Das Diamantenklavier

 

 

»Auf schwarzdunklem Moor oder felswildem Strand

Leg‘ ich mich nieder, wegmüd und krank.

Kalt wölbt sich der Himmel von West nach Ost,

Weder Mantel noch Decke schützt mich vor Frost.

Nur kaltfunkelnde Sterne halten still Wacht –

Wer weiß, wo ich ruhn werde in dieser Nacht!«

 

 

Wenn dies nicht Poggys Lieblingsballade gewesen wäre, würde Ferdie auch den Mund gehalten und nichts gesagt haben. Aber sooft sich Letty an den schönen Flügel setzte, mit ihren schlanken, weißen Händen über die Tasten fuhr, die Noten vornahm und sagte: »Ach, das mag ich nicht«, oder: »Das ist herrlich, aber ich kann es leider noch nicht richtig zum Ausdruck bringen«, und schließlich den »Zigeunersang« spielte, konnte Ferdie einfach wütend werden. Er biß dann die Zähne zusammen, lehnte sich in seinem Sessel zurück und sagte das große Einmaleins vor- und rückwärts her, bis sie mit dem Stück fertig war. Natürlich hatte Poggy den »Zigeunersang« gedichtet und komponiert. Sein Name, E. Poglam Bannett, stand in großen Buchstaben quer auf der Vorderseite, und Poggy erhielt unglaublich hohe Summen als Tantiemen für diese Komposition. Zu den Ungläubigen gehörte auch Ferdie.

 

»Das ist doch einfach ein blödsinniges Gedudel«, sagte Ferdie. »Dabei kann man sich doch überhaupt nichts Vernünftiges denken. Wie kann man nur so etwas sagen: ›Wer weiß, wo ich ruhn werde in dieser Nacht!‹ Einen solchen Quatsch brauchst du doch nicht zu singen. Du weißt doch sehr gut, wo dein Zimmer ist!«

 

Letty ließ die Hand in den Schoß sinken. Am liebsten hätte sie ihm eine Ohrfeige gegeben.

 

Aber statt dessen nahm sie ein Buch, ging zum Bibliothekstisch hinüber, den ihr Vater im Wohnzimmer aufgestellt hatte, und setzte sich. Dann unterhielten sich die beiden miteinander. Aber es kam in den nächsten zehn Minuten zu einer scharfen Auseinandersetzung.

 

»Hoffentlich ist dir bewußt«, erklärte Ferdie mit stockender Stimme, »daß du mein ganzes Leben zerstört hast.«

 

Lettice Revel dachte darüber nach, dann runzelte sie die Stirn, verzog den Mund und überlegte sich, was sie ihm antworten sollte.

 

»Du spielst also auch den sehnsüchtigen Spanier?« fragte sie schließlich.

 

Ferdie kannte die letzten Operetten nicht und wußte daher auch nichts von dem Schlager »Der sehnsüchtige Spanier«. Aber die Spanier waren im allgemeinen ein romantisches und melancholisches Volk, deshalb hatte er nichts gegen die Bezeichnung einzuwenden.

 

»Ja, ich glaube, daß die Spanier auch zu solchen Stimmungen neigen. Ich sage dir, Letty, wie ein dürrer, kahler Fels steht mein zerstörtes Leben in der Brandung des Weltalls. Du hast mich einfach vernichtet. Es ist, als ob ich von den rasiermesserscharfen Rädern des Schicksals zermalmt würde!«

 

»Ach, du meinst zu einer Art Frikassee? Das erinnert mich an Irish Stew«, erwiderte sie interessiert. »Weißt du, wir hatten eine greuliche Lehrerin für Kochen im Pensionat. Wir haben sie die ›Zähe Dora‹ getauft, weil sie immer –«

 

»Aber ein Mann darf doch mit Recht verlangen, daß eine Frau nicht mit nägelbeschlagenen Schuhen auf seinen heiligsten Gefühlen herumtrampeln wird, wenn sie seinen Ring angenommen und auf seine Frage erwidert hat, daß sie ihn liebt. Wenn ein Mann noch Prinzipien hat und es deshalb ablehnen muß, zu einer Gesellschaft zu gehen, in der sich ein schrecklich fetter kleiner Musiker mit schwarzen öligen Locken und Hundeaugen breitmacht, dann ist er vollkommen in seinem Recht. Dieser blöde Hammel von einem Komponisten will sich bloß interessant machen und denkt, er ist gescheit, wenn er dumme Witze erzählt, die er sich doch nur aus einer Zeitung ausgeschnitten hat … Ja, da staunst du! Aber ich habe sie deutlich in seiner Brieftasche gesehen. Nein, dahin gehe ich nicht, und ich will auch nicht, daß du hingehst. Siehst du denn das nicht ein, Letty?«

 

Sie fuhr mit der Hand über die Stirn, die von schönen goldenen Locken umrahmt war, und lehnte sich resigniert zurück.

 

»Wer ist denn eigentlich der Mann, von dem du da immer redest? Dieser dicke, schwarzlockige Mann?«

 

»Selbstverständlich Poggy«, entgegnete er empört.

 

»Aha!« sagte Letty ruhig und seufzte.

 

Sie sah Ferdie jetzt ernst an. Jede Linie ihres Gesichtes zeigte, daß sie sich der Wichtigkeit des Augenblicks wohl bewußt war. Sie hatte ihren Verlobungsring mit dem großen Brillanten vom Finger gezogen und neben sich auf den Tisch gelegt. Ferdie sah beunruhigt auf den Ring, dann auf sie.

 

»Es hat keinen Zweck, daß wir diese peinliche Unterhaltung noch fortsetzen«, erklärte sie entschieden. »Ich mußte eben erleben, daß meine Ideale zusammenbrachen …«

 

»Was soll das heißen? Zusammenbruch deiner Ideale? Das klingt fast wie ein Kinodrama von Liebe und Aufopferung.«

 

»Sei ruhig – wir wollen uns trennen, ohne noch eine große Szene zu machen«, erwiderte sie und reichte ihm die Hand. »Ich werde dich niemals vergessen, Reggie.«

 

Er machte ein verzweifeltes Gesicht.

 

»Es hat gar keinen Zweck, dir noch zu sagen, daß ich Ferdinand heiße. Du hast dich schon genügend blamiert.«

 

Wütend nahm er den Ring.

 

»Untersteh dich nur nicht, ihn ins Feuer zu werfen«, warnte sie ihn, als er ihn anklagend hochhob.

