Arsen

 

Obwohl Chefinspektor Rater vollkommen modern dachte und handelte, hatte er doch eine ungewöhnliche Abneigung gegen neue Erfindungen. Ein begeisterter Verehrer hatte ihm einen kostbaren Radioapparat geschenkt, aber das Gerät blieb sechs Monate lang unbeachtet in einer Ecke stehen. Als sich der Redner dann eines Tages doch damit beschäftigte, funktionierte er nicht, und es dauerte weitere sechs Monate, bis Rater Interesse aufbrachte, um den Teufelskasten in Gang setzen zu lassen.

 

Nach und nach söhnte er sich aber mit dem Geschenk aus, und es behagte ihm, andere Leute sprechen zu hören und selbst keine Antwort geben zu müssen. Jeden Tag studierte er nun das Programm in den Zeitungen und stellte seinen Apparat je nach seinen Wünschen ein.

 

Musik liebte er nicht besonders und beschränkte sich daher hauptsächlich auf Vorträge. Manchmal weckte ihn dann die Jazzband aus dem Orpheum-Hotel aus dem Schlaf, manchmal wachte er auch von selbst auf. Gelegentlich hörte er sich auch einmal Tanzmusik an, die direkt aus Tanzlokalen übertragen wurde. Am meisten interessierten ihn dabei die kurzen Fetzen der Unterhaltung zwischen den Tänzen, die man hören konnte, wenn die Leute in der Nähe des Mikrofons sprachen.

 

Einmal hörte er die Stimme eines Herrn, der über sein Geschäft redete. Er verstand ihn so deutlich, als ob er ihm gegenübersäße:

 

» … ich lasse niemals Rechnungen einfach laufen. Ich wußte zufällig, daß er uns nach Glasgow geschrieben hatte …«

 

Hier unterbrach ihn das Lachen einer Dame.

 

»… ich bin dem faulen Zahler heute morgen im Strand begegnet. ›Hallo!‹ sagte ich, ›Sie schulden uns noch acht Schilling‹. Doch merkwürdig, daß ich sein Gesicht sofort wiedererkannte, obwohl ich ihn nur einmal gesehen habe … nein, Arsen liefern wir nur unseren Vertretern.«

 

Nun kennt jeder das Gesetz von der Duplizität der Fälle. Wenn einem morgens der Arzt bei der Visite etwas von Sennesblättern sagt, kann man sicher sein, daß man abends bei der Unterhaltung mit einem Bekannten dasselbe Wort wieder hört. Der Redner, der fest an dieses Gesetz glaubte, war daher nicht überrascht, als er am nächsten Morgen in dem Bericht des Polizeidirektors von Wessex über den Mordfall Fainer von Arsen las.

 

Die Sache wurde Scotland Yard verhältnismäßig spät mitgeteilt. Mrs. Fainer saß im Gefängnis und wartete auf die Gerichtsverhandlung. Der Redner las das Schreiben langsam und aufmerksam durch wie gewöhnlich.

 

» … ich bin absolut nicht überzeugt, daß diese Frau die Mörderin ist«, schrieb der Polizeidirektor, ein Freund Mr. Raters. »Ich bin auch mit der Arbeit meiner Detektive nicht zufrieden, obwohl sie sonst Gutes leisten. Es ist schade, daß ich mich nicht früher an Scotland Yard gewandt habe. Aber wenn es Ihnen irgendwie möglich ist, möchte ich Sie bitten, hierherzukommen, obwohl es ein vergebliches Unternehmen sein wird, den Fall aufzuklären.«

 

Der Redner ging mit diesem Brief zum Polizeipräsidenten. Es war gerade nicht viel zu tun, und er erhielt die Genehmigung, nach Burntown zu fahren. Sein Freund holte ihn auf dem Bahnhof ab.

