Fragen, die man an ihn richtete, »très bon« antwortete, anstatt »très bien«, wie es richtig hieß. Selbst als man später entdeckte, daß er ein tadelloses Französisch sprach und dieses »très bon« nur eine Angewohnheit von ihm war, behielt er den Namen. Auch im Lokal von Chi So wurde er so genannt. Man hielt ihn dort für einen sehr gefährlichen Mann.

 

Es gab Tage, an denen er seine Sous zählte. Manchmal blieb er Tage und Nächte unsichtbar, und wenn er dann wieder auftauchte, hatte er genügend Geld und wechselte Tausendfrancnoten mit der Eleganz eines Croupiers von Monte Carlo.

 

Aber wenn er sich überhaupt zeigte, verkehrte er regelmäßig bei Chi So.

 

Ebenso regelmäßig wie Smith besuchte auch Cäsar Valentine das Lokal. Jeden Montag, Donnerstag und Sonnabend erschien er pünktlich um zwei Uhr nachts in der Privatloge, wie die Gäste Chi Sos den Platz nannten. In einer Wand befand sich ungefähr in halber Höhe vom Boden eine halbkreisförmige Öffnung, vor der ein Balkon angebracht war. Dort brannte nie Licht, und der Raum war durch schwere Vorhänge abgesperrt. Man vermutete, daß Chi So ziemlich viel verdiente, indem er hier vornehme Leute, die einmal eine Opiumhöhle in Paris sehen wollten, gegen ein Eintrittsgeld einließ. Manchmal kamen auch Journalisten, die Geschichten aus dem Chinesenviertel verfaßten und das Milieu studieren wollten.

 

Cäsar Valentine kam für gewöhnlich durch eine Privattür direkt in den Keller, aber manchmal ging er auch durch die »Halle«, sah sich dort nach allen Seiten mit seinem frechen, herausfordernden Blick um und verschwand dann durch eine kleine Tür, hinter der eine eiserne Wendeltreppe zu der Loge hinaufführte. Dort hielt er sich gewöhnlich eine Stunde auf, schaute auf die Opiumraucher hinunter und betrachtete das merkwürdige Lokal mit den weißgetünchten Wänden, den großen, chinesischen Laternen und den vielen Kojen, in denen die Leute dem Opiumlaster frönten.

 

Chi So sagte, daß Cäsar Valentine ein »schöner Mann« wäre, und diese Beschreibung war nicht übertrieben. Valentine erschien stets in einem Frack, der ihm ausgezeichnet saß und seine schlanke Gestalt vorzüglich zur Geltung brachte. Er hatte klare, regelmäßige Gesichtszüge; seine braunen Haare waren an den Schläfen leicht ergraut. Als Tre-Bong Smith ihn zum erstenmal sah, hielt er ihn für achtundzwanzig. Bei ihrer zweiten Begegnung fiel jedoch das Licht einer Laterne direkt auf Valentine und ließ ihn bedeutend älter erscheinen. In seinen mandelförmigen braunen Augen lag ein melancholischer Ausdruck. Sein Kinn war etwas zu voll und zu rund; seine Wangen zeigten eine leichte Röte.

 

Eines Abends betrat Tre-Bong Smith wieder das Lokal Chi Sos durch die Seitentür, die die Opiumraucher benützten. Im Vorraum hatte er seinen Mantel ausgezogen.

 

Chi So, der ein blaues Seidengewand trug, rieb sich die Hände. Der kleine, häßliche Mann mit den schlauen Augen war herausgekommen, um seinen Stammgast zu begrüßen.

 

»Regnet es draußen, Mr. Smith?« fragte er mit seiner lispelnden Stimme.

 

»Es gießt ganz gehörig«, brummte Tre-Bong. »Eine entsetzliche Nacht, selbst für Paris!«

 

Chi So grinste.

 

»Sie können heute viel Opium rauchen. Ich habe eine neue Sendung aus China bekommen. Es sind auch viele Leute hier heute abend.«

 

Smith ging die Steintreppe hinunter zu der für ihn reservierten Koje. Sie lag der »Loge« direkt gegenüber.