 

»Da täuschst du dich aber sehr. Das Stück kostet hundertfünfundzwanzig Pfund. Abzüglich der zehn Prozent Nachlaß, die ich erhalten habe, weil ich den Direktor der Firma persönlich gut kenne. Meinst du, ich bin so blöde, daß ich ein solches Vermögen zum Fenster hinauswerfe? Ich wollte nur sehen, ob du den Ring verbogen hast! Aber du hast ihn wenigstens einigermaßen sorgfältig behandelt. Also, leb wohl, Letty.«

 

Sie sah ihn so sonderbar an, daß er stehenblieb.

 

»Sag mal, willst du jetzt auf die Löwenjagd gehen?« fragte sie ironisch.

 

Er schaute sie stumm und verzweifelt an.

 

»Oder willst du dir ein Haus mitten in einer Fiebergegend von Zentralafrika bauen? Wenn du mir früher solche Geschichten erzähltest, habe ich sie geglaubt, Ferdie. Ja, ich habe sogar einmal einen großen Aufruf in die Zeitung gesetzt und an verschiedene Blätter geschickt, die in Zentralafrika gelesen werden, aber am selben Abend sah ich dich dann bei Chiro, wo du Molly Fettingham den neuesten Tango beibrachtest. Ferdie, bedenke, daß du hier zu einer Frau sprichst, die schwer gelitten hat.«

 

»Das darfst du mir nicht vorwerfen. Ich versäumte damals den Dampfer.«

 

»Natürlich. Du hattest ja genug damit zu tun, Mollys weit ausgeschnittenen Rücken zu bewundern. Ich kenne dich zur Genüge. Du gehst doch nicht fort, vor allem nicht nach Afrika. Morgen kniest du wieder hier zu meinen Füßen.«

 

Sie zeigte auf die Teppichstelle vor sich, und Ferdie sah sich das Muster genau an.

 

Durch das offene Fenster kamen die sanften Klänge; der Kirchenglocken und der Weihnachtslieder. Eine Kapelle der Heilsarmee spielte an der nächsten Straßenecke. Ferdie erkannte sie an dem verstimmten hohen E der Ersten Trompete.

 

»Das ist also der Weihnachtsabend«, sagte er bitter.

 

»Ja, heute ist der Vierundzwanzigste – wußtest du das denn nicht?«

 

»Und morgen ist der erste Weihnachtsfeiertag. Da hast du natürlich diesen Jüngling mit den Schweineschmalzlocken – deinen Poggy – hier. Dann kannst du ihm ja vorsingen: ›Wer weiß, wo ich ruhn werde in dieser Nacht!‹, und du kannst dir die Seiten halten vor Lachen, wenn er seine kindlichen Witze erzählt, die nicht einmal auf seinem eigenen Mistbeet gewachsen sind. Leider geht heute abend kein Dampfer nach Asien, aber vielleicht denkst du später einmal daran, wenn ich fort bin, daß ich einsam in einer Kneipe sitze und mein Elend in Bier ertränke – ganz allein!«

 

»Sicher brauchst du niemand zur Unterstützung, wenn du Bier trinken mußt«, entgegnete sie eisig. »Ferdie, ich wünsche dir ein fröhliches Fest. Es liegt ja kein Grund vor, warum wir nicht auch fernerhin gute Freunde bleiben sollen. Ich habe leider schon seit einiger Zeit erkannt und mich zu der Überzeugung durchgerungen, daß wir unserem Temperament nach nicht zusammenpassen. Und heutzutage haben sich die Zeiten geändert, eine Frau hat mindestens auch das Recht, sich ihre Freunde auszuwählen.«

 

»Eine Frau!« sagte er und geriet wieder in Harnisch. »Weißt du noch, daß ich vor einem Jahr in den Weihnachtsferien jeden Tag hergekommen bin und mir die größte Mühe gegeben habe, dir Mathematik einzubleuen, damit du ein anständiges Schulzeugnis bekommst? Wer hat denn die halben Nächte hier gesessen, nur um dir gefällig zu sein und dir zu helfen?«

 

»Die Vergangenheit ist für mich tot«, sagte sie würdevoll.

 

»Natürlich … Was bist du doch für eine elegante, große Dame von Welt!«

 

Bisher hatte sie sich beherrscht und war ruhig geblieben, aber jetzt sprang sie auf. Sie hätte die große Dame von Welt weiterspielen können, aber die letzten Worte hatten sie doch zu sehr geärgert.

 

»Ferdie, jetzt machst du, daß du hinauskommst! Oder soll ich dem Butler klingeln, daß er dich hinauswirft?«

 

Ferdinand machte eine stumme Verbeugung. Diesen Zornesausbruch hatte er nicht erwartet, und für den Augenblick jedenfalls war er geschlagen.

 

»Ich will nur sagen –«, begann er.

 

Sie ging zum Kamin, legte einen Finger auf die elektrische Klingel und sah ihn düster und doch zugleich neugierig an, denn sie war gespannt, was er jetzt tun würde.

 

Mr. Ferdinand Stevington trat auf die Straße hinaus und schlug den Kragen seines Mantels hoch. Es regnete ein wenig, und es wehte ein warmer Westwind.

 

Und nun stand Ferdie an dem schönen, schmiedeeisernen Zaun, der das Trottoir von dem Vorgarten trennte, und sah mit trüben Augen nach dem hellerleuchteten Fenster, hinter dem sie weilte. Er fühlte sich so unendlich einsam und verlassen, und er war wütend und aufgebracht über all die Leute, die es besser hatten als er, die nicht bei Wind und Wetter von Haus und Hof vertrieben wurden und ihm nicht einmal die Brotkrumen gönnten, die von ihren reichbesetzten Tafeln fielen.

 

Sein Chauffeur Nobbins brachte den eleganten Rolls-Royce geräuschlos und geschickt an die Bordschwelle des Gehsteigs.

 

»Nein, ich danke Ihnen, Nobbins; ich werde zu Fuß gehen«, sagte Ferdie mit zitternder Stimme.

 

»Es regnet aber.«

 

»Das habe ich noch gar nicht gemerkt«, erwiderte Ferdie und fluchte, als ihm im selben Augenblick ein Regentropfen ins Auge fiel. »Ich werde trotzdem gehen«, beharrte er.

 

Er trug elegante, schwarze Lackschuhe, und auf der Straße war es naß und schmutzig. Schon oft hatten sich selbst gesunde Leute eine tödliche Krankheit durch nasse Füße zugezogen; der Tod hatte sie hinweggerafft, und an ihrer Bahre knieten dann Frauen mit rotgeweinten Augen. Aber auch die bitterste Klage konnte Tote nicht auferwecken. Ferdie biß die Zähne zusammen und ging am Rinnstein entlang.