 

»Die Verhandlung findet schon nächste Woche statt, und ich sehe keine Möglichkeit, daß Sie bis dahin entlastendes Material beischaffen könnten. Die Beweise, die wir in der Hand haben, genügen vollkommen, um die arme Person an den Galgen zu bringen. Es tut mir wirklich leid um sie«, fügte er hinzu. »Sie ist eine schöne Erscheinung, und sie war viel zu gut für ihren Mann, einen unduldsamen, nörgelnden Menschen, der obendrein noch Halbinvalide war und sie von morgens bis abends quälte. Sie war eigentlich im Recht – wenn sie es wirklich getan haben sollte.«

 

Der verstorbene Mr. Fainer war ein wohlhabender Kaufmann gewesen, der sich schon als Dreißiger vom Geschäft zurückgezogen hatte. Zehn Jahre später hatte er die junge Dame geheiratet, die jetzt im Gefängnis saß. Sie hatte kein schönes Leben an seiner Seite, denn er war ein harter Mann, mit dem man schlecht auskommen konnte. Aber allem Anschein nach hatte sie ihr Los getragen, ohne zu klagen und zu murren. Bekannte hatte sie kaum. Nur mit einem gewissen Mr. Alexander Brait war sie befreundet, der eine Anzahl bedeutender Firmen vertrat und eine Generalagentur besaß.

 

Mr. Brait war ein sehr angesehener Bürger in Burntown. Er betätigte sich in der Jugendfürsorge, war ein guter Redner und Mitglied des Kirchenchors, interessierte sich auch sonst für wohltätige Zwecke und stand überall in dem besten Ruf.

 

»Zweifellos traute auch der verstorbene Fainer seinem Freunde Brait mehr als jedem anderen«, berichtete der Kollege Mr. Raters. »Das ist auch leicht erklärlich, denn Brait ist ein offener, freier Charakter, der Sinn für Humor hat und durch seine witzige Unterhaltung Fainer oft aus seiner trüben Stimmung riß. Dadurch hat er auch das Leben der Frau etwas erleichtert. Es ist direkt tragisch, daß ausgerechnet er der Hauptzeuge für die Staatsanwaltschaft ist.«

 

»Wie kommt denn das? Hat er gesehen, daß sie ihm das Gift gab?« fragte der Chefinspektor.

 

Zu seinem größten Erstaunen nickte sein Freund.

 

»Allem Anschein nach ist dem Mann das Gift während des Tees beigebracht worden. Fainer, seine Frau und Brait waren im Zimmer. Sie reichte ihrem Mann eine Schale mit Gebäck. Daraufhin wurde ihm übel – er starb am nächsten Morgen. Bei der Obduktion stellte man Arsenvergiftung fest. Brait wußte nichts davon, da er gleich nach dem Tee weggegangen war. Er erfuhr es erst am nächsten Tag und kam dann in eine furchtbare Situation. Er hatte nämlich Mrs. Fainer an dem Nachmittag des Unglückstages getroffen, und sie hatte ihn gebeten, von einer Apotheke Arsen zu besorgen. Mr. Brait war bestürzt über dieses Ansinnen, wollte sie aber nicht beleidigen und sagte, er könnte es nur beschaffen, wenn er dem Apotheker angäbe, zu welchem Zweck er es haben wollte, und gleichzeitig ein ärztliches Rezept vorzeigte. Sie geriet daraufhin in große Verwirrung und bat ihn, die Sache zu unterlassen. Als er dann später zum Tee zu Fainers kam, erwähnte sie nichts mehr davon.«

 

»Wurde denn später Arsen im Hause gefunden?«

 

»Nein. Obwohl wir alles genau durchsuchten, konnten wir nicht die geringste Spur entdecken. Ebensowenig war festzustellen, wo das Arsen gekauft wurde. Sie bestreitet auch aufs entschiedenste, ihrem Mann das Gift gegeben zu haben. Sie gibt zwar zu, daß sie Brait an dem Nachmittag in der Stadt getroffen hätte, und zwar in der Hauptgeschäftsstraße, wie auch er aussagt, aber sie erklärt mit aller Bestimmtheit, daß sie nicht mit ihm über Arsen gesprochen hätte. Brait ist darüber nicht verwundert. Er ist ein vernünftiger Mann und sieht vollkommen ein, daß die unglückliche Frau lügen muß, um ihr Leben zu retten.«

 

»Wie lange wohnt Brait schon in der Stadt?«

 

»Ungefähr fünf Jahre. Er ist hier sehr geachtet und angesehen.«

 

Und nun hörte der Redner aufs neue von allen Vorzügen dieses Mannes.

 

»Hatte sie irgendeinen Liebhaber?« unterbrach er seinen Freund.