 

Der Chinese O’San, der die Raucher bediente, brachte ihm seine Pfeife, steckte sie an und eilte dann davon.

 

Die üblichen Stammgäste, eine merkwürdig zusammengewürfelte Gesellschaft, hielten sich auch an diesem Abend hier auf. Neben Leuten aus den vornehmsten Kreisen und einigen Frauen beobachtete Smith einen alten Bettler, der seine Lebensgeschichte hatte drucken lassen und sie für ein paar Münzen an den Straßenecken verkaufte, und einen eleganten Herrn, den Attache irgendeiner ausländischen Gesandtschaft. Tre-Bong merkte sich ihn, um später eventuell Nutzen daraus zu ziehen.

 

Der alte Lefèbre sah den zufriedenen Ausdruck in Tre-Bongs Gesicht und ging zu der Koje eines Bekannten.

 

»Smith scheint ja einen guten Fang gemacht zu haben«, meinte er. »Er sieht so vergnügt aus … Vor einem Monat kam er von Enghien, hatte die Taschen voll Geld, und in der Seine fand man die Leiche des berühmten Sportsmanns Tosseau … Chi So sollte doch solche Verbrecher nicht hier verkehren lassen.«

 

Der andere schimpfte und fluchte, weil er in seinen angenehmen Träumen gestört worden war, und Lefèbre ging wieder fort.

 

Tre-Bong lag in seiner Koje, stützte sich auf die Ellenbogen und war auch in Träume versunken. Sie waren jedoch von anderer Art, als man hätte annehmen sollen.

 

Punkt zwei Uhr kam Cäsar Valentine mit Chi So, der ihn gewöhnlich begleitete. Der Asiate war sehr unterwürfig, aber Valentine sagte nichts. Er ging zwischen den Kojen durch und machte vor dem Platz von Tre-Bong halt, der mit offenen Augen vor sich hinstarrte.

 

Valentine betrachtete ihn einen Moment zerstreut, dann wandte er sich ab und ging durch die kleine Tür, die Chi So für ihn geöffnet hatte. Kurz darauf erschien er in der Loge, legte seine weißen Hände auf die rote Plüschpolsterung der Brüstung und sah auf die Opiumraucher hinunter. Und immer wieder kehrten seine Blicke zu dem unrasierten Engländer zurück.

 

Um halb drei entstand plötzlich eine Unruhe; aufgeregte Stimmen waren auf der Treppe zu hören, die zur Opiumhöhle hinunterführte. Gleich darauf erschien Chi So. Er war außer sich vor Schrecken, ging schnell auf Tre-Bong Smith zu und sprach mit ihm. In einer Sekunde war Smith auf den Füßen.

 

»Sie müssen gehen – die Polizei sucht nach Ihnen – hier, diesen Weg!« Chi So zeigte auf den kleinen Ausgang, der zur Loge hinaufführte. »Mr. Valentine wird nichts dagegen haben.«

 

Mit zwei großen Sätzen war Smith bei der Tür, schloß sie hinter sich und stieg geräuschlos die Treppe hinauf.

 

Cäsar Valentine wandte sich um, als Tre-Bong eintrat.

 

»Sind Sie in Gefahr?« fragte er.

 

»Im Augenblick noch nicht, aber in ein paar Minuten wird es wohl soweit sein«, entgegnete Smith und öffnete sein Hemd auf der Brust.

 

Cäsar sah die Mündung einer kleinen Pistole, die der Mann unter dem Arm versteckt hatte, und begriff nun auch, warum Tre-Bong immer auf der rechten Seite lag.

 

»Kennen Sie den Ausgang? Ich will Ihnen den Weg zeigen.«

 

Er zog den Vorhang zurück, der eine Tür in der Wand verdeckte. Smith ging hindurch und kam in einen matt erleuchteten Gang.

 

»Geradeaus, dann nach rechts«, sagte Cäsar hinter ihm. »Die Tür öffnet sich sehr leicht.«

 

Smith fand die Tür und trat auf einen kleinen Hof hinaus. Cäsar Valentine eilte an ihm vorbei über den Hof und öffnete ein Tor, das auf eine Seitenstraße führte. Es regnete heftig, und ein scharfer Südwestwind blies ihnen ins Gesicht.