 

Die Kapelle der Heilsarmee an der Ecke der Duke Street spielte den schönen Choral: »Christen, erwacht!« Das war allerdings etwas überflüssig, denn die meisten Christen in der Duke Street waren schon seit Stunden wach. Viele von ihnen tanzten nach den Klängen des Radios, und die Christen, die nach einem guten Abendessen und nach einem oder mehreren Likören in den Klubsesseln eingeschlafen waren, durften eigentlich nur vom Oberkellner oder vom Klubdiener aufgeweckt werden.

 

Aber in dieser feierlichen Stimmung zögerten selbst die Oberkellner, dieser Aufforderung der Heilsarmee nachzukommen.

 

Mit düsterem Ausdruck ging Ferdie weiter, und als die schöne Adjutantin der Heilsarmee ihm zaghaft die Sammelbüchse hinhielt, zuckte er nur wild die Schultern. Aber nach ein paar Schritten bereute er sein Verhalten, drehte sich um und gab reichlich. Dann kam ihm plötzlich ein Gedanke.

 

»Ach, würden Sie die Liebenswürdigkeit haben, mit Ihrer Kapelle nach dem Haus Nr. 74 zu gehen? Spielen Sie: ›Wo wandert mein Herzliebster heut nacht.‹ Ist das möglich?«

 

Sie sprach mit dem Trompeter, und die Sache wurde sofort arrangiert.

 

Mit leichterem Herzen setzte Ferdie seinen Weg fort. Seine Wohnung in der Devonshire Street kam ihm einsam und verlassen vor. Auf dem Tisch lag ein kleines Päckchen, das in Silberpapier eingepackt und mit einem blauen Seidenband zugebunden war. Als er es sah, sank seine Stimmung sofort wieder unter Null. Auf dem Kamin stand die Fotografie eines schönen Mädchens, aber er drehte ihr ostentativ den Rücken zu.

 

»Nobbins ist hier.«

 

Der Diener wagte bescheiden, diese Äußerung zu tun.

 

»So, er ist hier? Dann lassen sie ihn nach Hause gehen und in den Schoß seiner Familie zurückkehren. Es ist heute Weihnachten – gehen Sie auch zu Ihrer Frau und zu Ihren Kindern!«

 

»Ich bin nicht verheiratet.«

 

Ferdie wandte sich müde nach ihm um.

 

»Haben Sie keine Familie?«

 

Stephen war ein sehr ordentlicher, frommer Mann, und sein höchster Ehrgeiz bestand darin, eines guten Tages einen Posten bei der Inneren Mission zu erhalten. Er hatte doch seinem Herrn gesagt, daß er nicht verheiratet war. Wie konnte er da Kinder haben! Er sah ihn vorwurfsvoll an. »Wie könnte ich denn eine Familie haben?« sagte er sanft, aber doch entrüstet.

 

Ferdie setzte sich tief in einen Sessel.

 

»Stephen, was haben Sie morgen vor?«

 

Der Diener räusperte sich.

 

»Wenn Sie es gestatten, wollte ich gern den Morgengottesdienst im Heim für Findelkinder mitmachen. Am Nachmittag gehe ich mit verschiedenen Freunden zum Marylebone-Arbeitshaus und spiele dort den armen Leuten ein wenig vor. Ich bin nämlich sehr musikalisch.«

 

»Ach, spielen Sie Harfe?«

 

»Nein, Saxophon. Das ist recht schwierig.«

 

»Dann gehen Sie hin und spielen Sie. Tragen Sie etwas von der Festfreude auch zu diesen armen, vereinsamten Menschen.«

 

Plötzlich richtete sich Ferdie auf.

 

»Sagen Sie, können Sie auch das Lied spielen: ›Wo wandert mein Herzallerliebster heut nacht‹?«

 

»Nein.«

 

Ferdie zeigte nach der Tür.

 

Stephen verneigte sich und ging hinaus.

 

Morgen war Weihnachtsfeiertag. Alle Einladungen bis auf eine hatte er abgelehnt. Und diese eine … Er lachte wild auf, so laut, daß man es draußen in der Dienstbotenstube hören konnte, wo Stephen und Nobbins Zigarettenbilder austauschten.

 

»Man muß an einem Weihnachtsabend vieles entschuldigen, Nobbins«, sagte Stephen, während christliche Nächstenliebe aus seinen Augen leuchtete. Sie waren beide Mitglieder einer frommen Gemeinschaft, aber Stephen war der frömmere von beiden. »Sagen Sie, kommen Sie morgen in das Arbeitshaus von St. Marylebone?«

 

»Bin ich etwa auch besoffen?« fragte der Chauffeur vorwurfsvoll.

 

Aber Ferdie war durchaus nicht besoffen, er war nicht einmal angeheitert. Er litt nur an gebrochenem Herzen. Es war vollständig zu Ende mit ihm. Sein Leben war zerstört, was sollte er noch damit anfangen? Ein Kind aus dem Feuer retten, wobei er sein Leben aufs Spiel setzte? Das Feuer mußte aber gerade in dem Haus ausbrechen, das Nr. 74 gegenüberlag. Rasieren brauchte er sich heute auch nicht mehr. Dann würde er einen Vollbart bekommen, zur See gehen, in weite Ferne, und später zurückkehren, schwarzbraun gebrannt von der Tropensonne. Ungewohnt des Verkehrs in der Großstadt würde er von einem Auto überfahren werden, nämlich von Lettys Zweisitzer. Und dann würden sie ihn aufheben und sterbend in das Haus Nr. 74 tragen. Wie würde Letty dann weinen! Er hörte schon ihren schrillen Aufschrei: »Ach, das ist ja Ferdie – was habe ich getan!«

 

Und wenn er dann als Seemann zurückkam, würde er immer tiefer und tiefer sinken, das heißt, sein in guten Aktien angelegtes Vermögen würde immer noch zehn bis zwölf Prozent bringen, das wurde nicht weiter davon betroffen. Davon konnte er ja im Augenblick absehen. Also, er würde immer tiefer und tiefer sinken, bis er schließlich im Armenhaus landete. Aber Stephen sank dann auch immer tiefer, bis er schließlich im Armenhaus im Zimmer nebenan wohnte! Dann konnte er ihm wenigstens morgens den Tee bringen und das Rasierwasser – nein, rasieren brauchte er sich ja nicht mehr, und dann würde er tagsüber auf den Straßen umherschleichen und Schnürsenkel und Streichhölzer verkaufen. Und eines Tages würde Letty des Weges kommen, auch etwas von ihm kaufen und ihn bestürzt ansehen. Bleich würde sie werden und mit ersterbender Stimme ausrufen: »Ach, Ferdie, habe ich das getan? Oh, welches Unrecht von mir!«

 

Ferdie klingelte.