 

»Nein, mein Lieber, daran ist gar nicht zu denken. Wir haben uns natürlich in jeder Weise erkundigt, aber nichts herausgefunden, was darauf hindeuten könnte.«

 

»Ich weiß eigentlich nicht, wie ich noch bei der Aufklärung des Falles helfen könnte. Es handelt sich höchstens noch darum, nachzuweisen, woher das Arsen gekommen ist.«

 

»Ja, das stimmt«, erwiderte Raters Kollege. »Dabei haben eben meine Beamten vollkommen versagt.«

 

Der Redner erinnerte sich in diesem Augenblick zufällig an das, was er durch sein Radio gehört hatte, und rief sofort den Oberkellner des Orpheum-Hotels an, der ihm persönlich bekannt war.

 

»Die Herren sprachen über Arsen? Das könnte nur Mr. Langfort aus Glasgow gewesen sein. Er ist der Inhaber einer großen chemischen Fabrik. Seit gestern ist er hier, und morgen früh fährt er wieder nach Glasgow ab. Wollen Sie mit ihm sprechen?«

 

»Ja, wenn es möglich ist.«

 

Mr. Rater mußte fünf Minuten warten, bis Mr. Langfort gerufen worden war. Er erkannte die Stimme sofort wieder, die er am vergangenen Abend durch den Lautsprecher gehört hatte. Er gab sich zu erkennen, was großen Eindruck auf Langfort machte, und erklärte dann den Zweck seines Anrufs.

 

»Zu komisch, daß Sie mich gehört haben. Das würde meine Frau ja sehr interessieren! Es stimmt, ich sprach über Arsen. Aber ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie nicht erwähnten, daß ich mich mit einer Dame unterhielt …«

 

Der Redner lächelte und beruhigte ihn über diesen Punkt.

 

»Es handelte sich um einen Mann, den ich gestern auf der Straße traf. Er besuchte mich früher einmal in Glasgow. Es muß ein Reisender oder ein Vertreter großer Firmen sein. Ich erkannte ihn zufällig wieder. Er hat bei mir ein Pfund Arsen gekauft, ich kann Ihnen auch noch das genaue Datum geben. Ich habe nämlich ein ganz vorzügliches Gedächtnis …«

 

Der Redner ließ ihn erst fünf Minuten über sich und seine Person sprechen, bevor er ihn höflich an das eigentliche Thema der Unterhaltung erinnerte.

 

»Sie wollen seinen Namen wissen? Er hieß Grinnet. Und er hatte ein Geschäft in Bristol. Soviel ich weiß, hatte er auch einen bescheidenen Handel nach Übersee, aber der Kerl hat nicht bezahlt. Nach all diesen Jahren habe ich ihn nun hier in London wiedergetroffen!«

 

»Hat er denn wenigstens jetzt seine Rechnung beglichen?«

 

»Darauf können Sie sich verlassen«, erwiderte Mr. Langfort triumphierend. Er war sehr zugänglich und wollte alles erzählen, was er wußte, aber der Redner dämpfte den Wortschwall des Mannes, da er nur gewisse Einzelheiten brauchte. Er machte sich Notizen, obwohl er nicht wußte, ob sie jemals nur den geringsten Wert für ihn haben könnten.

 

Am Abend speiste er mit seinem Freund und Kollegen und fragte bei der Gelegenheit, ob er die Gefangene besuchen könnte.

 

»Natürlich. Kommen Sie morgen früh ins Gefängnis. Ich werde dafür sorgen, daß alle Formalitäten vorher erledigt sind. Ich glaube allerdings kaum, daß sie Ihnen viel sagen wird, und mir tut es auch leid, wenn ich dazu beitragen muß, sie noch mehr zu belasten. Aber vielleicht können Sie mit ihr sprechen und sie zur Vernunft bringen. Machen Sie doch eine Andeutung, daß sie dem Todesurteil entkommen kann, wenn sie ein volles Geständnis ablegt.«

 

Am nächsten Morgen ging der Redner um neun Uhr durch das düstere Tor des Wilsey-Gefängnisses und wurde zu dem Wartezimmer der Frauenabteilung geführt. Gleich darauf öffnete sich eine Tür an der gegenüberliegenden Seite, und eine Frau trat in den Raum. Sie sah bleich und apathisch aus, aber sie bewahrte ihre Haltung.

 

Der Redner war durchaus nicht sentimental, aber noch nie war ihm eine schöne Frau so fesselnd und anziehend erschienen. Ihr Anblick erschütterte ihn. Aber er war sich nicht darüber klar, ob ihn die furchtbare Lage bedrückte, in der sie sich befand, oder ob ihr ruhiges Wesen, das von Unschuld sprach, so großen Eindruck auf ihn machte.