 

»Warten Sie«, sagte Cäsar.

 

Er legte seinen weiten Mantel um die Schultern.

 

»Sie sind jünger als ich, und der Regen wird Ihnen nicht schaden.«

 

Smith grinste im Dunkeln und zog das Dolchmesser aus der Hüfttasche.

 

Valentine führte ihn durch ein Labyrinth von kleinen Gassen, und kurze Zeit später standen sie auf dem verlassenen, düsteren Quai.

 

Plötzlich packte Valentine seinen Begleiter am Arm.

 

»Einen Augenblick. Sie sind doch der Mann mit dem lächerlichen Spitznamen – nicht wahr?«

 

»Ich kann nichts dafür, daß die Leute ihn mir gegeben haben«, erwiderte Smith ein wenig kühl.

 

Valentine lachte.

 

»Sie sind also Tre-Bong Smith?«

 

Der andere nickte.

 

»Das dachte ich mir doch gleich. Ich wollte nur keinen Fehler machen. Das ist ja eigentlich bei mir auch ausgeschlossen«, fügte er hinzu.

 

Smith sah zwei Scheinwerfer und vermutete, daß sie zu Valentines Auto gehörten. Mit schnellen Schritten ging er seinem Begleiter etwas voraus auf den Wagen zu. Aber als er kaum noch dreißig Schritte davon entfernt war, tauchte plötzlich ein Mann aus dem Dunkeln auf, packte ihn am Kragen, drehte ihn um und leuchtete ihm mit einer Taschenlampe ins Gesicht.

 

»Hallo!« sagte der Mann. »Sie sind doch Tre-Bong Smith? Ich verhafte Sie, mein Junge.«

 

Valentine hielt bestürzt an, zog sich in den Schatten zurück und beobachtete von dort aus die weitere Entwicklung.

 

Nur einen Augenblick zögerte Smith, dann schlug er mit einer schnellen Bewegung die Taschenlampe aus der Hand des Beamten. Im nächsten Moment hatte er ihn an der Kehle gepackt und drückte ihn gegen die graue Steinbrüstung, hinter der die Seine floß.

 

»Was, du willst mich verhaften, du Schwein?« zischte er.

 

Das Dolchmesser blitzte in seiner Hand, und mit unglaublicher Schnelligkeit stieß er zu.

 

Der Polizist sank lautlos zu Boden.

 

Smith sah sich hastig nach allen Seiten um, bückte sich dann, hob den Mann auf und warf ihn über das Geländer in den Fluß.

 

Ein Stöhnen war zu hören, aber Tre-Bong Smith lachte nur, als er das Messer nahm und ins Wasser schleuderte.

 

Valentine rührte sich nicht, bis die Waffe im Strom verschwand. Dann kam er hervor.

 

»Sie sind etwas hitzig, mein Freund«, sagte er nur, ging mit raschen Schritten zu dem Wagen und öffnete die Tür.

 

Der Chauffeur hatte bei der schlechten Beleuchtung nicht sehen können, was geschehen war, aber andere Leute konnten Zeugen dieses kurzen, unheimlichen Kampfes gewesen sein.

 

Gleich darauf fuhr der Wagen an. Als sie an der Stelle vorbeikamen, wo der Zusammenstoß mit dem Polizisten stattgefunden hatte, glaubte Smith eine Gestalt an dem grauen Steingeländer zu sehen. Er ließ das vom Regen beschlagene Fenster herunter, um hinauszuschauen.

 

Im Lichtkegel der Scheinwerfer entdeckte er ein junges Mädchen, das vollständig in Schwarz gekleidet war und über das Geländer in den dunklen Fluß sah. Als das Auto vorbeifuhr, wandte es den Kopf, und Smith konnte einen Augenblick ihr schönes, trauriges Gesicht erkennen.

 

Er beugte sich weiter hinaus und schaute zurück, aber Valentine packte ihn am Arm.

 

»Machen Sie doch nicht solchen Unsinn«, sagte Cäsar ärgerlich. »Wen wollen Sie denn sehen?«

 

»Ach, niemand«, erwiderte Smith und schloß das Fenster.