 

»Bringen Sie mir ein Glas Milch«, sagte er, als Stephen kam.

 

»Warm oder kalt?«

 

Ferdie zuckte die Schultern.

 

»Das ist mir ganz gleich«, sagte er und stöhnte. Er war in einer gefährlichen Stimmung.

 

Und heute war Heiliger Abend! Er erinnerte sich an eine Weihnachtsgeschichte, die er einmal gelesen hatte. Irgend jemand hatte sie geschrieben – ach, Dickens hieß er. Ferdie nickte. Er erinnerte sich genau, daß es Dickens war. Welch ein fabelhaftes Gedächtnis für Namen hatte er doch! Die Geschichte handelte von einem alten Filz, einem Menschenfeind, einem Kerl, der das Weihnachtsfest haßte, der mit Verachtung an den Schaufenstern und ganzen Reihen herrlicher Christstollen vorbeiging und nur höhnisch grinste, wenn er rotbackige Äpfel und Nüsse vor sich sah. Ein Mann, der sich nichts aus Plumpudding machte und den Tannenbaum verachtete. Ferdie gab ihm ganz recht. Was für einen Zweck hatte auch das alberne Getue? Wie hieß der Mann doch gleich? Gooch oder Groodge … Scrooge! Jetzt wußte er es wieder. Ferdie konnte das Weihnachtsfest auch nicht mehr leiden. Er haßte alles, was irgendwie fröhlich oder heiter war.

 

Mühsam erhob er sich und drehte die Heizung ab, um die Temperatur im Zimmer herunterzubringen, so daß sie in Einklang mit seiner Stimmung kam. Stephen klopfte an die Tür, um sich zu verabschieden. »Frohe Weihnachten.«

 

»Frohe Weihnachten«, erwiderte Ferdie ironisch durch die Nase. Das hatte er früher nie getan, aber Scrooge sprach doch auch durch die Nase.

 

»Oh, haben Sie sich erkältet?« Stephen konnte sehr fürsorglich und väterlich sein.

 

»Nein, ich habe mich nicht erkältet! – Weihnachten! Löschen Sie das Feuer aus! Schließen Sie Brot und Butter fort! Tun Sie es ja, Stephen. Und wenn ein Bettler kommt, soll er nichts erhalten. Ihr Gehalt werde ich heruntersetzen – ich brauche Sie übrigens gar nicht mehr, nächste Woche können Sie gehen!«

 

Es schmerzte Ferdie, durch die Nase zu lachen; es war so, als ob es ihm nach Champagner aufstieße und sich die Luftblasen auf dem falschen Weg entfernen wollten, aber trotzdem lachte er.

 

Stephen ging zu dem Dienstbotenraum zurück.

 

»Nobbins«, sagte er ernst, »wir wollen zusammen für unseren Herrn beten.«

 

»Ja, wenn es nicht zu lange dauert.«

 

Und so saß Ferdie in dumpfer Verzweiflung, während Stunde um Stunde verging. Um Mitternacht riß er das kleine Päckchen in dem Silberpapier an sich, zog die Schleife auf und wurde dann nachdenklich. Sorgsam glättete er das Silberpapier und drückte auf den Knopf des kleinen Etuis. Glitzernd und glänzend lag ein großer Diamant an einer Platinkette vor ihm auf dem blauen Plüsch. Das Ding hatte viel Geld gekostet. Und was würde Letty ihm auch schon dafür geschenkt haben? Höchstens eine Zigarettenspitze, einen Spazierstock oder einen Manikürkasten. Nun, das konnte sie jetzt Poggy schenken! Er biß die Zähne aufeinander, daß sie knirschten. Letty würde auch enttäuscht sein, wenn sie kein Geschenk bekäme. Aber nein, so durfte er nicht denken. Er mußte größer sein, erhaben über Kleinlichkeiten. Er mußte ihr das Geschenk noch zusenden und dann gehen. – Leise fortgehen! Wohin, wußte er selbst noch nicht. In irgendeine fremde, ferne Stadt, wo ihn niemand vermutete.

 

Aber wer würde sich dann noch um ihn kümmern? Er runzelte die Stirn. Stephen würde ihn sicher vergessen und bald einen neuen Herrn finden. Der Steuereinnehmer würde ihn schließlich auch vermissen, und das Finanzamt würde dann an seinen Rechtsanwalt schreiben. Und Letty …? Die würde kaltherzig durchs Leben gehen. Sie wußte nicht, was sie an ihm verloren hatte. Ja, sie würde sich die Seiten vor Lachen halten, wenn ihr dieser Komponist, dieser Musiker, dieser gemeine Poggy einen abgedroschenen Witz erzählte, dieser blöde Kerl mit dem Affengesicht!

 

Stephen klopfte wieder an die Tür.

 

»Wann wünschen Sie morgen den Tee?«

 

Ferdie biß sich auf die Lippen.

 

»Es ist möglich, daß ich morgen früh gar keinen Tee trinken mag, Stephen. Ich weiß noch nicht, was ich tun werde. Vielleicht reise ich weit fort. Kümmern Sie sich nicht um mich. Hüten Sie die Wohnung. Mein Rechtsanwalt wird Ihnen das Gehalt weiterzahlen.«

 

»Darf ich Ihnen die Post nachschicken?«

 

Ferdie seufzte vor Ungeduld.

 

»Ich bin wahrscheinlich längst tot, wenn die mich erreicht!«

 

»Sehr wohl. Gute Nacht, und ein frohes … Gute Nacht.«

 

Auf den Mann hatte er wenigstens Eindruck gemacht, das mußte Ferdie feststellen. Aber auf andere Leute würde er auch Eindruck machen. Er nahm das Kursbuch aus dem Bücherschrank und sah nach, wann der erste Zug nach Bournemouth fuhr.

 

Aber vor allem, er mußte das Päckchen für Letty noch zurechtmachen. Er mußte ihr auch etwas schreiben, nur ganz kurz selbstverständlich, aber sehr höflich – aber nicht zu höflich, nein, wegzuwerfen brauchte er sich nicht. »In treuer Freundschaft, Ferdinand Stevington.« Oder: »Indem ich ein frohes Weihnachtsfest wünsche« – nein, das wäre doch zu kalt.