 

»Ich bin Chefinspektor Rater von Scotland Yard«, sagte er freundlich, »und ich möchte gern mit Ihnen sprechen.«

 

Sie schloß einen Moment die Augen und schüttelte müde den Kopf.

 

»Ich weiß nicht, was ich Ihnen noch sagen sollte. Ich habe den anderen Beamten schon alles erzählt.«

 

Er ging zu dem Tisch, setzte sich dicht neben sie und gab dem anwesenden Wärter ein Zeichen, sich in eine Ecke des großen Raumes zurückzuziehen.

 

»Ich will Ihnen sagen, was Sie mir mitteilen sollen.«

 

»Woher das Gift kam? Ich weiß es nicht. Das habe ich nun schon so oft erklärt. Ich erwarte auch gar nicht, daß Sie es mir glauben.«

 

»Die Gerichtsverhandlung gegen Sie findet nächste Woche statt. Wollen Sie bei der Geschichte bleiben, die Sie über Mr. Brait erzählt haben?«

 

»Ich habe mit Mr. Brait niemals über Gift gesprochen. Darauf kann ich einen Eid leisten. Aber das macht wohl auch keinen Unterschied.«

 

»Wissen Sie, warum Mr. Brait Ihren Angaben widerspricht?«

 

Sie zuckte die Schultern.

 

»Das kann ich Ihnen nicht sagen.«

 

Der Redner hatte ein erstaunlich und geradezu unheimlich feines Einfühlungsvermögen. Ihr Achselzucken und der Ton ihrer Stimme verrieten ihm mehr, als sie ahnte.

 

»Sind Sie mit Mr. Brait sehr befreundet?«

 

»Nein«, erwiderte sie zögernd, »nicht sehr.«

 

»Hat er jemals versucht, zu Ihnen in nähere Beziehungen zu tretend«

 

»Darüber möchte ich nicht sprechen.«

 

»Hat er Ihnen nie eine Liebeserklärung gemacht?«

 

Sie sah ihn bestürzt an.

 

»Wer hat Ihnen das gesagt?«

 

»Er hat Ihnen also eine gemacht?«

 

Sie seufzte.

 

»In gewisser Weise ja. Aber woher wissen Sie das?«

 

»Wie sieht Mr. Brait denn eigentlich aus?«

 

Ein scheuer, verwunderter Blick streifte ihn.

 

»Haben Sie ihn denn noch nicht gesehen?«

 

»Nein, ich bin bisher nur mit dem Polizeidirektor zusammengekommen. Ich weiß nicht, ob Sie mir glauben, Mrs. Fainer, aber ich möchte Ihnen tatsächlich helfen, und ich stelle Ihnen keine Fallen, wenn ich Sie etwas frage.«

 

Sie schaute ihn lange und prüfend an.

 

»Ich glaube es Ihnen«, entgegnete sie dann. »Ich habe Ihren Namen schon gehört, Mr. Rater. Man nennt sie doch den Redner?« Ein schwaches Lächeln glitt über ihre blassen Züge. »Heute machen Sie diesem Namen tatsächlich einmal Ehre.«

 

Er konnte es nicht verhindern, daß er leicht errötete.

 

»Da mögen Sie recht haben«, sagte er zurückhaltend. »Aber wollen Sie mir nicht etwas mehr von Mr. Brait erzählen?«

 

Ihre Geschichte war nicht lang. Zweimal hatte sie einen unangenehmen Auftritt mit ihm gehabt, und er hatte ihr auch ein paar Briefe geschrieben.

 

Der Redner wußte, daß sie ihm verschwieg, wie schrecklich diese unangenehmen Auftritte für sie gewesen sein mußten.

 

»Haben Sie diese Briefe aufgehoben?«

 

Sie zögerte wieder.

 

»Ja. Ich war deshalb ein wenig in Unruhe, aber ich wollte sie aufheben für den Fall … Sehen Sie, mein Mann glaubte vollkommen an den ehrlichen Charakter Mr. Braits, aber ich habe mich sehr vor ihm gefürchtet. Ich legte die Briefe in einen Kasten und verschloß ihn, aber mein Mann muß ihn in meiner Abwesenheit geöffnet haben. Als ich ihn nach einiger Zeit wieder aufmachte, waren die Briefe nicht mehr darin. Ich weiß nicht, wie er auf den Gedanken kam, den Kasten zu durchsuchen, denn ich verwahrte gewöhnlich nur leeres Briefpapier darin.«

 

»Hat Ihr Mann mit Ihnen über diese Sache gesprochen?«

 

»Nein.«

 

»Es könnte doch aber auch sein, daß einer der Dienstboten die Briefe entwendet hat. Sind Sie überhaupt sicher, daß die Briefe wirklich herausgenommen wurden? Vielleicht liegen sie noch darin?«

 

»Ich bin meiner Sache ganz sicher. Noch kurz vor meiner Verhaftung sah ich nach. Die Polizei hat den Kasten jetzt in Verwahrung. Aber man hat kein Beweismaterial gegen mich darin gefunden.«

 

Sie lächelte ihn wieder an.

 

»Aber nun sagen Sie mir, wie sieht Brait aus?«

 

Sie beschrieb ihn mit einigen Worten.

 

»In mancher Beziehung hat er einen sehr schlechten Charakter, und man kann ihn ja schließlich nicht dafür tadeln, daß er sich in eine Frau verliebt. Wenn er mir nur das nicht angetan hätte! Er sieht sehr vorteilhaft aus, ist aber viel älter, als er auf den ersten Blick erscheint. Und er hat hübsche blaue Augen. Sie werden ihn wahrscheinlich noch sehen.«

 

»Ja, heute abend spreche ich mit ihm«, entgegnete Mr. Rater, und zu ihrem größten Erstaunen erhob er sich. »Ich glaube, ich brauche weiter keine Fragen mehr an Sie zu richten. Nur möchte ich wissen, ob der Kasten ein gewöhnliches Schloß hatte.«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Nein, das ist ja das Merkwürdige. Der Kasten ist ein Hochzeitsgeschenk und hat ein Yaleschloß. Der einzige Schlüssel dazu war in meinem Besitz.«

 

»Warum verwahrten Sie denn Briefpapier darin?«

 

Sie errötete.

 

»Mein Mann sah nicht gern, daß ich Briefe schrieb. Er war wirklich sehr geizig und zählte jeden Morgen die Briefbogen auf dem Schreibtisch nach. Über jedes Blatt Papier und über jedes Kuvert mußte ich ihm Rechenschaft geben. Das klingt lächerlich, nicht wahr? Ich kaufte mir deshalb Briefpapier in der Stadt und verwahrte es in dem Kasten. Er war immer eifersüchtig, daß ich alte Freundschaften weiterpflegte und mit einigen Damen korrespondierte, die ich von der Schulzeit her kenne. Das werden Sie leicht beweisen können, aber ich weiß nicht, wozu das helfen könnte.«

 

»Warum haben Sie denn der Polizei nichts von Braits Liebeserklärungen erzählt, als Sie verhaftet wurden?«

 

Sie schauderte zusammen.

 

»Ich dachte nicht, daß mir das irgendwie nützen könnte.«

 

Der Redner verließ das Gefängnis mit der festen Überzeugung, daß die Frau unschuldig war, und es war ja nicht das erstemal in seinem Leben, daß er sich auf die Seite der Verteidigung stellte. Aber noch nie hatte sein inneres Gefühl so sehr für einen Angeklagten gesprochen wie in diesem Fall.

 

Am Abend kam er mit Mr. Brait zusammen und sagte ihm, daß er Mrs. Fainer im Gefängnis getroffen hätte und daß sie beharrlich bei ihrer Aussage bliebe, nicht über Arsen mit ihm gesprochen zu haben.

 

Mr. Brait hörte zu und machte ein trauriges Gesicht.

 

»Ich wünschte wirklich, ich hätte sie an dem Tag niemals getroffen. Ich hatte auch erst gar nicht die Absicht, in die Stadt zu gehen. Es war der reinste Zufall, daß ich ihr nachher begegnete. Ich habe die Frau sonst sehr gern.«

 

»Was meinen Sie damit? Lieben Sie die Dame?«

 

Mr. Brait wurde rot.

 

»Ich weiß nicht, wie Sie dazu kommen, eine solche Frage an mich zu stellen«, erwiderte er etwas von oben herab. »Ich habe sie sehr gern, weil sie eine hübsche Erscheinung ist. Mit ihrem Mann war ich enger befreundet als mit ihr. Das ist alles.«

 

»Haben Sie ihr Briefe geschrieben?«

 

Mr. Brait lächelte.