 

Er griff nach einem Briefbogen und seinem Füllfederhalter.

 

»Meine liebe Letty«, begann er, aber dann nahm er schon ein neues Blatt, da er zu schlecht geschrieben hatte. »Meine liebe, gute Letty«, begann er wieder. Weg damit!

 

»Meine teure Freundin! Diese Kleinigkeit« – ursprünglich hatte er schreiben wollen »diese teure Kleinigkeit«, aber das ging doch nicht gut – »sende ich Dir mit meinen besten Wünschen …«

 

Er durfte sie unter keinen Umständen fühlen lassen, daß sie an allem schuld war. Ritterlich mußte er sein.

 

»Ich fürchte, ich hübe mich Dir gegenüber sehr grob benommen – verzeih mir!! Ich mache eine weite Reise, und es wäre möglich, daß wir uns nicht wieder treffen –«

 

Er hielt inne und überlegte sich, ob er schreiben sollte »für einige Tage«. Aber dann kam er zu dem Schluß, daß es besser wäre, nichts Genaues über die Reise mitzuteilen. Es wäre auch zu grausam gewesen, falsche Hoffnungen zu erwecken.

 

»Ich habe Deinen Ring in einem versiegelten Umschlag in meiner Wohnung im Schreibtisch zurückgelassen. Er wird dann später mit all den anderen kleinen Andenken gefunden werden … Schließlich war mein Leben doch nicht ganz umsonst. Wer weiß, wo ich ruhn werde in dieser Nacht?«

 

Sorgsam löschte er die Karte ab und las noch einmal jede Zeile aufmerksam durch. Wie würde ihr das Herz weh tun, wenn sie diese Worte sah! Zögernd legte er den Brief unter das länglich flache Etui und wickelte sorglich das Silberpapier und das blaue Seidenband darum. Dann steckte er alles in ein längliches Kuvert, schlich sich heimlich und leise zu Lettys Haus, öffnete die Klappe des Briefeinwurfs und ließ den Brief hineinfallen. Die Adresse war ganz schlicht gehalten: »An Letty von F.S.«

 

Er richtete sich auf und holte tief Atem. Er hatte etwas Großzügiges getan. Es war wirklich ein edler Akt der Selbstlosigkeit, das Geschenk war ebenso wertvoll wie der Schenkende. Ferdie wußte, daß er sich nicht falsch beurteilt hatte. Und doch …

 

Ferdie saß wieder zu Hause in seinem Lehnsessel.

 

Und doch …?

 

Hatte er sich in ihren Augen nicht zu sehr erniedrigt? War das nicht eine vollkommene Aufgabe seiner Persönlichkeit? War er nicht dauernd im Recht gewesen? Was hatte sie gesagt? Morgen würde er wieder auf dem bunten Teppich vor ihr knien? Er erinnerte sich noch genau an das Muster. Nein, das gab es nicht! Hätte er nicht besser nur eine einfache Weihnachtskarte geschickt? Dort stand noch eine auf dem Kamin. Seine Amme hatte sie ihm gesandt und nur eine gedruckte Visitenkarte zugefügt. Er nahm sie in die Hand und betrachtete sie genauer. Es war eine blaue Landschaft mit einem blauen Häuschen und einem weißen Mond. Boden und Dach waren mit weißem Flitter bestreut, der in dem Schein der Lampe glitzerte und leuchtete.

 

Aber dann biß sich Ferdie auf die Oberlippe. Am Ende würde sie ihn auslachen und bemitleiden, diesen armen Jungen, der sich so töricht benahm. Nein, so schnell durfte er nicht zu Kreuze kriechen!

 

Ferdie erhob sich und streifte die Pantoffeln ab.

 

Natürlich würde sie Poggy das alles erzählen …

 

Schnell nahm er die Karte vom Kamin und schrieb darunter: »Frohe Weihnachten. F.« Dann steckte er sie in ein Kuvert.

 

Irgendwo im Büfett mußte doch eine silberne Eiszange liegen, damit konnte man das Päckchen wieder aus dem Briefkasten herausfischen. Er war wirklich umsichtig, das Zeugnis mußte er sich selbst ausstellen, als er die lange Silberzange in die Manteltasche steckte.

 

»Wenn es darauf ankäme, würde ich ein gefährlicher Verbrecher werden«, sagte er müde und mit einem bitteren Lächeln.

 

Draußen hielt er ein Taxi an und fuhr nach Langham Place. Dort entließ er den Chauffeur und ging zu Lettys Wohnung. Es regnete immer noch, aber inzwischen war der Regen feiner geworden, und ein leichter Nebel hatte sich hinzugesellt. Um Weihnachten herrscht meistens solches Wetter in England.

 

Aus den Häusern tönte jetzt lustige Tanzmusik. Ohne es recht zu wissen, ging Ferdie im Takt den Bürgersteig entlang.

 

Eine nahe Turmuhr schlug zwei.

 

Das Haus Nr. 74 war vollkommen dunkel, als er an die Tür herantrat. Im nächsten Augenblick faßte er mit der Eiszange in den Briefkasten, zog ein Päckchen heraus, das ihm bekannt vorkam, und steckte es schnell in die Tasche.

 

»Hallo, was machen Sie denn hier?«

 

In seiner Aufregung ließ Ferdie die silberne Zange fallen, so daß sie klirrend aufs Pflaster fiel.

 

»Ach, ich bitte um Verzeihung«, sagte er. »Vergnügte Weihnachten.« Etwas anderes fiel ihm im Augenblick nicht ein.

 

»Ja, und auch ein vergnügtes neues Jahr«, erwiderte der große Polizist, der geräuschlos auf ihn zutrat. »Sie kommen jetzt mit mir nach der Marylebone Lane.«

 

»Wenn Sie sich einbilden, daß ich um diese Zeit einen großen Spaziergang mache, dann haben Sie sich aber geschnitten! Im Sommer, bei Sonnenschein und Blütenduft;, blauem Himmel und weißen Wolken, ist das etwas anderes …«

 

»Also, kommen Sie jetzt in aller Ruhe mit?«

 

Die Worte klangen drohend, und Ferdie wurde es nun doch seltsam zumute. Er hielt sich an dem eisernen Geländer fest.

 

»Sind Sie ein Polizist?«

 

»Ja, Sergeant M’Neill. Vorwärts, mein Junge, ich habe Sie schon eine ganze Weile beobachtet.«

 

Er packte Ferdie am Arm, und sie gingen beide die Straße entlang.