 

»Hat sie Ihnen das gesagt? Nun, dann will ich es nicht abstreiten. Ich habe ihr ein paar kurze Mitteilungen geschickt, wann ich abends zum Kartenspiel kommen würde und dergleichen. Meinen Sie, ich hätte ihr auch noch andere Briefe geschrieben?«

 

»Ich meine gar nichts, ich frage Sie nur«, entgegnete der Redner kurz.

 

Nachdem Brait gegangen war, machte der Polizeidirektor, in dessen Büro die Unterhaltung stattgefunden hatte, seinem Kollegen Vorwürfe.

 

»Ich glaube nicht, daß Sie auf diese Weise mit Brait umgehen sollten. Er ist wirklich ein sehr anständiger und geachteter Mann. Der tut keinem Menschen etwas zuleide. Welche Meinung haben Sie denn von Mrs. Fainer?«

 

»Ich habe den besten Eindruck von ihr.«

 

Am nächsten Morgen war Mr. Rater schon frühzeitig unterwegs, und der junge Detektiv, der ihm zur Unterstützung beigegeben war, brachte ihm verschiedene interessante Neuigkeiten.

 

»Braits Bürojunge hat seine Stelle verloren, weil er während der Geschäftszeit rauchte. Ich habe mich mit ihm unterhalten, er ist ein intelligenter Bursche.«

 

»Ich hasse intelligente Burschen«, brummte der Redner. »Mir ist es viel lieber, wenn sie vernünftig und normal sind.«

 

Aber später wußte er die Intelligenz des Jungen doch sehr zu schätzen, als er durch dessen Vermittlung ein Tagebuch erhielt. Während der nächsten Tage fuhr Mr. Rater dreimal zu einer benachbarten Stadt, die fünf Meilen entfernt lag. Das tat er nur, weil er von dort aus telefonieren konnte, ohne die Neugierde der lokalen Zentrale zu erregen. Er führte Ferngespräche mit St. Helens in Lancashire und mit einem Pfarrer in einer Stadt in Somerset. Als er abends nach Burntown zurückkehrte, war bis auf das Geheimnis des verschlossenen Kastens alles aufgeklärt.

 

Der Polizeidirektor bewahrte ihn in seinem Büro auf.

 

»Er hat absolut keinen Wert. Mrs. Fainer gab uns auch den Schlüssel dazu. Aber es liegt nur leeres Briefpapier darin.«

 

»Ist das Papier noch darin?«

 

»Ich glaube«, erwiderte sein Freund erstaunt und holte den Kasten herbei. »Hier ist auch der Schlüssel.«

 

Mr. Rater schloß auf und klappte den Deckel zurück.

 

Es lagen ungefähr ein Dutzend Briefbogen von verschiedener Größe und ein halbes Dutzend Kuverts darin.

 

»Ich möchte nur wissen, warum sie Briefpapier von so verschiedenem Format kaufte?« meinte der Chefinspektor.

 

Er nahm die drei obersten Bogen heraus und legte sie auf den Tisch. Daneben breitete er die übrigen aus, die größer waren.

 

»Und warum hob sie angeschmutztes Briefpapier auf?«

 

»Ja, wie in aller Welt soll ich denn das wissen?«

 

Mr. Rater lächelte, was selten genug vorkam.

 

»Ich werde diese Bogen mitnehmen, wenn Sie nichts dagegen haben. Morgen fahre ich nach London; am Sonntag bin ich wieder zurück. Aber bevor ich fahre, möchte ich noch einmal Mrs. Fainer sprechen.«

 

Er hatte eine merkwürdige Unterhaltung mit ihr. Als sie diesmal in den Raum trat, war ihr Schritt fester und sicherer, und die Apathie war aus ihren Zügen gewichen.

 

Und doch hatte ihre veränderte Haltung einen ganz anderen Grund, als er annahm.

 

»Ich habe es aufgegeben«, sagte sie. »Es ist am besten und wird mir am leichtesten. Ich wünschte nur, der Prozeß wäre schon vorüber.«

 

»So dürfen Sie nicht sprechen«, erwiderte er düster.

 

Einen Augenblick leuchteten ihre Augen auf, aber der Glanz erlosch sofort wieder.

 

»Mr. Rater, wenn mich die Geschworenen wirklich durch einen fast undenkbaren Glücksumstand für unschuldig erklärten, hätte das Leben doch keinen Zweck mehr für mich. Ich bin für immer gezeichnet. Ich müßte das Land verlassen, und mein Mann hat mir nichts hinterlassen. Noch kurz vor seinem Tode hat er sein Testament widerrufen, weil er glaubte, daß ich ihn vergiftet hätte. Ich fühle mich nicht mehr stark genug, mit einer solchen Bürde noch einmal den Kampf ums Dasein aufzunehmen.«

 

»Aber sie könnten doch wieder heiraten«, entgegnete der Redner, ohne sie anzusehen.

 

Sie schaute ihn sonderbar an.

 

»Was sind Sie doch für ein merkwürdiger Mann, Mr. Rater! Sie gleichen nicht ein bißchen den Beschreibungen, die ich von Ihnen in den Zeitungen gelesen habe.«

 

Er stand auf und räusperte sich.

 

»Sie müssen dem Leben ganz anders gegenübertreten.«

 

»Glauben Sie denn, daß mich die Geschworenen freisprechen?« fragte sie überrascht.

 

»Das glaube ich nicht nur, das weiß ich ganz sicher. Sehen Sie, die Putzfrau hat die Jacke aufgehoben, um die Hosen ihres kleinen Jungen damit zu flicken.«

 

Sie schaute ihn an, als ob sie einen Betrunkenen vor sich hätte, und er las ihre Gedanken in ihrem Blick.

 

»Nein, ich bin nicht verrückt«, sagte er und verließ das Zimmer schnell.

 

Der junge Detektiv war bei seinen Nachforschungen auf die Putzfrau gestoßen, und es war bereits ein Bericht nach Scotland Yard unterwegs, in dem Mr. Rater empfahl, den Mann ins Polizeipräsidium nach London zu versetzen.

 

Der Redner war zwei Tage in London, dann kam er mit dem Sechsuhrzug nach Burntown zurück. Sein Kollege holte ihn wieder an der Bahn ab.

 

»Ich habe wunschgemäß Mr. Brait gebeten, auf mein Büro zu kommen«, sagte er etwas kurz.

 

Es tat ihm bereits leid, daß er sich an Scotland Yard gewandt hatte.

 

»Aber ich möchte nicht haben, daß Sie ihn wieder beleidigen«, fuhr er fort. »Er war uns sehr behilflich und hat uns jede nur mögliche Information gegeben.«

 

»Ich weiß nicht, ob ich ihn ärgern werde oder nicht, aber ich habe herausgebracht, was Sie von mir wissen wollten, und damit sollten Sie doch eigentlich zufrieden sein.«

 

»Sie haben entdeckt, woher das Gift kam?«

 

Der Redner nickte, gab aber keine nähere Erklärung.

 

Als sie in das Polizeibüro kamen, waren schon zwei andere Beamte zugegen. Mr. Brait erhob sich lächelnd und begrüßte den Redner. Aber Mr. Rater übersah die Hand, die ihm der Mann reichen wollte.

 

»Wie lange wohnen Sie schon in Burntown?« fragte er ohne weitere Einleitung.

 

»Fünf Jahre.«

 

»Wo hielten Sie sich vorher auf?«

 

Mr. Brait erzählte es ihm.

 

»Hatten Sie dort auch eine Generalagentur?«

 

Der Zeuge nickte.

 

»Waren Sie sehr überrascht, als Mrs. Fainer sie bat, Arsen für sie zu kaufen?«

 

»Natürlich.«

 

»Sie haben vermutlich niemals mit Arsen gehandelt?«

 

»Nein«, entgegnete Mr. Brait mit fester Stimme.

 

»Sie haben niemals Arsen pfundweise von der Fabrik gekauft? Ich frage Sie das, weil ich beweisen kann, daß Sie an dem Tag, an dem Mr. Fainer erkrankte, ein eingeschriebenes Paket erhielten. In Ihren Büchern ist es als ›Chemikalien‹ eingetragen, aber ich habe die Firma in St. Helens gefunden, die es Ihnen lieferte.«

 

Brait nickte ruhig.

 

»Ja, ich kann mich jetzt entsinnen. Ich kaufte ein Pfund oder auch ein halbes – das weiß ich nicht mehr genau – und ließ es noch am selben Tage an einen Kunden in Schanghai weitergehen.«

 

»Wer war dieser Kunde?«

 

»Daran kann ich mich im Augenblick nicht erinnern.«

 

»Haben Sie den Einlieferungsschein für die eingeschriebene Sendung, die Sie nach Schanghai schickten?«

 

Mr. Brait zögerte eine Sekunde.