 

»Na, wo ist denn Ihr Spezel Lew?« fragte der Beamte. Ferdie wußte nicht recht, was der Mann meinte.

 

Auf der Polizeistation sah er sich einem ärgerlichen Sergeanten gegenüber, der seinen Federhalter niederlegte und den Gefangenen erst einmal von Kopf bis Fuß musterte.

 

»Name?«

 

»Mein Name … Smith?«

 

»So heißen alle Vögel, die hierherkommen. Vorname ist natürlich John oder William?«

 

Ferdie dachte angestrengt nach.

 

»Caractacus«, sagte er dann.

 

Der Sergeant sah ihn ironisch an.

 

»Adresse?«

 

»Buckingham Palace. Haha!« Ferdie lachte ärgerlich.

 

Der Sergeant kannte solche Witze.

 

»Weigert sich, seine Adresse anzugeben – nun, wie lautet die Anklage?«

 

»Er hat einen Briefkasten bestohlen. Ich habe ihn auf frischer Tat ertappt, als er sich am Haus Nr. 74 mit Diebswerkzeug an dem Briefkasten zu schaffen machte.«

 

Der Polizist legte die Eiszange auf das Pult.

 

»Hat er etwas gestohlen?«

 

Nun kam auch noch das Päckchen auf den Tisch, und Ferdie kratzte sich das Kinn. Er hatte sein Geschenk doch in ein langes Kuvert gesteckt. Das war aber gar nicht sein Kuvert, und außerdem war es mit einem zinnoberroten Band zusammengehalten.

 

»Von Poggy für Letty«, las der Detektiv.

 

Ferdie taumelte zur Tür, aber der Polizist hielt ihn fest.

 

»Ein Diamentschmuckstück mit Smaragden in Form eines Klaviers«, sagte der Beamte hinter dem Pult.

 

»Ein ganz blöder Geschmack!« rief Ferdie empört.

 

»Sollen wir jemand benachrichtigen, daß Sie verhaftet worden sind? Sie werden wahrscheinlich drei Tage hierbleiben müssen.«

 

»Ein Wort einer Frau könnte mich retten«, erwiderte Ferdie gebrochen. »Aber ich bin viel zu stolz, als daß ich sie darum bitte.«

 

Der Gefangenenwärter erschien in der Tür.

 

Ferdies Taschen wurden durchsucht; es kamen eine Brieftasche mit vielen Banknoten, ein goldenes Zigarettenetui und verschiedene andere Kleinigkeiten aus Gold oder Silber zum Vorschein.

 

»Na, da haben Sie ja heute einen guten Tag gehabt. Wo haben Sie denn all das Zeug zusammengeklaut?« fragte der Sergeant. »Zelle 6, Wilkins …«

 

Die Tür fiel nicht dröhnend zu – sie quietschte nur.

 

*

 

In der Familie Revel war es Sitte, daß am ersten Feiertag nach dem Abendessen die Geschenke verteilt wurden. Dann waren alle Geber zugegen, so daß man ihnen danken konnte, enthusiastisch – oder nur einfach und schlicht. Der Hausherr, George Palliter Revel, war Mitglied des Parlaments. Er zahlte für alles, und er würdigte auch alles. Lettice Giovanna Revel war seine Tochter; sie gab nur die Anordnungen und sagte, wer zum Abendessen eingeladen werden sollte und wer nicht. Allgemein war sie beliebt; es gab sogar junge Leute, die sie andichteten, auch wenn sie das Dichten nicht verstanden. Sie hatte einen schnellen und eleganten Sportwagen, einen Foxterrier und außerdem eine Fotografie von Douglas Fairbanks mit eigenhändiger Unterschrift. Die hatte sie in Gold rahmen lassen, denn sie liebte die starken Männer, die Charakter hatten und nicht zuviel sprachen, Helden, die junge Damen auf ihre kräftigen Arme nahmen und mit ihnen durch hochgewölbte Buchenwälder schritten. Ferdie hatte sie zwar noch niemals so getragen, höchstens in übertragenem Sinn. Sie liebte ihn, wie eine Mutter ihr hilfloses Kind liebt.

 

Beim Abendessen sagte sie das auch.

 

»Ferdie ist nicht hier, Papa, weil ich ihm gesagt habe, er möchte nicht kommen.«

 

»Aber, mein Liebling, ich dachte, daß ihr beide …«

 

Sie lächelte nachsichtig.

 

»Es war nur eine Jugendfreundschaft.«

 

Mr. Revel rieb sich das linke Ohr.

 

»Wie alt bist du jetzt, Letty?«

 

»Etwas über neunzehn und eine erwachsene junge Dame. Manchmal vergißt du das, Papa. Meine Zuneigung zu Ferdie ist rein mütterlich.«

 

»Ach so«, erwiderte Mr. Revel milde.

 

Er hatte sogar einmal einen Ministerposten bekleidet, weil alle Leute ihn für freundlich und gut hielten.

 

»Ja, und nun die Geschenke«, sagte Mr. Revel dann.

 

Poggy Bannett wurde melancholisch und traurig.

 

»Letty, Sie wissen ja, warum mein Geschenk nicht hier ist. Dieser verdammte Einbrecher hat es doch gestohlen. Ich war schon den halben Tag auf der Polizeistation, um den gestohlenen Gegenstand zu identifizieren, aber sie haben nicht gestattet, daß ich ihn herbringen konnte.«

 

»Ach, Poggy, das war wirklich nett von Ihnen, aber es wäre mir viel lieber gewesen, wenn Sie mir eine Ihrer herrlichen Kompositionen mit einer persönlichen Widmung überreicht hätten. Ich kann eigentlich diese kostbaren Weihnachtsgeschenke nicht leiden, sie sind so … Nun, Sie verstehen mich schon.«

 

Poggy nickte. Er hatte ein hageres Gesicht und eine scharfe Adlernase.

 

»Von Ferdie kann man natürlich nichts erwarten, der dürfte es auch gar nicht wagen –«

 

Dann fiel ihr Blick auf seinen Briefumschlag, und sie runzelte die Stirn.

 

»Wenn er mir die Pfeife zurückgeschickt hat, die ich ihm zum letzten Weihnachtsfest schenkte, dann soll er etwas erleben!« Sie riß das Papier auf und holte tief Atem. »Ach, wie wundervoll! Aber das hätte er doch nicht tun sollen! Das sieht ihm wieder ganz ähnlich, Papa. Er hat einen so feinen Geschmack!«

 

Mr. Revel sah auf das kleine Preisschildchen, das Ferdie nicht abgenommen hatte, und rechnete dann schnell aus, wieviel zehn Prozent von fünfundneunzig Pfund ausmachten.

 

»Um Himmels willen!«

 

Poggy sah, daß ihre Lippen bleich wurden. Ohne noch ein Wort zu sagen, schob sie ihm den Brief zu.

 

»Ach, das ist doch alles Blödsinn«, sagte Poggy brutal. »Der hat sich doch nur, dem geht es gut. Denken Sie nur ja nicht … Ach, das ist ja zum Lachen! Solche Witze hat er früher auch schon gemacht.«

 

»Wenn Ferdie sagt, daß er etwas tun will, dann tut er es auch«, erklärte sie bestimmt.

 

»Was sagst du, mein Liebling?«

 

Mr. Revel setzte den Klemmer gerade auf.

 

»Ferdie hat vielleicht Selbstmord verübt!« sagte sie atemlos.

 

»Aber das wäre ja furchtbar«, entgegnete Mr. Revel und nahm den Klemmer wieder ab. Er fragte nicht weiter; schon den ganzen Tag hatte er das Gefühl gehabt, daß es einen interessanten Abend geben würde.

 

»Ach, Quatsch!« rief Poggy erregt. »Und was fällt dem Jungen ein, meine Verse abzuschreiben! Wo werde ich ruhn in dieser Nacht! Das ist ja direkt ein Plagiat!«

 

Letty holte tief Atem. Ja, es gab noch ritterliche Charaktere!

 

»Wo mag er jetzt nur sein?«

 

Der Autor von »Wo werde ich ruhn in dieser Nacht?« lächelte verächtlich.

 

»Ich weiß einen neuen Witz«, begann er dann. »Ein Südamerikaner fragt einmal einen Iren –«

 

»Ach, lassen Sie doch Ihre dummen Witze, die Sie aus Ulkblättern ausschneiden«, erwiderte sie eisig. »Ich habe sie etwas ganz anderes gefragt.«

 

»Sie haben mich gefragt, wo er ist«, entgegnete der Komponist etwas beleidigt. »Das kann ich Ihnen leicht sagen. Der sitzt in seiner Wohnung und spielt die gekränkte Leberwurst. Ich gehe die höchste Wette darauf ein. Es ist eigentlich ein Skandal, daß er alle Leute so in Aufregung bringt.«

 

Erregt erhob er sich.

 

»Ich gehe hin und hole ihn! Mit meinen bloßen Händen werde ich ihn aus seinem Versteck herauszerren! Mir kann er nichts vormachen. Mein Freund Cruthers hat eine Wohnung in derselben Etage. Warten Sie nur, ich werde bald mit ihm zurückkommen.«

 

Damit eilte er aus dem Zimmer. Mr. Revel hatte nicht recht zugehört und fuhr aus seinen Träumen auf.

 

»Ja, und dann wird noch eine Totenschau abgehalten werden müssen«, sagte er und schaute zur Decke hinauf. »Nur ein Glück, daß ich nicht als Zeuge auftreten muß.«

 

Sie sah ihren Vater schmerzlich an.

 

»Aber Papa, wie kannst du so etwas sagen! Ferdie war so bescheiden, niemand hat er sich aufgedrängt. Der würde doch niemals zugeben, daß man dich mit dergleichen belästigt!«

 

*

 

Mr. Cruthers, Poggys guter Freund und Schulkamerad, kleidete sich gerade zum Abendessen um, als ihm Poggy gemeldet wurde. Für gewöhnlich stand er früh auf, aber heute war kein Rennen, und es erschienen auch keine Zeitungen. Infolgedessen gab es auch keinen Skandal in der Welt, und Mr. Cruthers hatte ruhig und bequem bis sieben Uhr abends durchgeschlafen.

 

»Nein, Ferdie habe ich nicht gesehen. Sein Diener sagte mir, daß er verreist sei. Seit gestern abend hat man ihn nicht mehr gesehen.«

 

»Und das glaubst du? Der sitzt doch nur zu Hause und brummt. Seine einzige Beschäftigung ist ja, daß er übelnimmt. Ich habe an seine Tür geklopft, aber er hat nicht einmal geantwortet. Selbstverständlich wird er sich hüten, mir die Wohnungstür aufzumachen, aber ich werde dir etwas sagen. Ich steige aus deinem Fenster, klettere die Feuerleiter entlang und überzeuge mich einmal persönlich.«

 

»Also, mach das Fenster jetzt nicht auf, das zieht – und ich ziehe mir gerade die Unterhosen an. Du wirst doch wohl so lange warten können. Ich erkälte mich sonst.«

 

Poggy setzte sich mit verschränkten Armen auf einen Stuhl und machte ein Gesicht wie Napoleon in der Schlacht bei Austerlitz.

 

»Ich kann natürlich warten«, erklärte er stolz.

 

Erst als sein Freund beinahe angekleidet war, öffnete er das Fenster und kletterte an der Feuerleiter entlang. Das Fenster zu Ferdies Schlafzimmer stand oben offen. Schnell stieg er auf die äußerste Fensterbank, faßte mit dem Arm hindurch und öffnete den unteren Flügel von innen.

 

»Ferdie, mein Junge!« rief er. »Mit deinem Trotzkopf kommst du bei uns nicht durch. Also komm, mein Liebling. Mach keine faulen Witze!«

 

Tiefes Schweigen herrschte in der Wohnung. Er drehte das Licht an und fand das Schlafzimmer in Ordnung. Er öffnete die Schränke, aber auch hier hatte sich Ferdie nicht versteckt.

 

Das Speisezimmer war aufgeräumt. Ferdies Pantoffeln standen vor dem Kamin, auf dem Tisch lag ein ganzer Stapel von Briefschaften aufgehäuft, wie das zu Weihnachten üblich ist. Poggy ging ins Arbeitszimmer, wo Ferdie immer die Sportberichte las. Auch im Bad war er nicht – nun blieben nur noch der Hängeboden, das Dienerzimmer und die Speisekammer übrig, aber die waren ebenso leer wie die Küche.