 

»Das Paket war nicht eingeschrieben.«

 

»Warum denn nicht? Sie haben doch der Firma in St. Helens Auftrag gegeben, Ihnen das Arsen eingeschrieben zu senden. Weshalb haben Sie es dann nach China gesandt, ohne diese Vorsichtsmaßregel zu ergreifen?«

 

Mr. Brait antwortete nicht.

 

»Um wieviel Uhr haben Sie es zur Post gegeben?«

 

»Um eins«, entgegnete Mr. Brait unvorsichtig.

 

Der Redner nützte sofort die Blöße aus, die sich der andere gegeben hatte.

 

»Das war zehn Minuten, bevor Sie Mrs. Fainer verließen. Sie hatten das Gift also damals in der Tasche?«

 

Mr. Brait wurde rot, dann bleich.

 

»Ich beantworte Ihnen keine Fragen mehr«, erwiderte er wütend.

 

»Im Gegenteil, Sie werden mir jede Frage beantworten, die ich an Sie stelle!« sagte der Chefinspektor scharf. »Sie gingen dann nicht gleich zur Post?«

 

»Nein, ich habe das Päckchen erst am Abend aufgegeben«, entgegnete Mr. Brait düster.

 

»Dann hatten Sie also das Arsen bei sich, als Sie bei Fainers zum Tee erschienen? Ich nehme an, daß das Paket in Ihrer Jackentasche aufgerissen war, als Sie nach Hause zurückkehrten. Am nächsten Tag haben Sie die Jacke verbrannt. Aber dabei hatten Sie Pech – die Putzfrau nahm sie an sich. Sie war nur angebrannt, auch die Tasche war heilgeblieben. Und darin habe ich Spuren von Arsen gefunden. Was sagen Sie dazu?«

 

Mr. Brait atmete schwer.

 

»Ich will Ihnen noch etwas mitteilen«, fuhr Mr. Rater fort. »Vor fünf Jahren haben Sie schon einmal Arsen von einer Firma in Glasgow bezogen, aber erst neulich, als der Lieferant Sie in London traf, haben Sie die Sendung bezahlt. Der Mann wird als Zeuge geladen, um Sie bei der Verhandlung zu identifizieren. Seinerzeit wurde das Arsen nach der Stadt geschickt, in der Sie früher wohnten und auch eine Generalagentur hatten. Jenes Arsen haben Sie wohl auch nach China geschickt?«

 

Mr. Brait antwortete wieder nicht.

 

»Drei Tage darauf starb Ihre erste Frau!«

 

Jetzt sprang der Mann wütend auf.

 

»Was behaupten Sie da?« schrie er außer sich. »Warum sollte ich denn Mr. Fainer umbringen – er war doch mein bester Freund!«

 

»Weil Sie seine Frau liebten und ihr in Ihren Briefen den Vorschlag machten, mit Ihnen zu fliehen.«

 

»Dann müssen Sie aber erst diese Briefe als Beweis vorlegen!«

 

»Das werde ich auch tun. Ich habe sechs Stück in einem Kasten von Mrs. Fainer gefunden. Sie selbst glaubte allerdings, sie wären herausgenommen worden, aber das stimmte nicht. Die Tinte war nur vollständig verblaßt. Und wer Liebesbriefe mit unsichtbarer Tinte schreibt, ist ein Schuft. Verhaften Sie ihn!«

 

Ein Beamter sprang zur Tür, um Mr. Brait abzufangen, als er hinauseilen wollte. Einen Augenblick blieb der Verbrecher stehen, als ob er nicht wüßte, was er tun sollte, dann riß er den Revolver aus der Tasche, bevor der Redner ihn erreichen konnte.

 

Ein Schuß krachte, und Mr .Brait fiel zu Boden.

 

Die Verhandlung gegen Mrs. Fainer, die ihren Mann ermordet haben sollte, war nur ganz kurz, und nachher nahm sie der Redner in seinem Sportwagen nach London mit. Unterwegs sprach er aber nur einmal, und zwar als sie auf der Spitze eines Hügels haltgemacht hatten. Man hatte dort einen wundervollen Ausblick über ein weites, prächtiges Tal, durch das sich in vielen Windungen ein Fluß hinzog. Er sprach allerdings lange und eindringlich.

 

Seine Frau erinnerte ihn später noch oft an diese folgenschwere Durchbrechung seines heiligen Prinzips.