 

Auf dem Kamin im Speisezimmer stand die Fotografie einer Dame von etwas über neunzehn Jahren und darunter eine Widmung geschrieben. Poggy las sie, und die Haare standen ihm zu Berge, denn die Widmung war durchaus nicht mütterlich. Und nun fühlte er sich getäuscht und verraten, denn eine junge Dame, die auf eine Fotografie schreibt: »Dein für ewig, mein Liebster«, hatte sonderbare Ansichten über mütterliche Liebe. Böse packte er das Bild. Er wollte es mitnehmen und es ihr direkt unter die Nase halten. Auf keinen Fall durfte es Ferdie behalten, der war dieses Geschenks nicht würdig. Außerdem war die Ewigkeit auf dem Bild doch jetzt ausgeträumt.

 

Er drehte das Licht sorgfältig überall wieder aus, öffnete das Fenster und kletterte hinaus. Als er an Mr. Cruthers‘ Fenster kam, war das Licht dort auch gelöscht und das Fenster fest geschlossen. Sein Freund hatte wahrscheinlich angenommen, daß Poggy Ferdies Räume durch die Wohnungstür verlassen würde.

 

Einen Augenblick überlegte Poggy. Schließlich konnte er die Feuerleiter gebrauchen. Kurz entschlossen kletterte er hinunter und sprang dann die letzten beiden Meter auf den Hof. Ein interessierter Zuschauer trat aus der Dunkelheit.

 

»Frohes Fest«, sagte der Fremde. »Wollen Sie einen kleinen Spaziergang mit mir machen?«

 

»Nein, fällt mir gar nicht ein. Ich kenne Sie nicht, und ich will Sie auch nicht kennenlernen. Guten Abend.«

 

Der Mann packte ihn am Arm.

 

»Ich bin Sergeant M’Neill von Scotland Yard und verhafte Sie wegen Einbruchs und unbefugten Eindringens in fremde Wohnungen.«

 

Geistesgegenwärtig zog Poggy die gerahmte Fotografie aus der Tasche und ließ sie auf den Boden fallen.

 

»Danke«, sagte M’Neill. »Da haben wir ja den Beweis.« Er bückte sich und hob das Bild vom Boden auf. »Sie sammeln wohl Kunstschätze? Ich habe Sie schon zwei Stunden lang beobachtet. Wo ist denn Ihr Freund Ike? Ich habe ihn seit Jahren nicht gesehen.«

 

Auf der Station wieder dasselbe Verhör:

 

»Smith«, sagte Poggy etwas bleich, aber entschlossen. Die Sache mit der Fotografie war allerdings fatal, hatte aber ein Gutes. Sergeant M’Neill, der ihn den ganzen Vormittag dadurch geärgert hatte, daß er die Diamant- und Smaragdbrosche mit dem Klavier identifizieren sollte, hatte ihn glücklicherweise nicht erkannt. Und der Sergeant vom Dienst war inzwischen abgelöst worden.

 

»Vorname John oder William?«

 

»Haydn«, erwiderte Poggy, denn er war musikalisch.

 

Der Gefängniswärter untersuchte seine Taschen und zählte Stück für Stück auf, was er bei ihm fand. Poggy riß sich zusammen.

 

»Schließlich können Sie es ruhig wissen«, sagte er dann. »Mein Name ist Bannett, und ich bin der Komponist des herrlichen Liedes ›Wer weiß, wo ich ruhn werde in dieser Nacht‹.«

 

»Zelle sechs!« erklärte der Stationssergeant.

 

Ferdie hörte, wie sich der Schlüssel im Schloß drehte. Dann öffnete sich die Tür.

 

Interessiert richtete er sich auf, und Poggy sackte zusammen, als er ihn sah.

 

»Ferdie …! Sie hier!«

 

Ferdie war nicht weiter erstaunt.

 

»Setzen Sie sich ruhig hin, Poggy. Das ist ja zum Totlachen. Warum sind Sie denn verhaftet worden? Haben Sie jemand umgebracht?«

 

*

 

»Das ist heute der zweite Fall«, sagte der Richter erregt und ärgerlich. »Und auch diesmal ist der Bestohlene seiner Pflicht nicht nachgekommen und vor Gericht erschienen, um sein Eigentum zu identifizieren. Weder Mr. Stevington noch Mr. Bannett haben es für nötig gehalten, das Gesetz und die Polizei zu unterstützen. Den anderen habe ich auf ein Monat ins Gefängnis geschickt, und Sie bekommen auch einen Monat. Und ich warne Sie …«

 

Einen Monat später wurden beide am selben Morgen aus dem Gefängnis von Pentonville entlassen. Ferdie kam zuerst heraus, und im Laufschritt eilte er zu dem einzigen Auto, das weit und breit zu sehen war. Und als sich Poggy später bei Letty melden ließ, erhielt er die Antwort, daß sie im Augenblick nicht zu sprechen sei. Über eine Stunde wartete er im Vorsaal, und sie war immer noch nicht zu sprechen. Der Diener sagte mitleidig, es würde wohl auch noch eine ganze Weile dauern, er solle sich noch etwas gedulden.

 

Inzwischen ruhte Lettys goldener Lockenkopf an Ferdies Schulter.

 

»Erzähle doch weiter, es ist so interessant«, flüsterte sie und sah gespannt zu ihm auf.

 

»Und zwei Abend später kam ich in Konstantinopel an. Die Welt war grau, und die Verzweiflung zerriß mir das Herz. Ich wußte, daß ich die verloren hatte; Sonne und Licht meines Lebens waren erloschen. Das Dasein hatte keinen Zweck und keinen Sinn mehr für mich. Sollte ich nun in die Wüste eilen und dort unter den sengenden Strahlen der unbarmherzigen Sonne in Durstesqualen sterben?«

 

»Hättest du mir doch nur ein Telegramm geschickt!« erwiderte sie atemlos. »Als Poggy nicht zurückkam, wußte ich, daß er es nicht wagte, dir unter die Augen zu treten. Ach, mein guter Junge, bist du wirklich in die Wüste gegangen? Ich habe ja nicht im Traum daran gedacht, daß du dir tatsächlich das Leben nehmen wolltest. Aber nun gib mir ein Versprechen. Du darfst nie wieder fortgehen, ich könnte es nicht ertragen. Woher kommst du denn jetzt?«

 

»Aus Pentonvillia – das ist eine Vorstadt von Rom«, entgegnete Ferdie. »Ja, wie ich sagte, in meiner Verzweiflung wollte ich unter die Derwische gehen …«

 

*

 

»Glauben Sie, daß es noch Zweck hat?« fragte Poggy den Diener.

 

Der Diener meinte es ehrlich und schüttelte den Kopf.

 

Die Rücklehne des Sofas im Wohnzimmer befand sich gerade dem Schlüsselloch gegenüber.